Kommentar von Dmitri Lekuch
Und wieder ist es so weit – was will man da sagen: Überhaupt nicht zufällig steht die Gasfrage in den meisten seriösen europäischen Medien wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Denn die Lageveränderungen dort gehen in der Tat in eine äußerst unangenehme Richtung. Die europäischen Märkte werden spürbar erschüttert, auch wenn sie noch nicht direkt beben.
Teures Erdgas – auch wegen Vertragsanbindung an Spot(t)preise
Nichts Verwunderliches: Einerseits erreichte der Gaspreis auf den Spotmärkten in Europa einen neuen Höchstpunkt. Dieser wurde am Freitag, dem 6. August, am TTF, dem größten (virtuellen, Anm. d. Red.) Erdgas-Handelsplatz der EU, mit über 460 Euro pro 1.000 Kubikmeter gemessen. An Details interessiert? Bitteschön: Um 11.30 Uhr Moskauer Zeit waren die Gas-Futures für September nach Index der TTF (zur Erinnerung: TTF ist der liquideste Erdgas-Handelsplatz in Europa) auf 465 Euro pro 1.000 Kubikmeter gestiegen. Der Kurs lag bei der Handelseröffnung bei 462 Euro und fiel dann auf 456 Euro. Dabei ist der eigentliche Aufwärtstrend der Preise recht langfristig und offensichtlich, und selbst die konservativsten Analytiker erwarten keinerlei bedeutenden Rückgang bis mindestens Mitte des kommenden Winters. Und selbst das ist unwahrscheinlich.
Aber das ist, wie man so schön sagt, nur die halbe Wahrheit.
Ehrlich gesagt erwarteten viele Experten auch einen solchen Preisanstieg – und wenn einige westliche Großabnehmer auch ihre langfristigen Verträge mit russischen Lieferanten an den Spotmarkt gebunden haben, weil sie dachten, dass sie auf diese Weise die russische Gazprom ins Bockshorn jagen könnten ... Es tut mir ja leid, aber wie heißt es so schön: Wenn jemand ein Idiot ist, dann ist das von Dauer.
Niemand hat sie dazu gezwungen. Eigentlich sogar ganz im Gegenteil.
Unterirdisch tief unter der Erde: Die Füllstände in unterirdischen Erdgasspeichern Europas
Viel schlimmer ist jedoch etwas anderes.
Glaubt man den Statistiken der Bank of America (oder auch den Statistiken von Reuters) – und dort steckt man ziemlich tief in diesem Thema, geschenkt, dass sie auf einem anderen Kontinent sitzen –, so stehen die Pegel unterirdischer Gasspeicher (UGS) in Europa derzeit nicht bloß auf einem Fünfjahrestief. Tatsächlich sind sie zu weniger als 60 Prozent gefüllt – bei einem saisonalen Soll von mindestens 10 Prozentpunkten Füllstand darüber. Und das größte Unglück im Hinblick auf die europäischen Speicheranlagen und die Spotmärkte kam aus einer Richtung, woher man es aus irgendeinem Grund so gar nicht erwartet hatte: Die LNG-Importe nach Europa sind in diesem Sommer nicht nur nicht gestiegen, sondern sogar um etwa ein Viertel, um 24 Prozent, zurückgegangen – und das, man bedenke, im Vergleich sogar zum letzten Jahr, als die europäische Wirtschaft sich von einem Lockdown zum nächsten über die Runden quälte.
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Hierfür geben viele westliche Medien üblicherweise Russland die Schuld, insbesondere wegen des Unfalls und des Brandes in der größten Kohlenwasserstoffverarbeitungsanlage von Gazprom in der Autonomen Region der Jamal-Nenzen, die zu einer Verringerung des Durchflusses im polnischen Abschnitt der Jamal-Europa-Pipeline führten. Doch erstens wollen wir hier feststellen, dass keine der langfristigen Lieferverpflichtungen von Gazprom verletzt wurde.
