von Gert Ewen Ungar
Die vier Reden, die Alexei Nawalny im Januar und Februar 2021 während seines Prozesses vor Gericht hielt, liegen nun das erste Mal in Buchform vor. "Alexei Nawalny – Schweigt nicht!" erschien als zweisprachige Ausgabe: kommentiert von Alexandra Berlina in deutscher Übersetzung und im russischen Original, mit einem Vorwort versehen von Gerhart Baum.
Gerhart Baum saß lange Jahre für die FDP im Deutschen Bundestag, von 1978 bis 1982 war er Bundesinnenminister unter Kanzler Helmut Schmidt. Er gilt als einer der führenden Vertreter linksliberalen Denkens in Deutschland und ist vehementer Streiter für die bürgerliche Freiheit. Dennoch bedient das Vorwort von Gerhart Baum lediglich Klischees. Ein kleiner Absatz ist besonders wichtig, er wird deshalb hier zitiert. Baum schreibt im Hinblick auf Putin und Lukaschenko:
"Wir sollten alle rechtlichen Möglichkeiten nutzen, Verantwortliche strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Das Völkerstrafrecht gibt uns und anderen Staaten das Recht, unter bestimmten Voraussetzungen Befehlsempfänger, also Richter, Staatsanwälte, Gefängnis- und Polizeipersonal, in Rechtsstaaten vor Gericht zu bringen. Davon sollte mehr Gebrauch gemacht werden. Wo es sinnvoll erscheint, auch von nationaler Strafverfolgung jenseits des Völkerstrafrechts. Haftbefehle gegen Befehlsempfänger sind opportun, wo Diktatoren die Begehung schwerer und schwerster Straftaten befehlen – wie im Fall der Flugzeugentführung in Belarus."
Dass Baum bei schwersten Straftaten die angebliche Flugzeugentführung in Weißrussland und nicht beispielsweise die Drohnenmorde oder die willkürliche Inhaftierung und Folter auf Guantanamo unter den unterschiedlichen US-amerikanischen Präsidenten als Beispiel anführt, ist dabei symptomatisch. Die deutschen Liberalen sind auf dem westlichen Auge blind.
Was hier bemerkenswert ist, ist der Vorschlag, nationale Strafverfolgung gegen Staatsbedienstete anderer Staaten einzusetzen, wenn diese nach deutscher Auffassung humanitäres Recht brechen. Das ist allerdings keine Schnapsidee eines alternden Partei-Granden, sondern wird zunehmend juristische Praxis. Mit dem Völkerstrafgesetzbuch hat sich Deutschland 2002 die Möglichkeit gegeben, über die ganze Welt zu richten.
Dabei ist die Idee, es müsste eine transnational arbeitende Gerichtsbarkeit geben, an die sich Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wenden können, zunächst nicht falsch. So etwas gibt es auch. Es gibt einen Internationalen Strafgerichtshof für Menschenrechte (IStGH), und es gibt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Man könnte diese Strukturen ausbauen und fördern. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Dem Internationalen Strafgerichtshof für Menschenrechte wird immer wieder Einseitigkeit, sogar ein neokolonialer Habitus vorgeworfen, denn die überwiegende Mehrheit der dort verhandelten Fälle betrifft afrikanische Staaten und deren Staatsbürger.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, sich politisch instrumentalisieren zu lassen. Zuletzt im Fall Nawalny, als der Gerichtshof nach ergangenem Urteil in Russland die sofortige Freilassung Nawalnys angeordnet hat. Russland ist dem nicht gefolgt, weil es sich nach russischer Auffassung um ein ausschließlich politisch motiviertes Urteil handelte. Dieser Auffassung ist an Fakten wenig entgegenzuhalten.
