von Dagmar Henn
"Laschets riskantes Spiel mit den Deutschtürken" titelte vor einigen Tagen die Welt und berichtete in der Folge von Artikeln in türkischen Medien, die Laschet eine großzügige Plattform liefern, wie die regierungsnahe Tageszeitung Hürriyet Anfang des Monats. Er durfte dort ausgiebig betonen, wie enge Beziehungen er zu türkischen Einwanderern habe und wie sehr sie Deutschland bereicherten. Auch einer oppositionellen Zeitschrift gab er ein Interview, in dem er unter anderem versprach, Migranten in der deutschen Politik sichtbarer zu machen.
In den Interviews folgte Laschet brav der politischen Linie der deutschen Regierung, indem er zwischendrin auch einmal die Menschenrechtslage in der Türkei kritisierte. Er buhlt schlicht um alle erreichbaren türkischstämmigen Wähler und versucht, für seine jetzige Kandidatur das Maximum aus seiner ehemaligen Position als nordrhein-westfälischer Integrationsminister herauszuholen.
Die Welt stört sich allerdings unter anderem an seiner Nähe zur DITIB, dem vom türkischen Religionsministerium gelenkten Moscheeverband. Mehr noch, es wird angeführt, dass "eine seiner engsten Vertrauten, die Staatssekretärin für Integration in NRW Serap Güler", nachdem sie als Direktkandidatin aufgestellt worden war, von einem Millî-Görüş-Funktionär als "unsere Kandidatin" bezeichnet wurde.
Allerdings: Nicht nur Laschets Verhältnis zur Türkei und zu türkischen Islamisten ist zwiespältig; er ist darin nur eine Verkörperung der deutschen Politik. Und wenn von Nähe zu Erdoğan die Rede ist, ist damit noch nicht geklärt, wer da an wen gerückt ist. Tatsächlich ist das Verhältnis der deutschen Regierung zur Türkei sehr eng, und die geäußerte Kritik am Zustand der Menschenrechte ist eher Dekoration als Ernst. Schließlich sind deutsche Regierungen an ebendiesem Zustand alles andere als unschuldig.
Da muss man nicht einmal zum Bündnis des deutschen Kaiserreiches mit der Türkei im Ersten Weltkrieg zurückgehen oder die deutsche Rolle beim Wachstum der Muslimbrüder ausführen, von denen Erdoğans Regierungspartei AKP letztlich abstammt. Es genügt, bis zum Militärputsch des Jahres 1980 zurückzugehen, der die Türkei in ihrer politischen Entwicklung um Jahrzehnte zurückwarf.
Dem Putsch vorausgegangen waren bürgerkriegsähnliche Zustände, die ihrerseits wieder das Ergebnis eines IWF-Kredits und dessen Bedingungen waren. "Der IWF forderte zum Beispiel, das Tarif- und Streikrecht aufzuheben, Löhne und Gehälter einzufrieren und die Staatsausgaben im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich zu senken. Die Folge dieser eisernen Politik: Massenentlassungen und Aufstände." Dieses Zitat stammt übrigens ebenfalls aus einem Artikel in der Welt, der einige Jahre alt ist und überraschend deutlich die Hintergründe benennt: "Eine Mitschuld an der Polarisierung – da sind sich viele Linke sowie Rechte in der Türkei heute einig – habe auch die NATO. 'Sie sorgte für die Eröffnung des 'Amts für spezielle Kriegführung' in der Türkei, das auch unter dem Namen 'Gladio' bekannt ist', erzählt Ağaç."
Einer der Vorfälle, die die politische Atmosphäre in der Türkei aufheizten, war ein Angriff von Scharfschützen auf eine Gewerkschaftskundgebung am 1. Mai 1977, die 38 Teilnehmer das Leben kostete. Wer die politischen Ereignisse der letzten zehn, fünfzehn Jahre im Blick hat, wird diese Strategie sofort wiedererkennen.
Organisiert wurde dieser Putsch von der NATO, aber in diesem Fall bedeutet das vor allem Deutsche und US-Amerikaner. Der IWF-Kredit, der die soziale Krise auslöste, war von den deutschen Politikern Walter Leisler-Kiep und Hans Matthöfer vermittelt worden. Es war längst klar, was ein IWF-Kredit für ein Land bedeutet. Und der erste internationale Vertrag, den die Putschisten schlossen, "war ein Vertrag mit der damals noch sozialliberalen Bundesregierung über Polizeihilfe, darunter Waffen, Munition und Fahrzeuge, im Wert von 15 Millionen DM."
Wie in anderen vergleichbaren Fällen (Chile z. B.) hatte die bundesdeutsche Politik mit der brutalen Diktatur, die einsetzte, kein wirkliches Problem. "Eine Bundestagsdelegation unter Leitung des CDU-Abgeordneten Alois Mertes, der unter anderem die Abgeordneten Karsten Voigt (SPD) und Helga Schuchardt (FDP) angehörten, stellte nach einem Türkei-Besuch im März 1981 fest, dass die Türkei keineswegs diktatorisch regiert werde, sondern die Junta sich auf Zufriedenheit in der Bevölkerung stütze."
