von Tarik Cyril Amar
Alexei Nawalny hat Recht mit seiner Position zu den Anti-Russland-Sanktionen. Seine eigene Situation beweist, dass sie nichts erreicht haben und kontraproduktiv sind. Der "prominenteste Häftling der Welt" – wenn man die Inhaftierung von Julian Assange ignoriert – hat der New York Times (NYT) ein langes Interview gegeben. Für Moskaus Kritiker ist Alexei Nawalny ein politischer Gefangener. Meiner Ansicht nach ist er das auch, auch wenn ich mit seiner Politik nicht einverstanden bin und der fehlgeleiteten Definition von Amnesty International von ihm als einem "Gewissensgefangenen" nicht zustimme.
Eines scheint jedoch klar: Ganz anders als der politische Gefangene des Westens – Assange –, der weitaus härtere Haftbedingungen zu erleiden hat, kann Nawalny mit der Außenwelt kommunizieren, wie die NYT einräumt. Tatsächlich konnte der russische Antikorruptions- und Politaktivist der Zeitung 54 handgeschriebene Seiten mit Antworten auf ihre Fragen zukommen lassen.
Seine Antworten und Aussagen sind zudem eindeutig unzensiert. Sie kritisieren die aktuellen Eliten Russlands, darunter den Präsidenten Wladimir Putin, und sagen ein nahes Ende ihrer Herrschaft voraus. Man kann daraus schließen, was man will, aber es ist offensichtlich nicht der charakteristische Stil eines "Totalitarismus". Außer man ist eine populäre Publizistin wie die Journalistin Masha Gessen, die vielleicht immer noch verbittert darüber ist, Wladimir Putin völlig falsch zu interpretieren und zu unterschätzen, und die den Vorwurf des "Totalitarismus" nicht loslassen kann.
In seinem Interview spricht Nawalny mehrere wichtige Fragen an. Lassen Sie uns also eine herausgreifen, die einige seiner Unterstützer im Westen überraschen könnte: Er bekräftigt, dass er den westlichen Sanktionen gegen Russland kritisch gegenübersteht, zwar nicht grundsätzlich, aber dennoch deutlich. Dies widerspricht jedoch früheren Aufforderungen aus seinem Umfeld an den Westen, einschließlich durch seinen "Wirtschaftsberater" Wladimir Milow, der sich für mehr Sanktionen eingesetzt hatte.
Wie Nawalny sie sieht, treffen die Sanktionen Russland mit heftiger Wirkung und bestrafen dabei gewöhnliche Russen. Er fordert Maßnahmen, die stattdessen nur auf diejenigen abzielen, die er als Oligarchen denunziert. Gleichzeitig ist er sich unsicher, ob weitere Sanktionsdrohungen ihn persönlich schützen könnten. Er glaubt, dass Sanktionen möglicherweise abschrecken, aber auch Trotz provozieren könnten: Wenn du versuchst, mich zu zwingen, werde ich dir zeigen, dass du es nicht kannst.
Nawalnys Position zu den Strafmaßnahmen ist merkwürdig, weil er entweder schlecht informiert ist oder dies eher den Versuch widerspiegelt, bei einem russischen Publikum zu punkten. In Wirklichkeit zielt ein beträchtlicher Teil der westlichen Sanktionen tatsächlich auf Einzelpersonen ab, auch wenn sie nicht immer diejenigen sind, die Nawalny persönlich am liebsten leiden sehen möchte. Tatsächlich behauptete bereits ein Bericht des Forschungsdienstes des US-Kongresses aus dem Jahr 2019, ob ehrlich oder nicht, dass sowohl die USA als auch die Europäische Union versuchten, die Auswirkungen der Sanktionen auf die Eliten zu konzentrieren und die einfachen Bürger zu schonen.
Was auch immer die Gründe sein mögen, die Nawalny die Lage falsch einschätzen lassen, so ist seine Sicht auf die Sanktionen immer noch interessant. Vor allem, wenn wir an die dem zugrundeliegende Frage denken: Welche Rolle hat die Politik in den eisigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen gespielt? Und welche Rolle sollte sie spielen (oder nicht)?
Gemeinsamkeit zuerst. Auf welcher Seite man auch steht, man muss zustimmen: Der Westen und Russland mögen sich heutzutage nicht sehr. Es ist nicht nötig, noch einen weiteren Versuch hinzuzufügen, um zu entscheiden, wer daran am meisten schuld ist. Aber wenn Sie unbedingt wissen müssen, was der Autor dieser Zeilen glaubt, ist dies eine der wenigen Fragen, bei der ich, mit Gusto, beiden Seiten die Schuld zuschiebe.