Und zweitens: Ja, der Unfall ist zweifellos schwerwiegend, aber wir haben schon vor dem Unfall einen Trend zu steigenden Preisen und sinkenden Vorratsständen in europäischen UGS gesehen. Und es besteht kaum ein Zweifel, dass wir diesen Trend auch nach der Beseitigung der Unfallfolgen weiter beobachten werden.
Das eine hat sich bloß mit dem anderen überlagert, was einen gewissen zusätzlichen Effekt erzeugt – mehr nicht.
Europas wichtigstes Gastransitland: Die Ukraine ist tot – es lebe Deutschland
Interessanter ist eine andere Sache. Trotz der offensichtlich unangenehmen Situation in Europa, die fast schon Vorkrisencharakter hat (nur um zu veranschaulichen, wie sich die Gasmärkte auf verwandte Märkte auswirken: Bloomberg schreibt, dass die Großhandelspreise für Strom in Deutschland um mehr als 60 Prozent gestiegen sind, während die BBC informiert, dass die britische Energieregulierungsbehörde Ofgem am 6. August eine Erhöhung der Verbrauchertarife für Heizung und Strom um 10 Prozent genehmigt hat – und das wird sich mit Sicherheit fortsetzen, den Gang zur Wahrsagerin darf man sich da getrost sparen), bewahrt nicht nur die russische Gazprom, der das schon von Amts wegen so geziemt, sondern bewahren auch die großen europäischen Energiekonzerne, die als deren Partner auftreten, eine erstaunliche Gelassenheit und Gleichmut.
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Das aber bedeutet: Sie sind mindestens bezüglich der aktuellen Lage auf dem Laufenden und stimmen der neuen Gastransportstrategie des russischen Energieriesen zu – und es wäre irgendwie äußerst naiv, dies nicht zu verstehen.
Wir wollen es an dieser Stelle nochmals betonen: "mindestens". Höchstwahrscheinlich ist dieser Strategiewechsel des russischen Gasriesen in Partnerschaft mit den europäischen Konzernen vereinbart worden – frei nach dem DDR-Motto "in Absprache mit der Abteilung". Und es besteht kaum ein Zweifel daran, mit wem ein solches unmittelbares und geradliniges Gespräch stattfand.
Im Wesentlichen ist alles ganz einfach: Die europäischen Energiemärkte werden zwecks Anpassung an ein neues primäres Gastransitland neu formiert – und dieses Land wird nach der baldigen Inbetriebnahme von Nord Stream 2 (übrigens: Jetzt versuche doch mal einer, dieser Pipeline unter so extremen Bedingungen die Betriebslizenz zu verweigern...) ganz klar Deutschland sein. Deutschland konsolidiert unter seinen Fittichen Transitkapazitäten für russisches Erdgas, wie die Ukraine sie in ihren besten Zeiten hatte. Deshalb ist man in Deutschland auch nicht beunruhigt: Man ist ja im Prinzip mit allem zufrieden, einschließlich der derzeit hohen Preise auf den Spotmärkten.
Und das Auffüllen der unterirdischen Gasspeicher wird Deutschland eben gemeinsam mit Gazprom angehen, sobald Nord Stream 2 in Betrieb genommen sein wird: Das ist dann halt so.
Letzter Trumpf des abgesetzten Transitkönigs geschlagen: Westukrainische Gasspeicher entwertet
Gleichzeitig wird dadurch deutlich, wie "akut notwendig" die unterirdischen Erdgasspeicher aus dem Sowjetvermächtnis in der Westukraine für die europäischen Märkte sind, auf denen sie mit den UGS in den Alpen, Deutschland und Österreich in Konkurrenz treten. Ja, genau – noch die sowjetischen UGS, die die derzeitigen ukrainischen "Gasexperten" und die diesbezüglich geradezu rätselhafte Kiewer Regierung mit sich herumtragen wie der sprichwörtliche Narr seine Kappe.
