von Björn Kawecki
Zwölf Seemeilen östlich des Donaudeltas, auf der Höhe der ukrainisch-rumänischen Grenze, liegt im Schwarzen Meer die Schlangeninsel. Laut der griechischen Mythologie finden auf dem Eiland, das auch "die Insel der Glücklichen" genannt wurde, beunruhigte Seelen ihre letzte Ruhe. Der Sage nach hat der Meeresgott Poseidon persönlich die Seele des Helden von Troja Achilles hierher gebracht.
Im 19. Jahrhundert gewann die 0,17 Quadratkilometer kleine Insel zunehmend an militärischer Bedeutung. Hatte die Schlangeninsel lange zu Rumänien gehört, wurde sie 1948 in einem Geheimabkommen an die Sowjetunion abgetreten. Mit dem Ende der Sowjetunion ging die Schlangeninsel an die Ukraine über. Dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij am 19. August auf ebendieser Insel mehreren ukrainischen Journalisten ein Interview gegeben hat, ist also kein Zufall.
Der Zeitpunkt des Interviews ist ebenfalls kein Zufall. Wenige Tage später beginnen die dreitägigen Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit am 24. August. Über 150 Events wurden angekündigt. Sogar der weltbekannte italienische Sänger Andrea Bocelli wird ein Konzert geben. Der Besuch der Bundeskanzlerin findet übrigens nicht zufällig am 22. August statt.
Am 23. August soll zudem erstmals die lange angekündigte und laut beworbene "Krim-Plattform" stattfinden, eine Art internationaler Dialog, den die ukrainische Regierung zum Zweck der Rückkehr der Krim in das Territorium der Ukraine ins Leben gerufen hat. Zahlreiche Staats- und Regierungschef sind zur Teilnahme an der "Krim-Plattform" eingeladen worden. Ob sich Angela Merkel ebenfalls beteiligen wird, ist bislang nicht bekannt.
Das Narrativ des für die Ukraine pompösen Events lautet, dass Millionen von Ukrainern jahrhundertelang für die Unabhängigkeit ihres Landes gekämpft hätten. Heute müsse die territoriale Integrität der Ukraine gegen die Übergriffe des "nordischen Nachbarn", gegen Russland, verteidigt werden. Am Ende werde die Ukraine aber gewinnen. Ab diesem Jahr werde man sich viel deutlicher der Weltgemeinschaft in seinen Belangen mitteilen.
Was man in Kiew offenbar noch nicht weiß: In Deutschland und der Europäischen Union hört man diese nationalistischen Töne nicht besonders gern. Die auf Globalismus gepolte Elite Europas entledigt sich mit Freude jedes rückwärtsgewandten positiven Bezugs auf die autochthone Kultur ihrer Völker. Nationalistisches Streben nach Unabhängigkeit und Souveränität entfernt sie da gerne gleich mit. Das Unabhängigkeitsfest sei den Ukrainern aber gegönnt. Es geht schließlich gegen den Richtigen. Und wer zu spät kommt, feiert eben länger.
Offiziell feiert die Ukraine auf ihrem dreitägigen Fest also die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion. In Anbetracht der dargebotenen Rhetorik, der Einrichtung der Krim-Plattform, die die Krimfrage auf die internationale Agenda setzen soll, ist aber klar, dass in diesem Jahr vor allem anderen die Unabhängigkeit von Russland zelebriert und nachdrücklich betont werden soll.
Offiziell heißt es auch, dass man mit internationalen Partnern vor allem humanitär zum Thema Krim arbeiten wolle. Die Militärparade am 24. August, die Manöver der ukrainischen Seestreitkräfte im Gewässer vor der Schlangeninsel und der Plan, bis 2035 eine Flotte aufzubauen, verraten aber mehr. Offenbar will es Kiew nicht bei Menschenfreundlichkeit belassen.
