von Gert Ewen Ungar
Die westliche Allianz hat den Krieg in Afghanistan verloren. Deutschland gehört damit zur Gruppe der Verlierer. Wieder einmal. Die Bilder vom beschämenden, würdelosen Abzug des verbliebenen Botschaftspersonals der westlichen Länder sind sicherlich noch einmal ein ganz besonders eindrucksvoller Mosaikstein, der sich in ein Bild einfügt, das vom Niedergang des westlichen Einflusses erzählt.
Wer am vergangenen Sonntag die Bilder aus Afghanistan verfolgt hat, wird zustimmen: Es handelt sich um Flucht. Der englischsprachige Kanal von Al Jazeera übermittelte in einer Liveschaltung Bilder aus Kabul, auf denen eine große Zahl startender Helikopter zu sehen ist, die Menschen aus der belagerten Stadt bringen, während eine Delegation der Taliban über eine Übergabe der Macht im Präsidentenpalast verhandelt. Angestellte der US-Botschaft verbrennen hektisch Dokumente, bevor sie ebenfalls fliehen. Ein Wort zieht sich bei allen Kommentatoren der Vorgänge wie ein roter Faden durch das Gesagte: "dramatic" – es ist dramatisch. Das westliche Bündnis wurde geschlagen, seine letzten Statthalter werden vertrieben.
Auch den Krieg in Syrien hat das westliche Bündnis verloren. Für die meisten weitgehend unbemerkt, denn die Medien haben kaum noch berichtet. Einen nicht erklärten Krieg kann man auch nicht verlieren, mag die Logik der Berichterstattung gewesen sein. Der militärische Teil ist dennoch entschieden, dessen ungeachtet hält der Westen an seinen Zielen fest. Er versucht inzwischen mittels Sanktionen, die unmittelbar die Bevölkerung treffen und Hungerrevolten auslösen sollen, sein Ziel – den Regime Change – doch noch zu erreichen. Wer immer noch an die Erzählung glaubt, es ginge in Syrien darum, das Volk von einem Tyrannen zu befreien, sollte sich die dazu verwendeten Mittel genau anschauen. Die Sanktionen zielen direkt auf die Zivilbevölkerung. Deutschland beteiligt sich aktiv an dieser verzweifelten Politik jenseits jeder Ethik und Moral.
Ein Regime Change war auch in Afghanistan das vorrangige Ziel. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA war Afghanistan als sicherer Hafen für den internationalen Terrorismus deklariert worden, den es zu bekämpfen gelte. Der US-amerikanische Überfall auf das Land wurde mit der Selbstverteidigungsklausel der UN-Resolution vom 28. September 2001 begründet. Völkerrechtlich blieb dieser Verweis und damit die Legitimität des Krieges immer umstritten.
Das den Medienkonsumenten vorgetragene Ziel war, dieses Land zu reformieren, zu demokratisieren und aus der Knechtschaft der Taliban zu befreien. Nicht genannt, aber wohl viel wichtiger war jedoch die geostrategische Lage Afghanistans an der Grenze zu China und an der Grenze zu den ehemaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan, zu Iran und zu Pakistan. Der Gegner schien schwach, das Land ist arm, in vielen Bereichen kaum entwickelt und es war auch in der Region politisch weitgehend isoliert. Es sollte wohl kein Problem darstellen, dort zu siegen und eine dauerhafte militärische Präsenz des westlichen Hegemons zu installieren. Unmittelbar an der Einflusssphäre Russlands, unmittelbar an China und Iran grenzend – eine westliche Militärpräsenz inmitten der dann später ganz offen zu Feinden erklärten Länder.
Wer sich nun die Bilder vom Marsch der Taliban auf Kabul anschaut, kann sich nur wundern. 75.000 Kämpfer sollen es lediglich sein. Schlecht ausgerüstet, ohne Schutzkleidung und in Sandalen haben sie die am höchsten gerüstete Allianz der Welt in die Flucht getrieben und ihr eine Niederlage auf ganzer Linie beigebracht.
Hinter dieser Niederlage verbirgt sich mehr. Diese Niederlage hat systemischen Charakter und bezeugt deutlich den Machtverlust des westlichen Bündnisses, zu dem auch Deutschland gehört, zu dem es sich trotz allem weiterhin bekennt, ohne Alternativen auch nur in den Blick zu nehmen.
Die Geschwindigkeit, mit der die Taliban vorgerückt sind, spricht eine eigene Sprache. Sie stießen kaum auf Widerstand, wurden teilweise sogar freudig begrüßt. Afghanistan wehrt sich nicht gegen die Taliban. Das aber wiederum wirft ein Licht auf die vergangenen zwanzig Jahre westlicher Präsenz. Offenbar ist es der westlichen Allianz nicht geglückt, auch nur ein einziges ihrer proklamierten Ziele auch nur im Ansatz zu erreichen. Die vom Westen, die von der Bundeswehr ausgebildeten einheimischen Soldaten laufen lieber entweder über oder weg. Sie suchen Zuflucht in Iran und anderen Ländern der Region. Nach zwanzig Jahren angeblicher Demokratisierung ist die Demokratie, sind die westlichen Werte für die Afghanen von einer Attraktivität, dass sich niemand für sie verwendet – man flieht oder ergibt sich in sein Schicksal. Aber man steht nicht auf. Nach fast einer Generation militärischer Präsenz verfügt das westliche Modell in der afghanischen Bevölkerung offenkundig über keinerlei Rückhalt. Es ist etwas ganz grundlegend schief gelaufen.
