von Tilo Gräser
Die Szene, in der Alexis Sorbas im gleichnamigen Film den Sirtaki tanzt, ist weltberühmt und in den Köpfen vieler Menschen. Wenn sie an griechische Musik und Tanz denken, fällt ihnen oft diese Melodie ein. Doch sie ist trotz ihrer volkstümlichen Art keine Volksmusik. Sie wurde für den Film komponiert, von Mikis Theodorakis.
Der bekannte und politisch engagierte Komponist ist im Alter von 96 Jahren gestorben, wie Agenturen am Donnerstag berichten, sich auf das griechische Kultusministerium berufend. Danach unterbrachen die Radio- und Fernsehsender des Landes ihre Sendungen, als die Meldung eintraf, dass Theodorakis gestorben ist. Sie erinnerten an ihn und spielten seine Musik, wird aus Griechenland berichtet.
Der Sirtaki, den Anthony Quinn als Alexis Sorbas in der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Nikos Kazantzakis tanzt, gilt als das bekannteste Werk von Theodorakis. Die Melodie "ist wie ein schwerer Stein, der mir um den Hals gehängt wurde", sagte der Komponist einmal in einem Interview. Denn er hat hunderte Werke geschaffen, klassische Symphonien, Kammermusik, Werke für Ballett und Oper. Außerdem schrieb er Bücher, darunter auch Gedichtbände. Theodorakis gilt als der bekannteste griechische Komponist des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus.
Verbindung von Kunst und Politik
"Mit einer Musik bewegte er sich immer wieder zwischen Politik, Verfolgung, Krieg und Exil", hieß es in einem Beitrag des Schweizer Senders SRF zum 95. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr. Dieser habe in seinen Werken immer die griechische Musiktradition aufgenommen:
"Meistens ist die Bouzouki, die griechische Laute, mit von der Partie: Sie steht symbolisch für die eigene, moderne Identität, die Theodorakis Griechenland mit seiner Musik geben wollte."
In einem Interview mit dem SRF erklärte Theodorakis außerdem: "Als Mann der griechischen Linke habe ich ein Ideal: die Renaissance des griechischen Volkes, nicht nur sozial und ökonomisch." Sein politisches Engagement prägte sein Leben und seine künstlerische Arbeit. So wurde er mehrfach verhaftet: Von den deutschen Faschisten, die Griechenland im 2. Weltkrieg besetzten, dann von der faschistischen Militärdiktatur nach 1967 in seiner Heimat.
Als die griechischen Obristen Theodorakis ins Gefängnis und später ins Konzentrationslager einsperrten, schreibt er ohne Stift und Papier den Zyklus "Sonne und Zeit". Er komponiert im Kopf, auch um so dem Wahnsinn hinter den Gefängnismauern zu entgehen. Eine große internationale Solidaritätsbewegung – ausgelöst von Künstlern wie Dmitri Schostakowitsch, Leonard Bernstein, Arthur Miller und Harry Belafonte – erreichte 1970, dass der Komponist freigelassen wurde und ins Exil nach Frankreich gehen konnte. Nach dem Sturz der Diktatur in Griechenland 1974 kehrte er zurück in seine Heimat.
Solidarität und absurde Reaktion in der DDR
In einem Interview mit der Zeitung Der Tagesspiegel im Jahr 2015 erinnerte Theodorakis, dass er während der Junta-Zeit nach seiner Freilassung "hunderte von anti-diktatorischen Konzerten in ganz Europa" gab. "Das euphorischste Publikum war übrigens das in der Bundesrepublik, und vor allem gehörten dazu die Jugendlichen in Westdeutschland. Damals stellte ich fest, wie stark die Solidarität war, die die europäischen Völker mit Griechenland übten, und dass sie sich hochengagiert einsetzten für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und für die Achtung der kulturellen Werte eines jeden Landes."
In der DDR wurde die breite Solidaritätsbewegung mit dem inhaftierten Komponisten offiziell unterstützt. Das führte zu einer Postkartenaktion in den Schulen, bei der die Kinder und Jugendlichen selbstgemalte Blumen mit dem Aufruf "Freiheit für Theodorakis!" nach Griechenland schickten. Sie kamen auch tatsächlich beim inhaftierten Komponisten an, wie er gegenüber dem Tagesspiegel berichtete:
"Eines Tages erzählte mir einer der Gefängniswärter, dass der Keller voll ist mit Säcken, gefüllt mit Postkarten, darauf Blumen, aus der DDR für mich. Ich bat ihn, mir einige dieser Karten zu bringen, was er auch tat. Wir tapezierten die Wände unserer Zellen mit diesen Blumenbildern, die größte Wandgestaltung war im Esssaal des Gefängnisses."
Allerdings wurde Theodorakis später in der DDR sogar zur Unperson erklärt und konnte nach seiner Freilassung keine Konzerte dort geben. Grund war seine Mitgliedschaft in der "eurokommunistischen" "Inlands-KP" Griechenlands, die Kritik an der Sowjetunion übte.
Musikalische Heimat Deutschland
"Sofort änderte die Regierung der DDR ihre Haltung mir gegenüber", berichtete Theodorakis 2015. "Ich wurde zur persona non grata erklärt, meine Musik durfte nicht mehr im Rundfunk gespielt werden, und später erfuhr ich, dass alle Lagerbestände meiner Schallplatten vernichtet wurden. Mein Name wurde quasi ausradiert. So war der Grund dafür, dass ich zehn Jahre lang nach meiner Freilassung in der DDR keine Konzerte gab, nicht meine Entscheidung, sondern ich war in der DDR unerwünscht."