Konzentrieren wir uns stattdessen lieber auf die Konsequenzen. Sowohl für Russland als auch für den Westen ist der Grad an offener, verschrobener Feindseligkeit, die jetzt vorherrscht, im Vergleich zu den 1990er Jahren – als das Verhältnis übrigens auch mies war, in einer Weise aber, die kurzsichtige westliche Eliten gerade noch bequem fanden – natürlich gefährlich und teuer. Einerseits birgt es ständig unnötige Risiken einer eindeutig unbezahlbaren Eskalation, andererseits fordert sie einen stetig ansteigenden Preis wegen verpasster Gelegenheiten für dringend benötigte Kooperationen.
Vor diesem Hintergrund haben westliche Sanktionen gegen das postsowjetische Russland eine komplizierte und mehrdeutige Rolle gespielt. Sie begannen nicht mit der Ukraine-Krise von 2014, sondern ungefähr ein Jahrzehnt früher. Auch die von den USA und der EU angeführten offiziellen Gründe gehen weit über die Ukraine hinaus, darunter ein ganzes Register von Sünden – wie angebliche russische Wahleinmischung (ein Thema, das oft bizarr hysterische Reaktionen hervorruft, vielleicht am besten als Russland-Wut zu diagnostizieren), Cyberangriffe oder angebliche Menschenrechtsfragen. Russland hat inzwischen mit Gegensanktionen geantwortet.
Der wichtigste Faktor für die Eskalation der Sanktionen des Westens war jedoch eindeutig der Konflikt um die Ukraine. Hier gilt es zu beachten, dass mittlerweile Zeit vergangen ist: Wir haben heute das Jahr 2021 – und sieben Jahre nach dem Beginn der strengen Sanktionen sowohl der USA als auch der EU im Zusammenhang mit der Ukraine müssen wir nicht mehr spekulieren, sondern sollten tatsächliche Verbesserungen der Situation beobachten können oder eben deren Abwesenheit.
Naive und unverantwortliche Erwartungen einiger Nostalgiker des Kalten Krieges im Westen – "Wir werden sie pressen, bis sie nachgeben oder zusammenbrechen!" – haben sich überraschend und glücklicherweise als völlig falsch erwiesen. Diejenigen, die noch an solchen Illusionen oder böswilligen Spinnereien festhalten, etwa bei der NATO-Lobbygruppe The Atlantic Council, flüchten sich nun in recht fragile Gegenargumente: Da sie in Bezug auf das tatsächliche Verhalten Russlands nichts vorzuweisen haben, phantasieren sie einfach völlig haltlos, dass Russland ohne Sanktionen noch "aggressiver" gewesen wäre.
Aber wenn eine Argumentation auf einem großen, fetten "Was-wäre-wenn" basiert, wäre es nicht vielleicht besser, statt Politikanalysen für das Weiße Haus Romane zu schreiben?
Was die wirtschaftlichen Auswirkungen angeht, lässt sich mehr oder weniger systematisch nur erahnen, wie viel von der jüngsten Entwicklung der russischen Wirtschaft auf Sanktionen und wie viel auf andere Faktoren zurückzuführen ist. Doch das ist nicht einmal das eigentliche Problem. Noch schwieriger ist der Zusammenhang zwischen ökonomischen Effekten und Politik zu verstehen. Tatsächlich weiß es niemand und jeder spekuliert, normalerweise gemäß persönlicher Voreingenommenheit.
Aber es gibt Dinge, die wir deutlich beobachten können, wie etwa die Tatsache, dass Russland seine Positionen gegenüber der Ukraine, Syrien oder Libyen nicht geändert hat. Putins Regierung ist immer noch da. Umgekehrt haben bis heute weder Nawalny noch die Protestkünstler Pussy Riot das Sagen. Stattdessen sitzt Nawalny im Gefängnis und muss sich neuen Anklagen stellen. Im Allgemeinen zeigen Russlands Entscheidungsträger keine Anzeichen von Einschüchterung oder Kursänderung.
Zweifellos sind also Skeptiker, die auf die Kosten von Sanktionen, das Ausbleiben erwünschter Ergebnisse und die Vielzahl unbeabsichtigter Folgen hinweisen, viel realistischer als die Sanktionsbrigade und ihre Befürworter in den Denkfabriken.