Leute, eigentlich seid ihr jetzt nur noch Konkurrenten der europäischen UGS-Anlagen. Und die erwähnten Deutschen und Österreicher könnten diese Anlagen in der Westukraine allenfalls aufkaufen – mit dem einzigen Ziel, sie zu verkorken und nie wieder zu öffnen. Obwohl: Wofür sollen sie da Geld bezahlen, wenn die Ukrainer all das eigenständig und kostenlos erledigen? Gar keine dumme Frage. Denn um das zu verstehen, braucht es keinen Doktortitel in Quantenchirurgie, sondern nur einen Blick auf die aktuellen Statistiken über die Auslastung der europäischen UGS-Einrichtungen: Europa kann ja schon seine eigenen Gasspeicher aus objektiven wie subjektiven Gründen nicht auslasten. Verzeihung, wozu noch mal braucht Europa eure "ungenutzten Kapazitäten"?
Gazprom und die Zielpriorität Erschließung des russischen Binnenmarktes
Was Russland selbst und Gazprom angeht, so haben wir hier schlicht und ergreifend etwas wenig Nerv für alles Obige. Und gerade deshalb können wir mit der jetzigen Situation in Europa durchaus leben: Der russische Gasriese bekommt einfach eine andere Stoßrichtung zugewiesen – was nicht nur von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung lang ersehnt wurde, sondern auch ganz banal zuverlässigere Perspektiven bietet. Das sind, mit Verlaub, Binnenmärkte – und es geht nicht mehr um bloße Absichtsbekundungen, sondern um echte Taten und echte Investitionen.
Die Investitionen sind übrigens wirklich enorm, und damit sich auch garantiert keine Langeweile einstellt, kommt zu all den anderen "Nettigkeiten" die unmittelbare Kontrolle durch den Präsidenten obendrauf. Wahrlich, jetzt ist gerade wirklich keine Gelegenheit für zerstreute Bummelei.
Außerdem drängt sich der leise Verdacht auf, dass der russische Gasriese sich naturgemäß gegen Preiserhöhungen für seine Produkte in Europa mitnichten wehren will.
Auch verhalten sich die deutschen Partner trotz aller laufenden Schwierigkeiten weitaus angemessener als die bisherigen "Transitpartner" in Person der neueuropäischen Jungdemokratie. Warum sollte man sie dann nicht bei einem so edlen Unterfangen unterstützen?
Und als Sahnehäubchen kommt ja noch hinzu, dass der Rekordanstieg der Spotpreise am niederländischen virtuellen Erdgas-Handelsplatz TTF ungefähr null bis gar keine Auswirkungen auf die russischen Binnenmärkte haben wird. Das ist ganz einfach: Im Gegensatz zur russischen Erdölindustrie mit ihrem "Steuermanöver", das die heimischen russischen Preise für Erdöl und Raffinerieprodukte so weit wie möglich an die Weltmarktpreise koppelt (weshalb auch endlos eine "Benzinkrise" auf die andere folgt), hat Russland es geschafft, in Bezug auf Gasmärkte ein Zwei-Kreislauf-Preissystem beizubehalten. Und so wirken sich jegliche Schwankungen auf den europäischen Spotmärkten zu unserem Glück ungefähr gar nicht auf die inländischen Gaspreise in Russland aus.
Popcorn – des Russen Leibgericht
Dennoch ist das Beobachten des aktuellen Geschehens dort sicherlich eine überaus abendfüllende Beschäftigung. Das Wichtigste ist, dass man sich nicht zu sehr davon packen lässt: Die europäischen Gasgleichungen sind natürlich sehr elegant und für uns alle durch und durch lehrreich. Doch selbst im Energiesektor steht Russland jetzt (leider oder zum Glück, auf jeden Fall unbestreitbarer Weise) vor viel dringenderen und bodenständigeren Aufgaben.
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Übersetzt aus dem Russischen.
Dmitri Lekuch ist ein russischer Unternehmer (Werbeindustrie), Prosaautor, Publizist und Journalist sowie politischer Beobachter bei RIA Nowosti. Er erforscht zudem das Phänomen der osteuropäischen Fußballfan- und Hooliganbewegungen.