von Scott Ritter
Es bleibt noch genügend Zeit, um die Ursachen des Scheiterns zu analysieren. Was jetzt gebraucht wird, ist Verantwortlichkeit für das katastrophale Endspiel. Ein Video des aktiven Oberstleutnant der Marines, Stuart Scheller, in dem er Verantwortlichkeit für die humanitäre Katastrophe einfordert, die mit der US-geführten Evakuierung aus Kabul einherging, verbreitete sich im Netz in Windeseile.
Oberstleutnant Scheller, der zum Zeitpunkt der Aufzeichnung des Videos ein Ausbildungsbataillon an der Infanterieschule des Marine Corps befehligte, hatte 17 Jahre als Marineinfanterist gedient und an mehreren Kampfeinsätzen teilgenommen. Er setzte seine herausragende Karriere bewusst aufs Spiel, indem er öffentlich forderte, dass jemand für die verpatzte Evakuierung zur Rechenschaft gezogen werden sollte, bei der mindestens 14 amerikanische Soldaten, zusammen mit Hunderten von Afghanen, getötet wurden, einige darunter mit doppelter Staatsbürgerschaft von verbündeten Nationen. Schellers Kommandeure enthoben ihn sofort seines Kommandos. Dies war eine Konsequenz, die Scheller vorausgesehen hatte, was seine Entscheidung, seine Karriere im Namen der Rechenschaftspflicht zu opfern, noch bemerkenswerter macht.
"Ich sage nicht, dass wir für immer in Afghanistan bleiben müssen", sagte der Kriegsveteran. "Aber ich frage mich: Hat jemand von euch seinen Dienstrang ins Spiel gebracht und gesagt: Hey, es ist eine schlechte Idee, den Flugplatz Bagram zu verlassen, einen strategischen Luftwaffenstützpunkt, bevor wir alle evakuiert haben?" Scheller fragte, ob irgendjemand dafür verantwortlich sei, dass keine Einwände erhoben wurden und dass die USA ihre Versprechen gegenüber Afghanen zur Evakuierung nicht angemessen eingehalten haben und die jetzt zusammen mit ihren Familien der Vergeltung durch eine siegreiche Taliban ausgesetzt sind.
Ohne Rechenschaftspflicht, sagte Scheller, "wiederholen wir einfach immer wieder die gleichen Fehler". Der Offizier schloss mit den Worten: "Ich möchte dies sehr deutlich machen. Ich diene seit 17 Jahren. Aber ich bin bereit, alles hinzuschmeißen, um meinen Vorgesetzten zu sagen: Ich fordere Verantwortlichkeit."
Die US-Amerikaner haben zusammen mit einem Großteil der Welt die Herkulesaufgabe betrachtet, vor der die jungen Männer und Frauen der US-Streitkräfte standen, die den Hamid Karzai International Airport gesichert und die unmögliche Aufgabe übernommen haben, zu entscheiden, wer unter den Zehntausenden verzweifelten Menschen eine Chance auf ein neues Leben bekommen soll oder dazu verurteilt ist, in einem Land zu überleben, das von der Brutalität der islamischen Scharia der Taliban regiert wird. Ihre Arbeit und ihre Opfer haben die von den Mainstream-Medien verbreiteten Nachrichten so stark dominiert, dass nur wenige, wenn überhaupt, die kritischen Fragen Schellers stellen: Wer ist für die Entscheidung verantwortlich, den Flugplatz Bagram zu verlassen?
Bis zu seiner Aufgabe durch das US-Militär in der Nacht zum 2. Juli 2021 diente der etwa 65 Kilometer nördlich von Kabul gelegene Flugplatz Bagram als Herzstück der US-Militäroperationen in Afghanistan. Ursprünglich von den Sowjets während ihrer Militärintervention in Afghanistan von 1979 bis 1989 genutzt, war der Flugplatz Bagram seinem Verfall überlassen worden, bis er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 von der US-geführten Koalition eingenommen wurde.
Die USA haben zig Milliarden Dollar in den Flugplatz investiert, um den eingesetzten US-Streitkräften ein Zuhause in der Ferne zu schaffen. Personal mit Sitz in Bagram oder auf der Durchreise hatte Zugang zu einem Burger King, Popeyes, Pizzerien, einem thailändischen Restaurant, einem Schnellrestaurant von Dairy Queen und zu diversen Cafés. Die Basis hatte zwei Einkaufsläden zusammen mit einer Vielzahl lokaler Verkäufer. Klimatisierte Fitnessstudios, Freizeiteinrichtungen mit Videospielen und Großbildfernsehern sowie eine vollständige WLAN-Verbindung. All das machte es schwer, den Flugplatz von einer US-Kleinstadt zu unterscheiden. Der Flugplatz Bagram beherbergte US-Militärflugzeuge, darunter Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber, sowie ein separates Gelände für Spezialeinsatzkräfte und paramilitärische CIA-Offiziere. Jeder Notfall, der die Bewegung von US-Amerikanern in und aus Afghanistan in nennenswerter Zahl beinhaltet, würde selbstverständlich die Verfügbarkeit des Flugplatzes Bagram voraussetzen.