Selenskij träumt von einem Glas Champagner
Während seines Interviews auf der Schlangeninsel ist Selenskij ganz der Staatsmann, den er bereits in seiner Fernsehserie "Diener des Volkes" verkörpert hat: weitsichtig, doch bedächtig, eifrig, aber bescheiden. Die Schlangeninsel ist ukrainisches Gebiet und wird als solches mit aller Kraft verteidigt werden, teilt der Präsident die Staatsräson mit. Selenskij erzählt vom staatlichen Armeeentwicklungsprogramm. Die Streitkräfte werden auf alle möglichen russisch-weißrussischen Aggressionen vorbereitet sein.
Auch beim Hauptthema des Interviews, der geplanten Rückeroberung der Krim von Russland, bleibt Selenskij gelassen, gibt den Mann von Welt, der alles unter Kontrolle hat. Seine Regierung hat alles im Griff, kümmert sich, macht Pläne. Was sollte ein Präsident auch anderes sagen?
Doch Selenskij ist auch besorgt. Glaubt man seinen Worten, ist die Attraktivität der Halbinsel seit Langem am Sinken. Daran sei Russland schuld, das seit ihrer Eroberung im Jahr 2014 für die Militarisierung der Krim gesorgt hat. Die einst ökologisch und touristisch wertvolle Perle des Schwarzen Meeres sei zu einem russischen "Flugzeugträger" verkommen. Das müsse sich wieder ändern.
Daher möchte Selenskij die "Glocken für die Krim läuten". Dafür brauche es nur eine Glocke und Hände, die sie läuten. Genügend Hände seien mit der Krim-Plattform nun da. Ob das Forum zu der erwünschten Glocke wird, könne er erst hinterher beurteilen. Die Wichtigste ist aber, andere Staats- und Regierungschefs in die Sache mit einzubeziehen. Selenskij fordert die Anführer der Länder, die die Ukraine unterstützen, zum Druck auf den Präsidenten Russlands auf.
Die Kirchenglocken werden geläutet, um die Gläubigen zu rufen. Die Rückeroberung der Krim als Gottesdienst? Wen sollen Glocken rufen? Diejenigen, die glauben, dass die Krim zur Ukraine gehört, oder diejenigen, die glauben, dass die Krim erneut in ukrainischen Besitz übergehen wird? "Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berge: Heb dich dorthin!, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein." (Mt. 17,20)
Der Glaube Selenskijs ist hartnäckig. Daher nutzt der ukrainische Präsident den offiziellen Jargon und spricht von der Krim als "vorübergehend besetztes Gebiet". Gemäß ihrem Glauben verabschiedet die ukrainische Regierung weiterhin Gesetze, die für die Krim gelten sollen. Während der "russische Besatzer" die Bevölkerung der Krim bei jeder Gelegenheit spaltet, wollte man sich in Kiew mit einem jüngst verabschiedeten Gesetz bei den Krim-Bewohnern offenbar lieb Kind machen.
An dem Gesetz ist aber nicht nur merkwürdig, dass sein Geltungsbereich außerhalb des Einflusses Kiews liegt. Das Gesetz ist vor allem merkwürdig immateriell. Denn es verspricht den Tataren auf der Krim nicht, wie Selenskij ausführt, die Versorgung mit Wohnungen, Lebensmitteln oder anderen Waren. (Wer braucht das schon?) Sondern es verspricht den Tataren die Krim als ihr eigenes Land. Und wenn irgendwann ein Krimtatar eine Straße auf der Krim entlanggehe, gehe er seine eigene Straße entlang, und wenn ein russischer Bürger gegenüber gehe, ist der Tourist und Gast in einem fremden Land. So viel zu den vorgeworfenen Spaltungsversuchen.
Also Grundbesitz statt Subventionen? Selenskij ist sich selbst offenbar unsicher, was er speziell den Krimtataren nun anbieten möchte. Denn Autonomie unter der Kontrolle eines anderen Landes müsste sich, betrachtet man es vernünftig, gegenseitig ausschließen. Dass die Einwohner der Krim liebend gerne zur Ukraine zurückkehren möchten, daran hat Selenskij aber keine Zweifel. Trotz der Gehirnwäsche durch die Russen seien mentale Veränderungen bei den Bewohnern nicht nötig – auch nicht bei denen mit "Oktoberabzeichen" in der Seele. Mit der Ukraine werde das Leben endlich auf die Krim zurückkehren.