In den frühen 1980er Jahren entspannte sich die Haltung der DDR-Führung gegenüber dem griechischen Komponisten. So konnte er 1981 sein Werk "Canto General" nach den Gedichten des chilenischen Dichters Pablo Neruda in der DDR aufführen. Das Werk wurde dort auf Vinyl gepresst, ebenso die 3. und die 7. Sinfonie, das Oratorium "Sadduzäer Passion", "Axion Esti" auf Deutsch und die Liturgie Nr. 2.
Im Interview mit dem Tagesspiegel bezeichnete Theodorakis 2015 Deutschland als seine musikalische Heimat:
"Ich habe Harmonie, Kontrapunkt und Fuge, also Musikkomposition, am Konservatorium Athen studiert, das zu hundert Prozent in der deutschen Tradition stand. Meine Vorbilder waren Bach, Beethoven und Schubert, mit denen ich mich eingehend beschäftigte. Ich denke, es ist daher ganz natürlich, dass meine Musik – trotz ihres Griechischseins – Elemente in sich hat, die aus der deutschen Musiktradition kommen. Das gilt selbst für meine Lieder. Und ich gehe davon aus, dass vielen Menschen in Deutschland meine Musik deshalb so nah ist."
Brückenbauer auch in der Politik
Bis zuletzt mischte sich der Komponist immer wieder auch in die politischen Debatten und Kämpfe in seiner Heimat ein. "Bis in die späten 1980er Jahre wurde Theodorakis mit der Linken identifiziert" erinnerte in diesem Jahr ein Beitrag von Radio Kreta zum 96. Geburtstag des Komponisten am 29. Juli. Weiter heißt es da:
"Im Jahr 1989 kandidierte er aber als Parteiloser für die Liste der Mitte-Rechts-Partei Nea Dimokratia ('Neue Demokratie'), um dem Land zu helfen, aus der schweren politischen Krise herauszukommen, die durch die zahlreichen Skandale der Regierung von Andreas Papandreou und seiner PASOK-Partei ausgelöst worden war. Er half mit, eine große Koalition zwischen Konservativen, Sozialisten und Linken zu bilden: Erstmals seit dem griechischen Bürgerkrieg wurden damit die Kommunisten der KKE wieder an der Macht beteiligt."
Aber auch die grundsätzlichen gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigten Theodorakis bis ins hohe Alter. In einem Interview, das die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 2015 mit ihm führte, sagte er dazu:
"Unser aller Leben hatte einmal einen natürlichen Rhythmus, den haben wir verloren. Wir versinken in ungeheuren Geldbewegungen und einem Bombardement von Informationen, wir verlieren und vergessen unsere Menschlichkeit, unser Menschsein. Dabei haben wir Hunger auf echte Harmonie – nicht auf solche, die als Illusion daherkommt. Die Menschen sollten lernen, der Disharmonie entgegenzutreten und falsche Harmonie zu erkennen. An die Politik gerichtet: Es ist äußerst gefährlich, Situationen falscher Harmonie zu erzeugen."
Auf die Frage, ob die Musik Harmonie in menschliche und politische Beziehungen bringen kann, antwortete er: "Musik ist eine Brücke. Sie drückt den Wunsch des Menschen nach Gesellschaft aus. Menschen leben in völlig unterschiedlichen, oft weit voneinander entfernten Gegenden, Ländern, Kontinenten. Die überwältigende Zahl von ihnen wird sich nie kennenlernen, nie miteinander sprechen können, wenig voneinander wissen. Aber genau diese Menschen können alle die gleiche Musik hören und lieben."
Bleibendes Erbe in Musik und Leben
Im FAZ-Interview 2015 wurde er auch gefragt, ob er mit seinen mehr als 90 Jahren Leben Hoffnung zu bieten habe. Theodorakis sagte dazu:
"Wo sollen wir Hoffnung hernehmen? Man raubt sie uns ja jeden Tag. Ich bin täglich umgeben vom Chaos. Und doch ... plötzlich, völlig unerwartet, fällt mir eine Melodie ein. Das ist ein Wunder. Jeder Mensch hat Harmonie in sich, er will sie, und er braucht sie."
Es sei möglich, eine harmonische Welt herzustellen, so der Komponist, "wir müssten sie nur wollen". Dem damals 90jährigen ging es nicht (mehr) um politische Manifeste, sondern um das, "was machbar ist, was Wirklichkeit sein kann. Wir dürfen dem Chaos einfach nicht erlauben, sich bei uns einzunisten."
Der Film "Dance Fight Love Die – With Mikis Theodorakis on the Road" des griechischen Filmemachers Asteris Koutoulas von 2017 wird zur Erinnerung an den Komponisten beitragen. Die beiden hatten sich in den 1980er Jahren in der DDR kennengelernt, als Theodorakis dort die Aufführungen seiner Werke betreute und dirigierte. Es "ist ein eigenwilliges Porträt eines eigenwilligen Künstlers, den wir als ein Konglomerat aus Poesie, Musik, Philosophie, Kunst, Geschichte und Politik verstehen", so Koutoulas in einem Interview 2020.
Er wolle "so schnell wie möglich sterben", sagte Theodorakis 2015, "meine Eltern und mein Bruder sind schon gegangen, sie warten". Nun ist der freiheitsliebende Kämpfer und musikalische Brückenbauer nach 96 intensiven Lebensjahren gegangen. Seine Musik, seine Melodien und seine Lieder werden bleiben und Menschen weiterhin bewegen – und ihnen immer wieder auch Hoffnung geben. Dafür wird auch sein politisches Erbe sorgen, über Griechenland hinaus.
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