So ehrenwert die Ziele der beiden Gerichtshöfe sein mögen, so problematisch ist es natürlich, wenn beide im Verdacht stehen, der verlängerte Arm westlicher Politik zu sein. Ginge es tatsächlich um den Schutz vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit, müsste man alles daran setzen, dieses Glaubwürdigkeitsproblem der Gerichte zu lösen. Dazu müsste man im Falle des Internationalen Strafgerichtshofs für Menschenrechte diplomatisch darauf hinarbeiten, dass Länder wie die USA, Russland und China das Statut ratifizieren, den Gerichtshof schließlich anerkennen und dessen Urteile respektieren und umsetzen. Dazu ist es unbedingt notwendig, dem Vorwurf der Einseitigkeit nicht nur rhetorisch, sondern vor allem auf der institutionellen Ebene zu begegnen. In Bezug auf die USA muss zudem noch deren Anspruch auf Exzeptionalität angegangen werden.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist von dem Makel seiner Einseitigkeit zu befreien. Sonst erleidet er das gleiche Schicksal wie der Internationale Strafgerichtshof. Zahlreiche Länder haben sich inzwischen vom IStGH wieder zurückgezogen und erkennen ihn nicht mehr an.
So haben beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr die Russen auch darüber abgestimmt, ob russisches Recht Vorrang vor internationalem Recht haben soll. Sie haben sich dafür entschieden. Es ist also absehbar, dass sich Russland immer weniger an die Urteile des EGMR gebunden sieht. Auch in Europa erodiert das nach dem Kalten Krieg errichtete. Wer dafür allein die Schuld bei Russland sucht, übersieht den Vorlauf, die absichtsvoll aufgebauten Hürden, die politische Instrumentalisierung, die aktive Zerstörung etablierter Strukturen durch vor allem westliche Regierungen und wischt die Argumente Russlands in diesen Zusammenhängen einfach beiseite, bestätigt damit jedoch das zentrale russische Argument: Russland fühlt sich nicht gehört, gegängelt und übergangen. So kommt man nicht zu produktiver internationaler Zusammenarbeit im Interesse der Staatengemeinschaft und deren Bürger.
Es bedarf eines umfassenden Willens zur Korrektur der Entwicklung und eines umfassenden Bekenntnisses zur Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Dieser Wille zur Korrektur ist allerdings nicht in Sicht. Die Entwicklungen im Hinblick auf internationale Gerichtsbarkeit spiegeln die geopolitische Entwicklung. So scheitert die internationale Strafgerichtsbarkeit in Bezug auf Menschenrechte vor allem an einem: den durchsichtigen Versuchen westlicher und insbesondere europäischer Staaten, sie machtpolitisch zu instrumentalisieren.
Nun wäre Deutschland nicht Deutschland, würde es in diesem Scheitern und dem sich daraus ergebenden Vakuum nicht auch die Möglichkeit sehen, sich selbst zum moralischen Maßstab zu erheben, um die Welt daran zu richten. Und genau das hat Deutschland getan.
Seit Juni 2002 gibt es in Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch. Mit den letzten Änderungen wurde sein Anwendungsbereich ausgeweitet.
Im Februar 2021 ergeht ein Urteil nach dem Völkerstrafgesetzbuch gegen zwei Syrer, die der Folter angeklagt waren. Das Urteil wird als Meilenstein gefeiert.
So meint Christoph Safferling, Professor für internationales Recht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg:
"Im momentan kritischen Zustand der Internationalen Strafjustiz ruhen die Hoffnungen auf Gerechtigkeit für die Opfer von Systemverbrechen auf den nationalen Strafverfolgungsbehörden und damit in Deutschland vor allem auf dem Generalbundesanwalt. Dass dort diese Aufgabe ernst genommen wird, ist lobenswert. Deutschland ist kein sicherer Hafen für Folterknechte und Kriegsverbrecher. Je mehr Staaten diese Aufgabe ähnlich ernst nehmen, desto deutlicher die Botschaft: Keine Straflosigkeit für Menschlichkeitsverbrechen."
In einem Beitrag einige Jahre zuvor ist Safferlings Position noch deutlich moderater. Damals hob er hervor, der Generalbundesanwalt sei kein Weltpolizist.
Neben der absoluten Anmaßung und der offenkundigen Einseitigkeit deutscher Rechtsprechung angesichts der deutschen Einbindung in das westliche Bündnis kommt gerade in Bezug auf die deutschen Strafverfolgungsbehörden noch ein systemimmanentes Problem zum Tragen. Die deutschen Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden und nicht unabhängig. Der Europäische Gerichtshof hat das moniert und den deutschen Behörden daher untersagt, internationale Haftbefehle auszustellen. Das eklatante rechtsstaatliche Problem wurde bisher nicht korrigiert. Der Generalbundesanwalt kann also auf politische Weisung tätig werden. So wird die Idee, man könnte den Bösewichten in jenen Ländern, die nicht dem Liberalismus huldigen, auf juristisch saubere Weise beikommen, gleich im Keim erstickt.
