Ein Kommentar von Paul A. Nuttall
Als ich noch Abgeordneter im Europäischen Parlament war, war ich überzeugt davon, dass die Einführung des Euro die Europäische Union irgendwann zu Fall bringen würde. Heute bin ich davon überzeugt, dass die Auferlegung liberaler Werte durch den Westen gegenüber den widerstrebenden osteuropäischen Staaten das Ende der EU bedeuten könnte.
Die EU-Kommission drohte Polen mit einer Reihe von Geldbußen wegen einer Reihe von mutmaßlichen Vergehen. Zwei der drei Streitpunkte, die tägliche Geldstrafen zur Folge haben könnten, beziehen sich auf juristische Auseinandersetzungen. Der dritte Streitpunkt betrifft das Thema LGBT – und wird sich meiner Meinung nach letztendlich als wesentlich ernster erweisen.
Gehen wir zunächst die beiden juristischen Streitpunkte an. Der erste betrifft eine Justizkammer, die von der regierenden PiS-Partei ins Leben gerufen wurde, um Richter zu bestrafen oder zu entlassen. Der EU gefällt diese Kammer angeblich nicht. Die PiS argumentierte, dass die Kammer notwendig sei, um Richter aus der Sowjetzeit auszusortieren. Obwohl die Polen letzten Monat versprochen haben, diese Kammer wieder abzuschaffen, haben sie nichts dergleichen getan, was Brüssel zum Handeln veranlasst hat.
Beim zweiten Streitpunkt geht es darum, ob in Polen polnisches Recht oder EU-Recht Vorrang hat. Seit Monaten brodelt dieser Streit und das Verfassungsgericht des Landes wird am 22. September darüber entscheiden. Dennoch hat Polens Premierminister Mateusz Morawiecki Brüssel gewarnt:
"Polen hat keinen Dienstherrn. Wir haben kein Vasallenverhältnis zur EU."
Nun sind diese beiden Streitpunkte sehr wichtig, denn sie führen zu der Frage: Wer regiert Polen? Ist es Warschau oder Brüssel?
Ich denke jedoch, dass es der dritte Streitpunkt ist, der sowohl für die EU als auch für Polen noch nachhaltigere Folgen haben könnte. Die Europäische Kommission hat fünf polnische Regionen in einem Schreiben gewarnt, dass die EU ihre Finanzhilfen streichen werde, wenn sie ihren selbsterklärten Status als "LGBT-freie Zonen" nicht aufgeben.
Die Drohung umfasst das Einbehalten von Geldern aus COVID-Wiederaufbaufonds und Geldern aus dem REACT-EU-Fonds (Aufbauhilfe für den Zusammenhalt und die Gebiete Europas), aus dem Polen rund 1,5 Milliarden Euro bezieht.
Der Grund, warum ich glaube, dass diese potenziellen Sanktionen eine große Gefahr darstellen, liegt darin, dass sie auf die Werte der Menschen und nicht auf politische Konstrukte abzielen. Es geht nicht um eine Gerichtskammer oder um politische Entscheidungen, so wichtig diese auch sind. Es geht um die Werte der Menschen und vor allem um ihren Glauben.
Ein Großteil der Abneigung Polens gegenüber LGBT kommt daher, dass es ein zutiefst religiöses Land und überwiegend katholisch ist. Fast die Hälfte der Bevölkerung bekennt sich zu einem Glauben und praktiziert ihn regelmäßig. Außerdem geben nur neun Prozent an, überhaupt keinen Glauben zu haben. Es wäre schwer, einen anderen Ort in Europa zu finden, der diesen Zahlen nahe kommen könnte, und schon gar nicht im zunehmend atheistischen Westen.
Die Konsequenz ist, dass Religion in Polen eine weitaus wichtigere Rolle in der Politik spielt als im Westen und dafür gibt es kein besseres Beispiel als die Haltung der Mehrheit der Polen in Bezug auf LGBT-Themen. Für viele Polen ist Homosexualität ein Affront gegen traditionelle Werte und eine Sünde, weil es so in der Bibel steht.
Im vergangenen Jahr haben rund 100 Städte und Regionen in ganz Polen, fast ein Drittel des Landes, Resolutionen verabschiedet und sich zu "LGBT-freien Zonen" erklärt. Bevor wir weitermachen: Ich sage nicht, dass ich mit diesen Resolutionen einverstanden bin, denn das bin ich nicht. Ich mag die Einschränkungen von Freiheiten nicht, insbesondere dann nicht, wenn sie auf Rasse oder Sexualität abzielen, weil beides angeboren ist.
Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass wir versuchen sollten, unsere liberalen Ideale Ländern aufzuzwingen, die einfach eine andere Sichtweise haben, insbesondere wenn sie auf religiösem Glauben beruht. Ich sage das, weil es nie funktioniert – fragen Sie einfach die Amerikaner. Und die Polen einfach nur als Fanatiker und Höhlenmenschen abzustempeln, wie es gewisse EU-Abgeordneten regelmäßig tun, bewirkt nichts anderes, als große Teile der polnischen Bevölkerung zu verärgern.
Ich glaube, dass der EU eine kulturelle Krise bevorsteht, zumal Ungarn auf dem gleichen Weg wie Polen zu sein scheint. Tatsächlich glaube ich, dass die EU jetzt mehr in Gefahr ist als je zuvor seit der Finanzkrise.
Damals glaubten viele von uns Euroskeptikern, dass der Euro den Untergang der EU beschleunigen würde. Wir glaubten, dass die EU überdehnt sei und Länder in die gemeinsame Währung aufgenommen wurden, denen es gemäß den Aufnahmekriterien nicht zustand. Wir haben uns Spanien, Portugal und insbesondere Italien angeschaut, dessen Wirtschaft damals ein hoffnungsloser Fall war und es auch heute noch ist.
Wir waren überzeugt, dass insbesondere Griechenland den Euro verlassen muss, was wiederum dazu geführt hätte, dass andere Mittelmeerländer nachziehen. Dies geschah nicht, weil wir Brüssels Entschlossenheit unterschätzt hatten, Griechenland in der Eurozone zu halten, auch wenn das bedeutete, die Demokratie in Griechenland auszuhebeln und das Land weiter im wirtschaftlichen Trübsal zu belassen.
Aber am Ende waren das rein wirtschaftliche Fragen. Diese werden zur Bedeutungslosigkeit, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass die EU in ihren religiösen Glauben eingreift. Ich habe immer geglaubt, die große Kluft in Europa sei eine wirtschaftliche, die zwischen Nord und Süd verläuft.
Heute sehe ich, dass die wirkliche Kluft kultureller Natur ist und zwischen Ost und West verläuft.
Ich sage voraus, dass der Kulturkampf kommen wird und das Überleben der EU davon abhängt, wie sie damit umgeht.
Paul A. Nuttall ist Historiker, Autor und ehemaliger Politiker. Er war von 2009 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und war ein prominenter Aktivist für den Brexit.
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Übersetzt aus dem Englischen.
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