Anscheinend um die ukrainischen Gebietsansprüche zu untermauern, arbeitet man parallel an der "Befreiung der Asowschen Küste". Bis zum Jahr 2035 soll die Ukraine eine Flotte aufbauen. Die Ukraine sei ein friedlicher Staat, müsse aber zu jedem Schritt bereit sein. In Berdjansk, einer Großstadt am Asowschen Meer südlich von Mariupol, ist der Aufbau eines Militärstützpunktes geplant: ein Großprojekt, bei dem man auf die Unterstützung durch EU, Großbritannien und die USA zählt. Ebenso vertraut man in Kiew auf die Präsenz von NATO-Schiffen im Schwarzen Meer.
Erst als seine Lieblingsorte auf der Krim zur Sprache kommen, da erweicht das Herz des ukrainischen Volksdieners. In seiner Studienzeit habe er sich in die schöne Halbinsel verliebt. Und wenn seine geraubte Helena morgen zu ihm zurückkehrte, da würde Präsident sogleich ans Meer gehen, an "unser Schwarzes Meer", dann nach Cape Fiolent, nach Kastropol und ein Glas Sekt der Marke "Nowy Swet" trinken.
Der Status der Krim wird sich nicht mehr ändern
Bei diesem mitleiderregenden Geschwätz muss man sich fragen, wen Selenskij da eigentlich einlullen will – sich selbst oder sein Volk. Mit der Krim-Plattform hat die Regierung in Kiew zwar einen ausgetüftelten Plan hingelegt. Das dreitägige Event anlässlich des Unabhängigkeitstags scheint angesichts der Realität aber etwas übertrieben und nervlich überspannt.
Zugegeben, in Sachen Soft Power haben die Ukrainer mit ihrer Krim-Plattform einen kühnen Sprung gewagt. Ihre Anstrengungen markieren den Auftakt zu einer offensiven Außenpolitik gegenüber Russland und einem selbstbewussten Auftreten auf dem internationalen Parkett. Angesichts des Ziels, das man erreichen will, weiß man aber nicht recht, ob die Pläne der ukrainischen Führung für die Zukunft als mutig oder töricht zu bezeichnen sind – und wann das zur Schau gestellte Aufbäumen gegen die Ungerechtigkeit, die dem eigenen Land angetan worden ist, in Hysterie umschlagen wird.
Doch es ist nicht nur Selenskij, der durch verbale Großspurigkeit auffällt. In der Opposition lässt sich dieselbe nervliche Überreizung feststellen. So hatte der ehemalige Präsident Petro Poroschenko anlässlich des diesjährigen islamischen Opferfests im Juli die Rückkehr der Krim in ukrainische Hände innerhalb eines Jahres versprochen. Ernsthafte Bemühungen, die Krim wieder an die Ukraine zurückzugeben sind abgesehen von antirussischen Sanktionen derzeit aber nicht zu erkennen.
Dabei wäre es unter anderen Umständen durchaus denkbar, dass Selenskij und Poroschenko irgendwann gemeinsam ihr Glas Sekt auf der Krim trinken. Hierfür müsste die Ukraine ihren Gebietsanspruch auf die Halbinsel jedoch aufgeben. Zumindest mittelfristig kommt das für Kiew nicht in Frage. Dabei konnten Ukrainer und Russen vor 2014 weitgehend ohne Grenzen einander besuchen, miteinander Handel treiben und freundschaftliche Beziehungen führen. Und für die Zukunft ist eine Rückkehr zu diesem Verhältnis nicht ausgeschlossen.
