von Daniel Kovalik
Ich bin gerade von meiner zweiten Reise dieses Jahr zurückgekehrt, die mich in den Libanon und nach Syrien geführt hat. Zuvor war ich dort im Mai 2021 zu Besuch, und wurde im Laufe weniger Monate Zeuge einer steilen Abnahme des Wohlergehens der Menschen in diesen beiden Ländern.
Beirut, die Hauptstadt des Libanon, wirkte im Mai noch eher normal und beschaulich, liegt jetzt aber nachts mangels Strom komplett im Dunkeln. In der ganzen Stadt gibt es nur ab und zu ein paar Stunden Strom pro Tag. Gleichzeitig ist es fast unmöglich, an Kraftstoff zu kommen, da die Warteschlangen vor den Tankstellen sich mindestens über einen Kilometer erstrecken. Freunde teilten mir mit, dass sie mich nicht treffen können, weil sie keinen Treibstoff für ihre Fahrzeuge haben.
Es existiert wenig bis gar keine Müllabfuhr, wodurch die Straßen und Gehwege von Bergen von Müll gesäumt sind. In der Stadt, die einst das "Paris des Ostens" genannt wurde, sah ich Ziegen, die auf der Suche nach Essbarem im Müll die Straßen entlang streiften. Die libanesische Lira verliert täglich an Wert. Es gibt Restaurants, die Speisekarten anbieten, wo die Preise mit Bleistift eingetragen sind, damit sie jeden Morgen angepasst werden können. Während ich diese Worte schreibe, ist 1 libanesische Lira gerade einmal 0,00057 Euro wert. Eine Reihe wirklich verzweifelter Menschen machen mit erhobener Faust ihrem Frust Luft: "Der Libanon ist am Ende," sagen sie. Es fühlt sich in jedem Fall so an.
Jeder hier im Libanon, mit dem ich gesprochen habe, will das Land verlassen. Einige fragten mich sogar, ob ich sie mitnehmen könnte. Eine Ausnahme bilden die unzähligen Syrer, die vor dem Krieg im eigenen Land geflohen sind. Viele dieser Syrer leben heute in Beirut auf der Straße. Es ist nicht ungewöhnlich, syrische Frauen mit ihren Kindern auf den dunklen Bürgersteigen der Stadt schlafen zu sehen. Laut UNICEF leben im Libanon fast 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge, was das libanesische Sozialsystem noch zusätzlich belastet. Und dabei ist dieses nicht einmal in der Lage, sich ausreichend um die eigene Bevölkerung zu kümmern.
Auch Syrien leidet unter Strommangel. Strom gibt es hier nur für wenige Stunden am Tag. Lebensmittel und lebenswichtige Medikamente sind ebenfalls schwer zu bekommen. Persönliche Schutzmaterialien, wie etwa Masken und Händedesinfektionsmittel zum Schutz vor COVID 19, sind so gut wie nicht vorhanden.
Die Familien, bei denen ich wohnte, standen stets mit der Wäsche und dem Essen bereit, um zu kochen und zu waschen, wenn der Strom mal für eine Stunde eingeschaltet wurde. Die meisten Menschen müssen in dem schwülen Klima ohne Klimaanlage oder sonstige Kühlung auskommen. Das syrische Pfund ist ebenfalls relativ wertlos. Für 100 Dollar kann man mit dieser Währung ganze Reisetaschen mit Waren füllen, wie ich selbst erlebt habe. Gleichzeitig liegen große Teile von Städten wie Homs auch weiterhin in Trümmern, da der Wiederaufbau nach dem Krieg zum Erliegen gekommen ist.
All dies ist freilich eine Folge des Plans der westlichen "Humanisten", die behaupten, dass der Würgegriff der Wirtschaftssanktionen gegen Syrien – einst der größte Handelspartner des Libanon und dessen größter Treibstofflieferant – irgendwie Demokratie und Freiheit in die Region bringen soll. Aber es ist doch allgemein bekannt, dass diese Sanktionen in erster Linie unverhältnismäßig viele Zivilisten treffen. Und sie treffen dabei insbesondere Frauen und Kinder in jedem Land, über das sie verhängt werden.
Wie ein Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs erklärt, zeigt das Beispiel des Irak, dass Sanktionen nichts anderes als menschliches Elend bewirken. Im Artikel heißt es: "US-Sanktionen haben Hunderttausende Iraker getötet. Ihre Wirkung war geschlechtsspezifisch und traf in unverhältnismäßigem Maße Frauen und Kinder. Die Vorstellung, dass Sanktionen funktionieren, ist eine erbarmungslose Illusion."