Diese Unzulänglichkeit des deutschen Justizsystems bedeutet nicht, dass Deutschland seinen Überlegenheitsanspruch aufgibt und dieses Instrument nicht genutzt wird. Deutschland, seine politischen und medialen Eliten befinden sich aktuell in einer Art Rauschzustand, der ihnen eine moralische Überlegenheit suggeriert, die sich umgekehrt proportional zum außenpolitischen und ökonomischen Einfluss in der Welt verhält. Je weiter die letzteren abnehmen, desto umfassender werden Deutschlands moralische Überlegenheits- und Vorbild-Fantasien.
Dabei ist es offensichtlich, dass sich dieser moralische Rausch aus kognitiven Dissonanzen speist. Nein, die Staatsbediensteten im englischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, wo seit April 2019 Julian Assange in Haft sitzt und rechtsstaatliche Prinzipien in ganz grundlegender Weise gebrochen werden, müssen sich nicht vor deutscher Strafverfolgung fürchten. Es betrifft auch nicht US-amerikanische Angestellte im Staatsdienst, die am Drohnenprogramm beteiligt sind, das systematisch gegen Rechtsstaatsprinzipien und das Völkerrecht verstößt. Nein, dagegen wird das deutsche Recht nicht in Stellung gebracht. Sondern, Baum macht das deutlich, gegen unliebsame Regierungen. Auch dann, wenn wie im von Baum genannten Fall der Landung des Ryanair-Fluges in Minsk, die Faktenlage mehr als dürftig ist.
Die politische Instrumentalisierung, an denen die Institutionen internationaler Strafgerichtsbarkeit scheitern, soll nationalisiert werden. Die sich daraus ergebenden internationalen Konflikte sind vorgezeichnet.
Genau das macht ein weiteres Problem deutlich: die deutsche Blase. Wenn sich deutsche Ermittlungsbehörden auf die dürftigen Erkenntnisse deutscher Medien, westlicher NGOs und Thinktanks verlassen müssen, geht jene Ausgewogenheit verloren, für die Justitia eigentlich steht. Dann schließt sich der Kreis, respektive die Blase wird zu einem intellektuellen Gefängnis, in dem sich Deutschland vor der Welt abschließt.
Das geht nicht gut, denn die unaufgeklärten, einseitigen, undifferenzierten und oftmals hetzerischen Argumente deutscher Medien und Thinktanks werden andere Länder kaum hinnehmen, wenn sie in Urteile gegen die eigenen Staatsbürger einfließen. Dass dem so ist, dafür ist Gerhart Baum das Zeugnis, denn er ist mit seinen Beispielen für die Notwendigkeit einer Verurteilung ausländischer Staatsbürger nach deutschem Recht vollkommen in der deutschen Blase gefangen. So ist abzusehen, dass der deutsche Anspruch, über die Welt zu richten, ein weiterer Schritt zur Eskalation der internationalen Verhältnisse sein wird. Deutschland wird dabei zudem weiter an Ansehen verlieren.
Besser wäre es, Deutschland würde seine Überlegenheitsgefühle beiseite wischen, denen in der Realität ohnehin nichts entspricht, und sich für die Stärkung einer transnationalen Gerichtsbarkeit einsetzen, die tatsächlich einen Fortschritt bringt, auch wenn sich Deutschland dann mit absoluter Sicherheit regelmäßig verantworten müsste. Denn schon ein kurzer Blick auf die deutsche Außenpolitik macht deutlich: Für die moralische Überhebung, die Deutschland sich anmaßt, fehlt es im faktischen außenpolitischen Handeln an jeder Grundlage. Im Gegenteil hat Deutschland in nahezu jeder außenpolitischen Schweinerei auf die ein oder andere Art die Finger mit drin. Deutschland macht sich die Hände gerne schmutzig.
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