Sollten westliche Sanktionen gegen Russland also in einer idealen, rationalen Welt einfach als gefährlich, kostspielig, nutzlos und wahrscheinlich kontraproduktiv aufgegeben werden? Ja. Aber nur, und das ist entscheidend, in einer solchen Welt. Und das ist leider nicht dort, wo wir leben. Das Paradoxe dieser Sanktionen ist, dass sie gescheitert sind, wie so einiges, was der Westen in letzter Zeit versucht hat, aber sie werden immer noch gebraucht. Und der Grund für dieses perverse Ergebnis hat wenig mit Russland aber viel mit dem Westen zu tun. Kurz gesagt, Sanktionen helfen, die unberechenbarsten und aggressivsten Akteure einzudämmen – und zwar im Westen.
Hier sei daran erinnert, dass der Westen natürlich nicht wirklich eine Einheit ist, sondern eine komplizierte, oft angespannte Koalition. Darin sind diejenigen, die weniger frostige Beziehungen zu Russland wollen, wie Frankreichs Emmanuel Macron, Deutschlands Angela Merkel oder – mit all seinen schrecklichen Fehlern – die US-Präsidenten Donald Trump und jetzt anscheinend sogar Joe Biden. Es stehen sich auch "pro-russische" EU-Autoritäre in Ungarn und antirussische EU-Autoritäre in Polen gegenüber. Hinzu kommen Pragmatiker, vor allem im Süden der EU, denen die Kosten von Sanktionen noch nie gefallen haben.
Zusammengefasst sind westliche Sanktionen gegen Russland eine klassische Mogelpackung: Ein kleinster gemeinsamer Nenner und ein fauler Kompromiss wie aus dem Lehrbuch. Wäre das nicht ein weiterer Grund, sie loszuwerden? Nein, eigentlich wäre er das nicht. Denn wenn man sie einfach aufhebt, riskiert man eine massive Gegenreaktion derer, die sich einen regionalen oder globalen Krieg mit Russland vielleicht noch nicht so recht vorstellen können, deren tiefste Sehnsüchte aber genau auf dieses Schwarze Loch des geopolitischen Unsinns zielen.
Was ist dann zu tun? Diese Frage berührt ein anderes, größeres Thema, nämlich den Umgang mit dem derzeit hohen Spannungsniveau im Allgemeinen.
Man muss kein in Watte gepackter "Beschwichtigungspolitiker" sein, um zu verstehen, dass die beste Politik darin besteht, nicht aufzuhören miteinander zu reden, wenn es Ärger gibt. Im Gegenteil: Vor allem, wenn es Ärger gibt, muss man weiterreden (nicht nur, sondern auch). Es wird frustrierend sein, es kann lange dauern, bis man sich versteht und man wird keine Zusagen (zumindest keine, die man glauben sollte) bekommen, bis man sich endlich versteht. Anders ausgedrückt: Um weiterzureden, braucht es psychisch gefestigte Erwachsene, nicht ungeduldige außenpolitische Kleinkinder und schmeichelnde öffentliche Intellektuelle, die zu lange verwöhnt sind von einem vorübergehenden "einseitigen Moment", dessen Ende schon immer vorhersehbar war.
In den USA hat sich dieser Gesprächsbedarf unter schwierigen Umständen glücklicherweise zum Teil wieder stärker durchgesetzt als unter dem narzisstischen Chef Barack Obama. Sowohl Trump als auch Biden haben zumindest versucht, Gipfeltreffen mit Russland wieder aufzunehmen – und in dieser Sache haben beide richtig gehandelt.
In der EU wurden Versuche, das Gleiche zu tun – zuletzt von Frankreich und Deutschland ins Spiel gebracht – vorerst von einer Koalition der streng Unvernünftigen blockiert, ein Zeichen für die unförmige Architektur der EU, insbesondere infolge der Erweiterungen nach 2004. Aber die Hoffnung stirbt nie.
Die Aufgabe besteht nun darin, langsam und vorsichtig aus einem Sanktionsregime herauszukommen, das ein offensichtliches empirisches Scheitern ist, jedenfalls mit seinem erklärten Ziel, Russland dazu zu bringen, das zu tun, was der Westen will. Wenn und nur wenn der Müll der Sanktionen endlich wieder zu Treibstoff für die Wiederbelebung echter Diplomatie, der alten und lebenswichtigen Kunst, die sich nicht schämt, sondern stolz auf Kompromisse ist, recycelt würde, erst dann würde das Sanktionsgift am Ende sogar einer echten Kur dienen.
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Übersetzung aus dem Englischen
Tarik Cyril Amar Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Er twittert unter @tarikcyrilamar.