Kognitive Dissonanz – wie der Westen die Realität in Afghanistan verdrängte

In Deutschland wie auch in den USA hat die Überraschung über den Vormarsch der Taliban eine heftige Debatte über die Verlässlichkeit der Geheimdienstinformationen ausgelöst. Allerdings – in beiden Ländern lagen wohl zutreffende Einschätzungen vor; sie haben nur die Entscheidungen nicht beeinflusst.

Ein Kommentar von Dagmar Henn

Wie konnte es passieren, dass die Taliban scheinbar ohne Vorwarnung so schnell das ganze Land einnehmen? Warum war der Zustand der afghanischen Armee nicht bekannt? Diese und ähnliche Fragen dominieren augenblicklich die Debatte. All die teuren Dienste mit ihren Agenten und ihren gigantischen Abhöreinrichtungen hätten die entscheidenden Informationen übersehen.

Gestern allerdings schrieb das Wall Street Journal, es habe sehr wohl eine entsprechende Warnung gegeben, die über den "dissent channel", den Kanal für abweichende Meinungen, eingegangen sei, und zwar schon am 13. Juli. Dieser Kanal für abweichende Meinungen endet unmittelbar auf dem Tisch des Außenministers. Er wurde in den USA bereits während des Vietnamkriegs eingeführt, als die Erfahrung gemacht wurde, dass abweichende Meinungen oft hilfreich sein können. Die Absender sollen nicht sanktioniert werden.

23 Mitarbeiter der US-Botschaft in Kabul sollen dieses Schreiben unterzeichnet haben. Sie warnten vor einem Zusammenbruch der afghanischen Sicherheitskräfte und forderten eine Beschleunigung der Evakuierungsmaßnahmen.

Dieses Schreiben hatte bei seinem Empfänger aber sichtlich keine Wirkung; die Evakuierungsmaßnahmen wurden nicht beschleunigt und der Abzug der US-Botschaft erfolgte letztlich abrupt und schlecht vorbereitet. Die realen Informationen hatten solche Probleme vorzudringen, dass noch am Mittwoch der Chef des Generalstabs im Pentagon, General Mark Milley, erklärte: "Weder ich noch irgendjemand sonst sah etwas, das einen Zusammenbruch dieser Armee und dieser Regierung binnen elf Tagen nahelegte."

Ähnliches spielte sich anscheinend auch auf deutscher Seite ab. So berichtet der Spiegel: "Im Januar 2021 meldete der Dienst, dass so viele Soldaten der von der NATO mit vielen Milliarden aufgepäppelten "Afghan National Army" (ANA) scharenweise zu den Taliban überliefen, dass diese selbst vom Ansturm neuer Rekruten überrascht seien." Realistisch betrachtet seien höchstens 25.000 Mann der afghanischen Armee kampfbereit. Im August wäre dann vor einem schnellen Sieg der Taliban gewarnt worden.

"Die geheimen Papiere landeten im Kanzleramt, aber auch im Verteidigungsministerium und im Außenministerium. Dort aber war nicht jeder glücklich über die pessimistischen Prognosen," so der Spiegel.

Die gestrigen Aussagen des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt lassen aber vermuten, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist. Er sprach von "unberücksichtigten Hinweisen", "an welcher Stelle die gelandet sind, wie die verarbeitet oder nicht verarbeitet worden sind."

Es ist auch kaum vorstellbar, dass niemand mitbekommen haben soll, wenn das afghanische Militär, wie Pepe Escobar schrieb, monatelang keinen Sold erhalten hat. Dieses Wissen müsste schon durch die persönlichen Kontakte diffundieren.

Letztlich zeigt sich hier das klassische Dilemma der Nachrichtendienste. Wie das Militär zerfallen sie, hier wie in den Vereinigten Staaten, in zwei Ebenen, eine fachliche und eine politische. Beim BND ist nicht nur der Präsident eine politische Position, auch alle Referatsleitungen werden nach Parteibuch besetzt. Die US-Dienste sind genauso aufgebaut. Das bedeutet, zwischen der rohen Information und der Ebene, die daraus konkrete Handlungen ableiten soll, liegen mehrere Filter, die diese Informationen verzerren oder blockieren können.

Je weiter die Information von dem abweicht, was der Regierung oder der eigenen Partei genehm und damit der Karriere förderlich sein könnte, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie an einer der Zwischenpositionen herausgefiltert oder abgemildert wird. Aussagen, die ein völliges eigenes Scheitern nahelegen, werden daher kaum jemals wahrgenommen.

Das Phänomen der kognitiven Dissonanz ist eben nicht auf die Regierten begrenzt, es erfasst auch die Regierenden. Dabei gilt: je einiger sich die politische Klasse ist, desto beschränkter wird ihre kollektive Wahrnehmungsfähigkeit, weil das Problem der kognitiven Dissonanz immer weitere politische Felder erfasst.

Nachdem es nur noch in der einen Partei, die garantiert nicht in den Diensten vertreten ist, der Linken, abweichende Stimmen zum Einsatz in Afghanistan gab, war der Weg zum katastrophalen Scheitern schon zur Autobahn ausgebaut. Denn anzuerkennen, dass die afghanische Armee eine Luftnummer ist, wäre nur dem möglich gewesen, der gleichzeitig anerkennen kann, dass sich damit der gesamte Einsatz als unnütz erweist.

So und nicht anders wird es auch in den Vereinigten Staaten gelaufen sein, auch wenn die zu überwindende Hürde in diesem Fall nur zwischen den Augen des US-Außenministers und seinem Gehirn lag. Wer sich für unbesiegbar hält, kann Niederlagen schwer wahrnehmen. Auch dafür gibt es historische Vorbilder.

Den Preis für diese Form der kognitiven Dissonanz zahlen aber leider andere, diejenigen, die sich darauf eingelassen haben, mit den westlichen Truppen zusammenzuarbeiten. In den politischen Klassen des Westens wird die Blindheit höchstens ein, zwei Bauernopfer fordern.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Mehr zum ThemaVerlorene Kriege: Deutschland und die westliche Allianz