von Dagmar Henn
Seit einer Woche betreiben westliche Armeen in Kabul das, was sie eine "Evakuierung" nennen. Seit einer Woche kommt es außerhalb des Flughafens zu dramatischen Szenen, die gestern darin gipfelten, dass, zumindest nach Aussage des britischen Verteidigungsministers, sieben Menschen im Gedränge zu Tode kamen.
Hier wird das ganze Drama als Schuld der Taliban verkauft, und das Militär am Kabuler Flughafen, gleich welcher westlichen Herkunft, sichere die einzige Möglichkeit, diese Evakuierung überhaupt vorzunehmen.
Dass das mit der "Sicherung" Unfug ist, habe ich an anderer Stelle schon angedeutet. Nur, damit das ein für alle Mal geklärt ist, will ich das noch etwas genauer ausführen.
Der Flughafen Kabul hat laut Wikipedia eine Landebahn von 3,5 Kilometer Länge. Die Breite des gesamten Geländes dürfte bei etwa 500 Metern liegen. Das ergibt einen Umfang von 9 Kilometern. Gefahrenmomente auf Flughäfen sind die Starts und die Landungen; in diesen Momenten ist auch ein großes Flugzeug durch ein simples Manpad, eine tragbare Luftabwehrrakete, höchst verwundbar. Solche Waffen dürften reichlich vorhanden sein.
Die Reichweite dieser Raketen beträgt bis zu 8 Kilometern. Um tatsächlich zu verhindern, dass ein startendes oder landendes Flugzeug mit solch einer Waffe angegriffen wird, müssten im Abstand von bis zu 8 Kilometern Truppen verteilt sein, die jeden entdecken könnten, der solches versucht. 24 Stunden am Tag.
Wenn wir zu der tatsächlichen Größe des Kabuler Flughafens diese 8 Kilometer dazurechnen, ergibt sich eine Gesamtfläche von 19,5x16,5 Kilometer, demzufolge ein Umfang von 72 Kilometern. Wollte man die auch nur alle hundert Meter durch einen Soldaten sichern, bräuchte man dafür 720; ergibt bei Wachwechsel alle acht Stunden 2.160, die nichts anderes tun als das Gelände sichern.
Was aber natürlich nicht reichen würde, wenn ein ernsthafter Gegner darauf aus ist, ein Flugzeug zu erwischen. Und irgendwer muss ja auch noch für Ordnung am Flughafen selbst sorgen und all die anderen Tätigkeiten verrichten, die so anfallen, von der Nahrungsmittelversorgung bis zur Toilettenreinigung.
Die 6.000 US-Soldaten sind dann plötzlich gar nicht mehr so viele. Schließlich sind auch sie nicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche funktionsfähig.
Anders gesagt, das ganze Spektakel findet mit Billigung statt, und ist daher im Grunde überflüssig und unnötig. Und mehr noch – hätte es nie diese große Militärshow gegeben, bestünde vielleicht auch nicht diese Panik, und es wäre nie zu Opfern im Gedränge gekommen.
Eine Fantasie? Mitnichten. In einem Interview mit dem Spiegel erzählt der russische Botschafter in Afghanistan, Dmitrij Schirnow, die Taliban hätten die Sicherheit der russischen Botschaft garantiert. Aber:
"Diese Garantien galten übrigens nicht nur uns, sie galten allen Diplomaten in Kabul, auch den westlichen."
Das ist allerdings noch nicht alles. Am letzten Donnerstag erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, Folgendes:
"Zur Verhinderung einer weiteren Verschlechterung der humanitären Situation in Afghanistan sind wir bereit, die Dienste der russischen Zivilluftfahrt anzubieten, die jede Zahl von afghanischen Bürgern, auch Frauen und Kindern, in alle möglichen anderen Länder bringen könnte, die Interesse an der Aufnahme dieser Menschen zeigen.
Wie uns Vertreter der neuen afghanischen Behörden versichert haben, gibt es keine grundsätzlichen Hindernisse für die Landung von russischen Flugzeugen in Kabul. Die Sicherheit der Maschinen, ihrer Besatzungsmitglieder und Passagiere wurde garantiert."
Übrigens stehen nicht nur Flugzeuge der russischen, sondern auch der pakistanischen Fluglinien bereit, um Evakuierungen vorzunehmen. Und man kann davon ausgehen, dass diese Angebote den zuständigen Regierungen vorlagen, ehe sie öffentlich gemacht wurden.
Man stelle sich einmal vor, es gäbe kein westliches Militär am Kabuler Flughafen, und die Flüge würden mit ganz normalen Flugzeugen abgewickelt. Jeder, der evakuiert werden soll, erhält, von welchem Land auch immer, ein Ticket für einen Flug. Es gäbe keine Toten, kein Gedränge. Es wäre die Abwicklung der Folgen einer Katastrophe (zumindest für die westlichen Mächte), aber es wäre selbst keine Katastrophe.
Unmöglich? Man hätte zumindest darüber nachdenken sollen. Eine Rumpfbesetzung der Botschaft in Kabul belassen, die im Stande gewesen wäre, eine zivile Evakuierung abzuwickeln.
Was geschah stattdessen? Großes Drama mit unnötigen Opfern. Nur, damit man hier schreiben kann, die Taliban hätten am Flughafen Kabul in die Luft geschossen. Ganz ehrlich, für die panische Menge hat der Westen gesorgt; und gegen panische Mengen gibt es wenig andere Mittel.
Leider gibt es momentan niemand, der es wagt, ein Ende der Militärshow zu verlangen. Also wird sie weitere Opfer fordern. Aber man sollte sich zumindest darüber klar sein, wer sie zu verantworten hat.
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