Denn trotz regionaler Unterschiede, trotz Sankt Petersburger oder Moskauer Chauvinismus und auch viel Leid: Ukrainer und Russen waren jahrhundertelang dasselbe Volk. Dass sich beide Nationen in den letzten Jahre voneinander entfernt haben, lässt sich aus der Geschichte zwar herleiten. Ohne das Zutun des Westens wäre es vermutlich nicht dazu gekommen, dass sich die Ukraine heute in jeder Hinsicht und auf unnatürliche Weise von Russland zu trennen versucht.
Wie Selenskij aber richtig bemerkte, hat Russland tatsächlich zunehmend Truppen auf die Krim verlegt und seine Luftabwehr verstärkt. Bereits in der Sowjetunion und noch davor war die Halbinsel für Russland von großem militärischem Wert. Wer die Krim kontrollierte, hatte gute Voraussetzungen für die Kontrolle des Schwarzen und des Asowschen Meeres. In der Jahrhunderte währenden expansionistischen Unternehmung des Zarenreichs, an natürliche Grenzen zu gelangen, wurde die Krim 1783 von Katharina der Großen dem Osmanischen Reich abgerungen – und danach mit viel Blut verteidigt.
Mit Recht darf man also die Frage stellen, warum die Ukraine die Krim eigentlich zurückhaben möchte. Abgesehen davon, dass Chruschtschow damals die Halbinsel der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschanzt hat, bleibt da nicht viel. Die Schlangeninsel, auf der Selenskij sein Interview gegeben hat, hatte die Ukraine übrigens auch nur als Spätfolge eines Kuhhandels zwischen der Sowjetunion und Rumänien erhalten. Und Rumänien hat seinen Anspruch auf die Insel erst auf Drängen der USA aufgegeben. Das Risiko, die Kontrolle über die geostrategisch wichtige Krim zu verlieren, wird man in Russland sicher kein zweites Mal eingehen. Die sicherheitspolitischen Kosten wären zu hoch.
Zu den ukrainischen Anstrengungen, die Krim mithilfe eines internationalen Forums zurückzuerobern, muss man daher sagen: Mehr als eine diplomatische Probe stellen sie nicht dar. Eine echte Strategie, die sich nicht in schönen Worten und der Hoffnung auf internationalen Druck auf Russland erschöpft, hat die Ukraine nicht. Die russische Regierung hat bereits vor Jahren ihren Standpunkt in der Krimfrage deutlich gemacht. Die einzige Perspektive, die die Ukraine für eine Rückeroberung der Krim hat, ist eine Rückeroberung durch Krieg. Keiner der vorgeblichen Freunde der Ukraine, nicht die EU und nicht die USA, würden dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt wagen. Und auch wenn die Sanktionen gegen Russland und die Halbinsel weiter in Kraft sind: Der Westen hat die Krim vorerst abgeschrieben.
Was bleibt von der Hoffnung auf die USA?
Offiziell wird immer wieder derselbe Wortlaut wiedergegeben, und man wird ihn auch in Zukunft noch hören: Die Krim gehört uns, denn die Krim gehört zur Ukraine. Das ist die aktuelle Richtlinie, die Staatsräson, das Dogma. Ewig gültige Gesetze gibt es in der Geschichte aber nicht. Die Herren eines Landes wechseln wie die Jahreszeiten. Das geschieht mal friedlich, aber häufiger noch mit Gewalt. Der Prozess kann schleichend sein oder sich, wie im Fall der Krim, in wenigen Tagen vollziehen. Geschenke des Zufalls, wie sie die Ukraine erhalten hat, sind die Ausnahme. Gratis gibt es nichts.
Aber wozu machen Selenskij und Co. eigentlich das ganze Theater? Ist die Krim tatsächlich die schöne Helena, die es sich um ihrer selbst willen zu besitzen lohnt? Betrachtet man das Dogma der Ukraine, dass die Krim "uns" gehört, genauer, stellt sich heraus, dass es doch konkrete Gründe für ihren territorialen Anspruch geben muss. Wie bei vielen Glaubenssätzen, die nicht hinterfragt werden sollen, würde es nicht überraschen, wenn es eigentlich um Macht geht. Die Frage ist nur, in welcher Form.