Als Präsident Joe Biden bei einer Pressekonferenz am 26. August gefragt wurde, wer für die Entscheidung zur Aufgabe des Flugplatzes Bagram verantwortlich sei, gab der Oberbefehlshaber seinen Militärkommandanten die Schuld. "Jeden Tag, wenn ich mit unseren Kommandeuren spreche", sagte Biden, "frage ich sie, was sie brauchen – ob sie sonst noch etwas brauchen, falls überhaupt etwas. Sie werden Ihnen bestätigen, dass ich jeder Bitte entsprochen habe."
"Zu den taktischen Fragen, wie man eine Evakuierung oder einen Krieg durchführt, rufe ich alle wichtigen Kommandeure in Afghanistan zusammen – die Kommandeure sowie das Pentagon. Und ich bitte um ihr bestes militärisches Urteilsvermögen: Was wäre der effizienteste Weg, die Mission zu erfüllen? Das Militär kam zum Schluss, dass Bagram keinen großen Mehrwert bietet, dass es viel klüger sei, sich auf den internationalen Flughafen in Kabul zu konzentrieren. Also bin ich dieser Empfehlung gefolgt."
Das Problem mit der Aussage des Präsidenten ist, dass sie nicht stimmt. In einer früheren Pressekonferenz am 18. August machte General Mark Milley, der Vorsitzende des Generalstabs, klar, dass das Weiße Haus dem Militär keinen Spielraum gelassen habe, als es darum ging, die Kontrolle über den Flugplatz Bagram zu behalten. "Die Aufgabe, die uns damals übertragen wurde, war, die Botschaft zu schützen", sagte Milley. "Wenn wir sowohl Bagram als auch die Botschaft am Laufen halten sollten, dann wäre eine beträchtliche Anzahl von Streitkräften nötig."
General Milley machte klar, dass das Militär strenge Anweisungen hatte, "die Truppen auf eine Zahl von 600 bis 700 zu reduzieren", und um Bagram zu halten, viel mehr Truppen erforderlich seien als vom Weißen Haus vorgegeben. "Die Entscheidung wurde getroffen, Bagram aufzugeben", sagte er und stellte fest, dass das Militär "die Risiken, aus Kabul oder aus Bagram auszufliegen, ungefähr gleich hoch einschätzte, somit war das Ausfliegen aus Kabul die bessere taktische Lösung".
Unmittelbar nach der Aufgabe des Flugplatzes Bagram durch das US-Militär hielt Biden eine Pressekonferenz ab, in der er sich optimistisch über die Fähigkeit der USA äußerte, die Evakuierung ihrer Truppen und Zivilisten aus Afghanistan zu bewältigen. "Der Truppenabzug verläuft sicher und geordnet und priorisiert die Sicherheit unserer Truppen beim Abmarsch", stellte der Präsident fest. "Die Wahrscheinlichkeit, dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land besetzen, ist sehr gering", sagte er und fügte hinzu, dass es keinen Umstand geben würde, in dem Menschen vom Dach der US-Botschaft in Afghanistan evakuiert werden müssen. Es sei überhaupt nicht vergleichbar mit der US-Evakuierung von 1975 aus Saigon.
Das Weiße Haus versuchte, die Optik des Rückzugs unter Kontrolle zu halten, indem es die Zahl der vor Ort stationierten US-Streitkräfte auf ein Minimum beschränkte, während es jeden Vergleich der sich entwickelnden Situation in Afghanistan mit der in Südvietnam zurückwies, als dann kaum zwei Wochen in den August die afghanische Regierung zusammenbrach und die Taliban siegreich in Kabul einzogen. Das Szenario, von dem Präsident Biden gesagt hatte, dass es niemals eintreten könne, trat ein.
Aus Sorge über eine schlechte Optik, die nun von der Realität diktiert worden war, machte das Weiße Haus in seiner Entscheidung, die Zahl der US-Truppen in Afghanistan auf 600 bis 700 zu begrenzen, eine Kehrtwende. "Basierend auf den Empfehlungen unserer Diplomaten, Militärs und Geheimdienste", sagte Biden in einer Pressekonferenz nach dem Fall Kabuls, "habe ich die Entsendung von etwa 5.000 US-Truppen genehmigt, um sicherzustellen, dass wir einen geordneten und sicheren Abzug der US-Truppen und verbündeten Personals haben sowie eine geordnete und sichere Evakuierung der Afghanen, die unseren Truppen während unserer Mission halfen, und derjenigen, die durch den Vormarsch der Taliban besonders gefährdet sind."
