von Arthur Buchholz
Peter Scholl-Latour gab in einem seiner letzten Interviews eine bemerkenswerte Anekdote preis: Als er mit ranghohen russischen Militärs über den Einmarsch der US-Amerikaner mit deren Verbündeten in Afghanistan sprach, fragte Scholl-Latour, ob sich jemand von denen irgendwann einmal bei der russischen Generalität erkundigt habe, wie die Verhältnisse in Afghanistan sind und welche Lehren die damalige sowjetische Führung aus dem Afghanistan-Debakel gezogen hätte. Die Antwort war eindeutig: Niemand hat sich jemals nach den sowjetisch-russischen Erfahrungen erkundigt.
Diese Geschichte veranschaulicht noch einmal, was bei der fast zwei Jahrzehnte dauernden Mission in dem zentralasiatischen Land schief gelaufen ist. Und dies ist nun Merkels zentrales Argument in ihrer Erklärung als Bundeskanzlerin zur Lage in Afghanistan: "Hinterher präzise Analysen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert." Und: "Wir alle in der internationalen Gemeinschaft haben die Lage unterschätzt." Eine reichlich schwache Begründung für ein Versagen, das nicht nur die letzten Wochen, sondern zwei Jahrzehnte des gesamten Einsatzes betrifft. Jeder Grundschüler kann erklären, dass etwas – bloß weil es alle tun – noch lange nicht richtig sein muss. Hinweise auf das Scheitern gab es zu jeder Zeit des Einsatzes genug.
Immer wieder gab es Stimmen von aktiven US-Soldaten, Veteranen und Experten, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Doch statt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, präsentierten ranghohe Militärs und Regierungsmitglieder Zahlen, die das Gegenteil beweisen sollten.
Der Anschein von Kalkül
Absurd ist auch Merkels Hinweis, Deutschland habe im Gegensatz zum Libyen-Einsatz – aus dem sich Deutschland ja weitgehend herausgehalten hatte – in Afghanistan keinen Sonderweg beschritten. Das beschreibt sie so, als sei eben Deutschlands Zurückhaltung in Libyen eher schlecht gewesen, der Auftritt in Afghanistan aber gut. Jeder, der sich die Resultate in den genannten Ländern genauer anschaut, kommt wohl zur gegenteiligen Erkenntnis.
Zum konkreten Vorwurf, eine frühzeitige Evakuierung der deutschen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und der Ortskräfte aus Afghanistan sei versäumt worden, entgegnet Merkel, es hätte dazu geführt, dass sich die "Menschen in Afghanistan im Stich gelassen und ihrem Schicksal überlassen" gefühlt hätten. Man mag über solch eine "Logik" nur den Kopf schütteln. Meint Merkel wirklich, die Unruhe einer frühzeitigen und geplanten Evakuierung wäre noch schlimmer gewesen als die aktuelle Panik am Kabuler Flughafen? Dieser Satz zeigt besonders deutlich, dass auch diese Regierung kopflos in die Katastrophe steuerte und im Nachhinein versucht, ihrem Handeln den Anschein von Kalkül zu geben.
Lapidar geht sie über einen entscheidenden Punkt hinweg, der dringend im Parlament hätte diskutiert werden sollen. So sei es nach Merkel immer klar gewesen, dass der Einsatz mit dem unverzichtbaren Engagement der USA steht und fällt. Hoffentlich wird dieser Punkt beim nächsten US-amerikanischen Abenteuer vom Parlament besonders beachtet.
Am Ende werden sich Regierung und eingebetteter Journalismus wieder ganz einig sein: Keiner hat es wissen können – und wenn doch, dann hätte es keiner besser entscheiden können, als geschehen. Hauptsache, Deutschland steht in der internationalen Gemeinschaft gut da.
Klugerweise lässt sie die Frage nach dem Sinn des Einsatzes in ihrer Rede gänzlich aus, nur kurz streift sie ihn, wenn es um die toten Bundeswehrsoldaten geht. Dafür, dass am Ende der Besatzung alles wieder wie vorher ist, die Taliban womöglich noch gestärkt (und bestens ausgerüstet) sind, haben laut Merkel 59 Deutsche ihr Leben gelassen. Das Magazin Forbes geht von etwa 2.400 US-amerikanischen Soldaten und 6.500 Vertragskräften aus. Auf der anderen Seite stehen "nur" grob schätzbare 69.000 getötete afghanische Militärpolizisten, 47.000 getötete Zivilisten und 51.000 tote Oppositionskämpfer.
Dafür findet Merkel kein einziges Wort.
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