Die Position der USA in dieser Frage verdeutlicht wieder einmal Zbigniew Brzeziński – er sagte, dass "für die Türkei genauso wie für Brasilien eine Militärregierung die beste Lösung wäre".
Der Putsch des Jahres 1980 und die darauf folgende Zerschlagung sämtlicher linker Organisationen war die Voraussetzung für das Wachstum des Islamismus in der Türkei, und die Militärjunta förderte diese Entwicklung, in Abkehr von den früheren säkular-kemalistischen Überzeugungen, unter anderem durch Einführung von Religionsunterricht in den Schulen. Auch das folgte einer Strategie, die aus anderen Ländern bekannt war; Indonesien beispielsweise, das nach einem von den USA orchestrierten antikommunistischen Massaker gezielt islamisiert worden war.
Erdoğan ist, wie seine Partei, ein Produkt dieser Entwicklung und damit das Ergebnis eines (auch) deutschen Eingreifens in die türkische Politik und Gesellschaft. Die DITIB hat mit dem ihr übergeordneten türkischen Religionsministerium dies logischerweise nachvollzogen und steht dementsprechend heute für die Traditionslinie der Muslimbrüder. Wenn man noch genauer sein will und berücksichtigt, dass Millî Görüş enger mit den US-Amerikanern verbunden ist, was sich spätestens beim gescheiterten Putschversuch vor einigen Jahren zeigte, die AKP hingegen eher die deutsche Linie vertritt, dann erklärt sich, dass in Deutschland zwar gern viel Schaum geschlagen wird, um Menschenrechte in der Türkei, die reale Politik aber darauf aus ist, die Machtposition zu halten.
Aber man sollte sich da nicht täuschen: Auch eine Bundesregierung unter grüner Beteiligung wird nur so tun, als hätte sie etwas gegen die Regierung Erdoğan, und in Wirklichkeit engstens mit ihr zusammenarbeiten; gerade die explizitesten Vertreter deutscher Großmachtträume werden nichts weniger tun, als altes Einflussgebiet preiszugeben. Die Kurden werden verblüfft feststellen, dass ihre grünen Freunde so verlässlich sind wie ihre neuen US-amerikanischen.
Natürlich hatte die deutsche Entscheidung für den Putsch 1980 Auswirkungen auf das, was man hierzulande Integration nennt. Die Türken des Jahres 1980 waren wesentlich moderner als die Türken des Jahres 2021, in der Türkei wie auch in der Bundesrepublik. Schließlich ist das Ergebnis aller NATO-Putsche, gerade die reaktionärsten Kräfte in einer Gesellschaft zu fördern; und die Auslandstürken blieben davon nicht unbehelligt.
Das doppelte Gesicht, das Laschet mit seinen konform-liberalen Aussagen auf der einen und seiner Nähe zur DITIB auf der anderen Seite zeigt, ist nur um einen Hauch sichtbarer, als man es gewohnt ist. Dass er offen um die Stimmen der Deutschtürken buhlt, mag etwas Neues für die CDU sein und deshalb der Welt sauer aufstoßen; dass er sich davon überhaupt einen Erfolg versprechen kann, ist aber das Langzeitergebnis eines brutalen Eingriffs in die türkische Gesellschaft, den die deutsche Politik mit betrieben hat.
Solange Erdoğan machtpolitischer Bündnispartner bleibt – und das war und ist er immer noch beim Angriff auf Syrien –, wird es von der deutschen Politik ab und zu ein kleines "na, na" geben, aber nicht mehr. Sollte er wirklich souveräne Politik betreiben, wird man das an sofort verhängten Sanktionen erkennen.
Natürlich weiß man auch in der Welt um diese Zusammenhänge. Sosehr man hierzulande gelegentlich über die DITIB die Nase rümpft oder manchmal so tut, als wolle man mit ihr nichts zu tun haben, so klar ist auch, dass sie und ihresgleichen (bis hin zu den berüchtigten "Grauen Wölfen") die unverzichtbaren Kerntruppen des Westens sind und es, wenn sie hier unangenehm auffallen, um einen Kollateralschaden geht, der nun einmal mit dem Großmachtanspruch mitgeliefert wird. Im Verhältnis zu tschetschenischen oder uigurischen Islamisten, die aus denselben machtpolitischen Gründen hier gern aufgenommen werden, sind sie noch geradezu harmlos.
Letztlich zeigt die Berichterstattung über "Türken-Armin" nur eines – dass der Oligarchen-Clan im Hause Springer inzwischen eher auf einen anderen Kanzler setzt.
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