Wie distanziert müssen die Ausbilder gegenüber den afghanischen Soldaten gewesen sein, um den mangelnden Willen zur Verteidigung nicht mitbekommen zu haben? Wie distanziert zu den Fakten muss die ganze Befehlskette und müssen letztlich auch das deutsche Außen- und Verteidigungsministerium gewesen sein, um nicht zu merken, dass es in der afghanischen Armee keinerlei Willen zur Verteidigung gegenüber den Taliban gibt? Welche dekadente Überheblichkeit und Realitätsverweigerung müssen in deutschen Ministerien herrschen, um von solch einer Entwicklung überrascht zu werden?
Der Afghanistan-Einsatz ist gescheitert, und er war es schon vor Jahren. Russland hat aus der in Afghanistan gemachten Erfahrung schon vor zehn Jahren das Scheitern der westlichen Allianz vorhergesagt. Man hat nicht zugehört. Jetzt ist der Schaden noch größer, übergroß.
Zwar wurde zu Beginn der westlichen "Mission" in Afghanistan verstanden, dass es für die Implementierung stabiler Strukturen es unabdingbar wäre, ein gewisses Maß an Wohlstand zu schaffen. Mit ausländischer Finanzhilfe erzielte Afghanistan in der ersten Dekade des Jahrhunderts dann tatsächlich auch beachtliche Wachstumsraten. Das Bruttoinlandsprodukt stieg enorm. In der zweiten Dekade wurden die Hilfen dann allerdings bereits wieder deutlich reduziert, die Wachstumsraten sanken unter einen Wert, der es noch ermöglicht hätte, Menschen aus der Armut zu holen.
Schließlich hat sich nach zwanzig Jahren westlicher Präsenz für die afghanische Gesellschaft der Standard nicht erhöht. Die Infrastruktur ist nach wie vor nicht ausgebildet, das Land ist bettelarm. Auch politisch kam die versprochene Demokratie und Öffnung nie zustande. Es waren alles nur wohlfeile Floskeln, die sich vor allem an die heimischen Medienkonsumenten richteten. Die Realität vor Ort war eine andere. Afghanistan gilt als autoritär geführt – auch ohne die Taliban. Es gibt keine freie Presse, dafür ist die Korruption umfassend und tief auf allen Ebenen der staatlichen Verwaltung verankert.
Die Taliban dagegen scheinen in den letzten Jahren ein bisschen dazu gelernt zu haben. Sie bekennen sich zum Recht auf Bildung für Frauen, Frauen sollen arbeiten dürfen, den Drogenhandel wollen sie wieder bekämpfen und die Sicherheit der Grenzen sagten sie zu. Man wird sehen, wie verlässlich das ist.
Schaut man auf die tatsächlichen ökonomischen Kennzahlen, liegt der Schluss nahe: Der westliche Einsatz war entgegen allen Behauptungen nie ein Projekt für die Afghanen, sondern nur ein geopolitisches, militärisches Vorhaben. Das mag vielen eine Binsenweisheit sein, dessen ungeachtet gilt es, diese Tatsache auch immer wieder zu benennen und in den Blickpunkt zu rücken. Man darf derartigen Fakten nicht ausweichen. Der Einsatz in Afghanistan hat weder Demokratie noch Wohlstand gebracht. Für die Afghanen hat sich in den letzten zwanzig Jahren nichts grundlegend geändert.
Schaut man in andere Teile der Welt, in denen der Westen und mit ihm Deutschland seine westlichen Werte der liberalen Demokratie verankern will, sieht es kaum besser aus.
So ist die Bundeswehr in Mali stationiert und bildet dort Polizei- und Sicherheitskräfte aus. Diese schlossen sich allerdings kürzlich den Putschisten an und stürzten die Regierung. Es droht eine Islamisierung des Landes – also gerade das, was man mit der Mission eigentlich verhindern wollte. Auch Mali ist arm, auch in Mali hat sich durch das deutsche Engagement ökonomisch nichts zum Besseren gewendet.
Im Irak sind ebenfalls deutsche Soldaten stationiert, auch dieser Krieg geht verloren. Hatten die ausländischen Truppen bis Januar 2020 noch die Unterstützung der irakischen Regierung, hat diese die ausländischen Einheiten nach der Ermordung des iranischen Generals Soleimani am Flughafen von Bagdad durch einen US-geführten Schlag zum Verlassen des Landes aufgerufen. Dessen ungeachtet hat der Deutsche Bundestag sein Irak-Mandat für die Bundeswehr verlängert. Wir bleiben – unerwünscht und als Besatzer.