Geht es bei der Krim um das Prestige? Die Ukraine hat doch noch andere Strände am Schwarzen Meer, die es wert wären, dass man sie aufhübscht und für den Tourismus attraktiv macht. Geht es um einen Mangel an Land? Die Ukraine ist nach Russland der zweitgrößte Flächenstaat Europas mit vielen fruchtbaren Böden. Will die aktuelle Regierung durch die Krimfrage ihr Ansehen beim Volk steigern? Mit Sicherheit. Doch gerade das Thema Krim ist hierfür eine denkbar schlechte Variante. Denn selbst wenn eine Rückkehr der Krim realistisch wäre, würde das nicht bei den immensen wirtschaftlichen Problemen des Landes helfen.
Oder will man sich am Ende gar als Player auf dem Schwarzen Meer etablieren? Auch das wäre zu bezweifeln. Denn wie sollte ein geopolitisch so schwaches Land militärischen Nutzen aus der Krim ziehen können? 2014 war man jedenfalls nicht in der Lage, die Halbinsel zu halten. Nein, Kiew will die Krim so sehr, weil es immer noch hofft, über diese Agenda unter den Schutzmantel der NATO und des Westens zu schlüpfen.
Nach wie vor steht fest, dass bei einer Rückkehr der Krim in das Staatsgebiet der Ukraine die USA aus dem russischen "Flugzeugträger" schneller einen US-amerikanischen machen würden, als in China ein Hochhaus gebaut wird. Daher steht es auch fest, dass sich der Status quo der Krim solange nicht ändern wird, solange es dem Westen nicht gelingt, in Russland eine prowestliche Regierung zu installieren.
Hätte Russland 2014 nicht eingegriffen, wäre Krim schon damals den USA als geopolitisches Sahnestück angeboten worden. Die Amerikaner hätten es sich gut schmecken lassen und die Ukrainer mit viel Dankbarkeit übergossen. Das Gebettel der ukrainischen Regierungen um den Beitritt zur NATO lässt aber erahnen, dass die Ukrainer ihre Lektion nicht gelernt haben – und Russland damals richtig gehandelt hat. Mit ihrer naiv prowestlichen Einstellung zeigt die ukrainische Führung deshalb, dass sie ein provinzieller Staat bleiben will und auch 30 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit gar nicht den Wunsch nach Unabhängigkeit verspürt.
Der Kampf für die liberale Demokratie in der Ukraine ist sinnlos
In diesem Jahr will die die ukrainische Führung (und womöglich wollen das auch viele ukrainische Bürger) die Krim noch zurück. Das ist natürlich ihr gutes Recht. Vielleicht will sie das noch in einem Jahr oder in zwei oder in zehn Jahren. Und es wird auch in Zukunft wichtig bleiben zu fragen, wie die Gebietsansprüche noch begründet werden. Mit gleichem Recht müsste man fragen, mit welcher Begründung die Bundesrepublik Deutschland heute Ansprüche auf das Elsass oder Ostpreußen anmelden könnte.
Was brächte es, die Ansprüche aufrechtzuerhalten? Irgendwann ist verlorenes Territorium unwiderruflich verloren. Wie lange wird es dauern, bis in Kiew die Pläne als unrealistisch und sinnlos akzeptiert werden? Wann werden die laut verkündeten Forderungen vollständig zur Posse geworden sein, sodass sie absolut niemand – auch nicht das eigene Volk – mehr ernst nimmt? Der Zug der Geschichte fährt irgendwann weiter.