Der Artikel geht sehr detailliert auf den humanitären Tribut der Sanktionen ein, die erstmals von Präsident Trump gegen Syrien verhängt wurden. "Die Trump-Administration hat die Sanktionen, die sie gegen Syrien verhängt hat, so konzipiert, dass sie einen Wiederaufbau unmöglich machen. Die Sanktionen zielen auf den Bau-, Strom- und Ölsektor ab, die unerlässlich sind, um Syrien wieder auf die Beine zu bringen. Obwohl die Vereinigten Staaten sagen, dass sie Syriens Ölfelder im Nordosten 'schützen', haben sie der syrischen Regierung keinen Zugang gewährt, um die Installationen zu reparieren. Und die US-Sanktionen verbieten Unternehmen jeglicher Nationalität, sie zu reparieren – es sei denn, die US-Regierung entscheidet sich, eine Ausnahme zu genehmigen."
Wie der Artikel beschreibt, drohen nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen dem Land durch diese Beschränkungen "Massenhunger oder eine erneute Massenauswanderung". Dies wird durch alarmierende Statistiken noch zusätzlich untermauert. Sie zeigen, dass vor 10 Jahren in Syrien weniger als 1 Prozent der Bevölkerung von bitterer Armut betroffen war. Im Jahr 2015 hingegen waren es bereits erschütternde 35 Prozent. Der Anstieg der Lebensmittelpreise – um 209 Prozent im letzten Jahr – wird ebenso erwähnt wie die Tatsache, dass es laut Welternährungsprogramm mittlerweile 9,3 Millionen "ernährungsunsichere" Syrer gibt.
Der Artikel kritisiert auch die Auflagen, die die syrische Regierung erfüllen muss, um sich von den Sanktionen zu befreien. Diese würden "absichtlich vage" gehalten – ein Trick, um Investoren abzuschrecken. Denn die könnten Syrien möglicherweise sogar helfen. Aber sie können ihre Investitionen nicht einmal vorbereiten, da ihnen keine Garantie gegeben wird, dass sie überhaupt helfen dürfen.
Die britische Organisation Humanitarian Aid Relief Trust (HART) teilt diese Bedenken und erklärt, dass "die Sanktionen, die von der EU (einschließlich von Großbritannien) und den USA gegen Syrien verhängt wurden, schlimme humanitäre Folgen für jene syrischen Bürger haben, die in von der Regierung kontrollierten Gebieten (das sind 70 Prozent des Landes) leben und die versuchen, ihr Leben wieder aufzubauen."
"Vom riesigen Umfang humanitärer Hilfe, die westliche Regierungen 'nach Syrien' schicken, erreicht die überwiegende Mehrheit entweder Flüchtlinge, die aus dem Land geflohen sind, oder nur die Gebiete Syriens, die von militanten Gruppen besetzt sind, die sich der syrischen Regierung widersetzen. Die meisten Syrer werden daher absichtlich ohne Unterstützung gelassen – sogar ihre eigenen Bemühungen um Hilfe zur Selbsthilfe und den Wiederaufbau ihrer Leben werden durch die Sanktionen behindert."
Die Verzweiflung, die durch die westlichen Sanktionen hervorgerufen wird, ist greifbar. Syrer und Libanesen, deren Schicksale untrennbar miteinander verbunden sind, haben wenig Hoffnung auf eine glückliche und erfolgreiche Zukunft. Wieder einmal haben die Ansprüche des Westens, die Welt zu "zivilisieren", nur Elend, Leid und Zerstörung gebracht.
Aber ich wäre nachlässig, wenn ich nicht mit diesem Hinweis schließen würde: Die unglaubliche Gastfreundschaft und Freundlichkeit der Syrer und Libanesen muss erst noch durch die ihnen widerfahrenden Grausamkeiten zerstört werden. Überall dort, wo meine Begleiter und ich hinkamen, auch in den bescheidensten Häusern in Maaloula, Homs und Latakia, überall in Syrien und im Libanon, boten uns die Familien Kaffee, Wasser und Snacks an.
Trotz der Tatsache, dass ihnen durch gezielte Sanktionen, einer Atomwaffe gleich, die grundlegenden Annehmlichkeiten des Lebens vorenthalten werden, wissen diese Menschen immer noch das Wenige, das sie haben, mit anderen zu teilen. Das werde ich immer in Erinnerung behalten und dafür dankbar sein.
Daniel Kovalik unterrichtet internationale Menschenrechte an der University Pittsburg School of Law und ist Autor des kürzlich erschienen Buches "No More War: How the West Violates International Law by Using 'Humanitarian' Intervention to Advance Economic and Strategic Interests." (Kein Krieg mehr: Wie der Westen das Völkerrecht verletzt, indem er "humanitäre" Interventionen zur Durchsetzung wirtschaftlicher und strategischer Interessen einsetzt)
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