Als Biden wegen seines Umgangs mit der Afghanistan-Krise zunehmend in die Kritik geriet, ging sein nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan ins nationale Fernsehen, um die Umstände so zu schildern, dass der Präsident vor jeder Schuld abgeschirmt war. "Der Präsident war sich von Anfang an klar, dass die Vereinigten Staaten nicht mitten im Bürgerkrieg eines anderen Landes in ein drittes Jahrzehnt des amerikanischen Militäreinsatzes eintreten würden. Er hat klargemacht, dass dies schwierige Zeiten für Afghanistan bedeuten könnte. Darüber waren wir uns von Anfang an im Klaren. Aber wozu wir nicht bereit waren, wozu der Präsident nicht bereit war, war, zu sagen, dass aus diesem Grund amerikanische Männer und Frauen in diesem Bürgerkrieg kämpfen und sterben sollen", sagte Sullivan ABC Good Morning America.
Das Problem an Sullivans Verdrehung der Tatsachen ist, dass sie nichts mit der Realität zu tun haben: Statt die USA auf eine "schwierige Zeit" vorzubereiten, präsentierte Biden dem US-Volk das Bild einer "sicheren und geordneten" Evakuierung von US-Personal aus Afghanistan. Weit davon entfernt, "im Klaren" zu sein, mischte sich das Weiße Haus in die Notfallplanung des Militärs ein, indem es die Anzahl der verfügbaren Streitkräfte auf 600 bis 700 begrenzte und die Vorstellung Lügen strafte, dass der Präsident "jeder Anfrage" nach zusätzlichen Truppen nachgekommen sei. Tatsache ist, dass das Weiße Haus, als es mit der Notwendigkeit zusätzlicher militärischer Ressourcen konfrontiert worden war, um gleichzeitig das US-Botschaftsgelände in Kabul und den Flugplatz Bagram zu halten, die Forderungen der Generäle abgelehnt und somit die Voraussetzungen für die humanitäre Katastrophe geschaffen hatte, die sich ab Mitte August im Kabuler Flughafen abspielte, als der Präsident plötzlich 6.000 zusätzliche US-Truppen entsandte. Dass er Bagram mit einem Bruchteil dieser Zahl hätte halten können, scheint sowohl dem Präsidenten als auch seinem nationalen Sicherheitsberater entgangen zu sein.
In seiner Pressekonferenz am 16. August erklärte Biden, dass "die Verantwortlichkeit bei mir endet", wenn es darum geht, Schuldige für die chaotische Situation in Afghanistan zu benennen. Diese Aussage ist ohne einen Rücktritt des Präsidenten bedeutungslos. Oberstleutnant Scheller hat eine herausragende Militärkarriere geopfert, um die absolute Notwendigkeit der Rechenschaftspflicht für den verpatzten Afghanistan-Abzug zu fordern. Während Milley und seine Generäle einen erheblichen Teil der Schuld daran tragen, dass sie nicht den Mut von Scheller hatten und ihre jeweilige Karriere nicht aufs Spiel setzten, um sich gegen eine schlechte Politik zu stellen, wird letzten Endes das Primat der zivilen Führung, das die zivil-militärischen Beziehungen in den USA regelt, einen zivilen Kopf fordern.
Bei der Suche nach einem Kandidaten dafür braucht man nicht weiter als bis zu Sicherheitsberater Sullivan zu suchen. Er ist der einflussreichste Berater in Fragen der nationalen Sicherheit und wäre der Hauptverantwortliche gewesen, wenn es darum ging, das Militär auf dem Laufenden zu halten, um die von Präsident Biden vorangetriebene Optik des Rückzugs aufrechtzuerhalten – reduzierte Truppenzahl und keinen "Saigon-Moment".
Diese Politisierung der Notfallplanung der nationalen Sicherheit hat US-Soldaten und Hunderte von Afghanen das Leben gekostet. Der Ruf der Vereinigten Staaten liegt in Scherben. Die Auswirkungen dieses völligen Zusammenbruchs der US-Führung müssen sich erst noch manifestieren. Bevor Biden sein Team für nationale Sicherheit und Außenpolitik zusammenstellt, um zu versuchen, das sinkende Schiff, das die US-Politik in Afghanistan war, wieder in Ordnung zu bringen, muss es Rechenschaftspflicht geben. Zumindest muss Sullivan gefeuert werden. Im Idealfall wäre Milley gezwungen, zurückzutreten oder müsste ebenfalls gefeuert werden. Andere Generäle, deren Fingerabdrücke auf der afghanischen Katastrophe zu finden sind, sollten ihre Karriere ebenfalls beenden müssen.
Es muss Verantwortlichkeit bestehen. Ansonsten, wie Oberstleutnant Scheller feststellte, "wiederholen wir einfach immer wieder die gleichen Fehler".
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Übersetzt aus dem Englischen.
Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991-1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Twitter unter @RealScottRitter folgen.
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