Vielleicht wird die Ukraine ihre Hoffnung an dem Tag begraben, an dem sie den Glauben an den Westen verloren hat. Nach dem jüngsten Fiasko der US-geführten NATO in Afghanistan scheint jener Glaube bereits einen Dämpfer erhalten zu haben. Einer der ranghöchsten russischen Sicherheitsbeamten, Nikolai Patruschew, hat der Ukraine bereits ein ähnliches Schicksal prophezeit. Unter dem Deckmantel des Aufbaus einer liberalen Demokratie würden die USA das Land weiter mit Waffen fluten, solange es ihnen nützt, um dann abzuziehen und die Verbündeten sich selbst zu überlassen.
Auch der deutsche Umgang mit dem Pipeline-Projekt Nord Stream 2 hat den Ukrainern vor Augen geführt, welchen Wert sie bei ihren europäischen Partnern haben. Bald wird es nicht mehr nötig sein, die Ukraine als Transitland für russisches Gas zu nutzen. Bis zu fünf Milliarden US-Dollar an Transitgebühren wird die Ukraine verlieren, wenn Nord Stream 2 ans Netz geht. Für die Industrienationen ist das Kleckerkram auf dem Niveau von Entwicklungshilfe. Für die Ukraine sind das rund 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Ukraine ist weiterhin ein armes Land, ob mit Krim oder ohne.
Beide Ereignisse, Afghanistan und Nord Stream 2, haben den Ukrainern gezeigt, dass sie besser nicht alles auf die Karte des Westens setzen sollten. Die vielen Fehlentscheidungen der letzten Jahre, die aus antirussischen Überlegungen getroffen wurden, ganz vorne dabei das Sprachgesetz, müssten der ukrainischen Führung daher endlich zu denken geben.
Am Ende zeigt sich aber, dass Selenskij mit seinem bornierten Glauben doch nicht das ganze Land beherrscht. Zumindest einen hat das Verhalten des Westens während der letzten Woche in Afghanistan sichtlich zum Nachdenken gebracht. In einem bemerkenswerten Post auf seiner Facebook-Seite hat sich am Dienstag der Blogger und Berater im Büro des ukrainischen Präsidenten Alexei Arestowitsch zur Zukunft der Ukraine geäußert.
In seinem Beitrag drückte Arestowitsch seine Zweifel aus, ob die USA in Afghanistan tatsächlich eine liberale Demokratie schaffen wollten, ob sie wirklich zu diesem Zweck 20 Jahre lang jeden Tag 370 Millionen Dollar verbrannt haben. Wie die Sowjetunion bereits früher bewiesen hatte und was die USA in Afghanistan unnötigerweise ein zweites Mal bewiesen, eignet sich die reale Welt schlecht für den Versuch, alles unter einem einzigen idealen Konzept zu vereinen – sei es Kommunismus oder Liberalismus.
Arestowitsch fragt: Wann wäre der Westen aber bereit, seine Selbsttäuschungen zu erkennen? Wann wird die Menschheit erkennen, dass die alte Weltordnung Geschichte ist? Was ist der Preis der Fortschritts? Und ist Globalisierung als Vereinheitlichung der Welt überhaupt möglich?
"Die Anhänger eines Weltbildes, in dem die gesamte Menschheit als eine Person Netflix und LGBT-Märsche will, sind sich sicher und werden weiterhin versichern, dass Afghanistan nur ein weiteres asystemisches Scheitern ist und dass die Bewegung der Welt in Richtung liberale Demokratie der einzige Weg ohne Alternative ist."
Für die Ukraine hält Arestowitsch aber fest, dass es keinen Sinn ergibt, für den Aufbau eines "neuen demokratischen Staates" zu kämpfen. Wofür es sich lohnt zu kämpfen, ist "der Aufbau einer neuen Zivilisation, die die oben genannten Fragen in der Praxis erfolgreich beantworten kann".
Wenn die Ukraine wirklich unabhängig werden will, heißt das für Selenskij und die künftigen Präsidenten der Ukraine, dass sie sich denselben Fragen wie Arestowitsch stellen müssen. Erst dann wird kein ukrainischer Präsident mehr auf die Schlangeninsel fahren, um Interviews zu geben. Dann werden sie auf die Insel des Glücks kommen, um dort Ruhe zu finden.
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