Auch vor Libyen sind deutsche Soldaten eingesetzt. Nach der Destabilisierung des Landes und schließlich der Ermordung des Staatsoberhauptes Muammar al Gaddafi zerfiel Libyen, staatliche Strukturen lösten sich auf, die Gesellschaft versank im Chaos. Die Bundeswehr soll dort das Waffenembargo überwachen, scheitert dabei aber am NATO-Partner Türkei. Die Türkei verfolgt dort eigene Interessen und ist neben Russland längst zum wichtigen Player aufgestiegen. Russland und Türkei suchen nach einer diplomatischen und politischen Lösung für das Land, bei der sie auch die regionalen Machthaber beteiligen. Die in Deutschland unter dem großspurigen Titel "Berliner Prozess" abgehaltenen zwei Libyen-Konferenzen waren beide ein Flop. Deutschland hat in der Region keine Stimme und nichts zu sagen.
Beständig präsent ist die Bundeswehr auch im Kosovo. Nach dem Überfall der NATO auf Jugoslawien zerfiel auch hier das Land. Das Kosovo spaltete sich in einem völkerrechtlich umstrittenen Prozess ab und bildet einen kaum lebensfähigen Rumpfstaat, auf dem sich allerdings eine US-Militärbasis befindet. Das Kosovo gilt als arm und in hohem Grad korrupt. Die Arbeitslosenquote liegt bei 25 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 47 Prozent. Durch westliche Intervention hat sich auch hier der Standard nicht erhöht. Dennoch hat das Kosovo ein EU-Assoziierungsabkommen unterzeichnet und strebt nach Aufnahme in das Staatenbündnis. Mit ihrem geostrategischen Expansionswillen schadet die EU sich selbst.
Das gilt vollumfänglich auch für das nächste Beispiel. Einen zwar noch nicht militärischen, dafür aber auf allen Ebenen politischen Konflikt tragen Deutschland und die EU auch in der Ukraine aus. Das Land hat sich – nach massiver Einflussnahme durch die Akteure der EU und der USA – nach einem offenen, blutigen Putsch dem Westen zugewandt. Es verarmt zusehends. Die staatlichen Strukturen werden immer instabiler – jeder, der kann, verlässt das Land. Auch dieser Konflikt geht für Deutschland und das westliche Bündnis absehbar verloren.
An all den Beispielen, die sich noch ergänzen ließen, sollte klar geworden sein, wie sich die Entwicklungen in Afghanistan in das Bild vom Fall der westlichen Hegemonie einfügen. Wo der Westen, wo Deutschland interveniert, entstehen weder Demokratie noch Wohlstand. Eine westliche Intervention bedeutet Verelendung und Niedergang. Das westliche Modell ist daher von einer derartig geringen Attraktivität, dass es 75.000 schlecht ausgerüstete Kämpfer schaffen, eine "Übermacht" von 300.000 Mann der einheimischen Armee zu vertreiben – einfach weil erstere dafür den notwendigen Rückhalt haben. Das westliche Modell aber hat jede Überzeugungskraft verloren.
Das, wofür Deutschland steht – das westliche Modell der liberalen Demokratie –, ist nicht mehr in der Lage, Wohlstand in einem Maße zu generieren, dass er Regionen befrieden könnte. Ja, mehr noch: Auch in den Kernländern des westlichen Liberalismus ist der Verfall sichtbar. Die Mittelschichten erodieren, die Gesellschaften driften auseinander, Armut nimmt in einem erschreckenden Ausmaß zu. Eine Implementierung von Demokratie ohne wachsenden Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten kann aber nicht funktionieren. Die ökonomische Schlagkraft, dies wirklich zu bewerkstelligen, fehlt dem westlichen Bündnis und fehlt auch Deutschland ebenso wie das dazu notwendige Wissen. Die Rückeroberung der Macht durch die Taliban in Afghanistan liefert dafür in diesen Tagen den eindrücklichsten Beleg. Die Bilder der nach Kabul marschierenden Taliban werden zum Symbol für den Machtverlust des Westens werden. Diese Bilder haben absolute Strahlkraft.
Für Deutschland aber ist es dringend notwendig, angesichts der Ereignisse in Afghanistan sowohl die eigene Politik als auch die eingegangenen Bündnisse auf ihre Zukunftsfähigkeit zu überprüfen. Die Idee von der eigenen Überlegenheit ist von der Realität längst eingeholt. Das bedingungslose Festhalten am transatlantischen Bündnis ist angesichts des Machtverlusts der USA fatal, denn dieses führt nur zu weiteren verlorenen Kriegen, für die Deutschland dann eines Tages mit zur Rechenschaft gezogen werden wird. Es bedarf in Deutschland einer grundlegenden Neuausrichtung des politischen Kompasses.
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