Von Tilo Gräser
"Irgendwann fühlt man sich wie der Esel, dem eine Karotte vor die Nase gehalten wird." So beschreibt der FDP-Vizevorsitzende und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki seinen Eindruck von der Corona-Politik der Bundesregierung. Diese gebe dafür immer neue Ziele aus, wodurch sie "emotional und praktisch in immer weitere Ferne" rückten. Kubicki äußert sich so in seinem neuen Buch "Die erdrückte Freiheit – Wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt", das kürzlich im Westend Verlag erschien.
Der FDP-Politiker hat damit eine scharfe und schonungslose Abrechnung mit der Politik der Regierung in der COVID-19-Pandemie seit März 2020 vorgelegt. Angesichts der Lage dürfte es sich um mehr als nur um ein Buch handeln, das für die Bundestagswahl im Herbst 2021 geschrieben wurde. Dazu sind Kubickis Analysen und Sichten zu tiefgehend und grundsätzlich, auch wenn er sich anscheinend scheut, tatsächliche Konsequenzen einzufordern.
"Angst war das treibende Gefühl, um die Maßnahmen zu begründen", stellt er unter anderem fest. "Und in der Pandemie war die Furcht besonders ausgeprägt – was die Durchsetzung erleichterte. Um ganz sicherzugehen, kultivierte man sie." Damit bestätigt Kubicki Einschätzungen anderer Beobachter der Corona-Krise und Kritiker des politischen Handelns in dieser.
Die Rolle der Politik
Wobei festgestellt werden muss, dass nicht ein Virus den Rechtsstaat aushebelt, wie es im Untertitel des Buches heißt. Es ist die Reaktion der Politik, vor allem der Regierenden, auf das Virus SARS-CoV-2, die genau dazu führt. Dafür bringt Kubicki selbst zahlreiche Beispiele, die gar zu der Frage hinführen: Warum fordert er nicht den sofortigen Rücktritt der dafür Verantwortlichen samt Selbstauflösung des Bundestages und der Landesparlamente? Gründe dafür führt er zahlreich an.
"Besorgt hat mich, dass der Wert der Verfassung in jenen Tagen nicht mehr erkannt, ja sogar verkannt wurde", blickt der FDP-Politiker, selbst Jurist, auf das politische Handeln am Anfang der Pandemie im Frühjahr 2020 zurück. Und:
"Das Infektionsschutzgesetz, das über lange Zeit ein Eremitendasein fristete, wurde plötzlich zum Taktgeber einer Entwicklung, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes sicher nicht im Hinterkopf hatten, als sie seine wichtigsten Rechtssätze schufen. Auf dieser einfachen gesetzlichen Grundlage nahm man die schwersten Grundrechtseingriffe seit Bestehen des Landes vor."
Angesichts zahlreicher Stimmen, die diese Entwicklung begrüßten und unterstützen, fragt der Autor: "Wenn die Verfassung nicht mehr gelten soll, was gilt stattdessen?" Zwar könnte die in Artikel 1 des Grundgesetzes garantierte Menschenwürde nicht aufgehoben werden. Aber seitdem die Pandemie ausgerufen wurde, sei die Moral höher als das Recht gestellt worden, beklagt Kubicki, mit gravierenden Folgen bis heute.
Die Rolle der Kanzlerin
Der FDP-Vizevorsitzende erinnert in seinem Buch: "Das Grundgesetz sieht die Menschen nicht als Untertanen, sondern als freie, mündige und selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger. Die Grundrechte sind daher vor allem Abwehrrechte gegenüber dem Staat, der einem mündigen Bürger nicht vorschreiben darf, welche Meinung von der Regierung er haben, in welchem Beruf er arbeiten, an welchem Ort er wohnen oder welche Brotsorte er kaufen soll."
Doch gerade Kanzlerin Angela Merkel hat aus seiner Sicht solche und andere grundlegenden Regeln missachtet. Sie habe frühzeitig mit ihrer Fernsehansprache am 18. März 2020 deutlich gemacht, dass sie "das Ruder fest in die Hand nimmt" und auch "das Parlament bei der Corona-Bekämpfung aus dem Spiel genommen" habe. Und: "Nicht ein einziges Mal wurde das Parlament in dieser Ansprache erwähnt." Damit wurde immer ein Grundpfeiler der politisch-sozialen Ordnung der Bundesrepublik, die Gewaltenteilung aus Legislative (Parlament), Exekutive (Regierung) und Judikative (Rechtsprechung), ausgehebelt. Auch dafür bringt Kubicki eine Reihe von Beispielen.
Immer wieder kommt er auf die Rolle der Kanzlerin zu sprechen, deren Handeln zu einem "Bild einer eher 'angeleiteten' Demokratie" führe, "bei der Frau Merkel sagt, was ist". Dazu hätten auch die Medien mit ihrer machorientierten, aber zum Teil auf Unwissen über Grundmechanismen der bundesdeutschen Politik basierenden Berichterstattung beigetragen. "Aber wer will es den professionellen Beobachtern verdenken", schreibt Kubicki, "dass sie Politik mittlerweile als inhaltlich entkernte Machttaktik verstehen, wenn ihnen selbst ein bayerischer Ministerpräsident durch sein Verhalten ständig Recht gibt?"
Kubicki meint, mit Merkel regiere in der Pandemie "die Angst – und der Starrsinn". Damit würden kritische Sichten und Hinweise von Wissenschaftlern und Medizinern zum Umgang mit der Gefahr durch das Virus ignoriert. Das Beispiel des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen zeige:
"Die Kanzlerin war offenbar der Überzeugung, dass sie höhere Erkenntnisse hatte und den richtigen Weg wusste. Daher galt es, all das aus dem weg zu räumen, was ihrer Linie widersprach."
Sie habe die Corona-Politik "in eine Machtfrage verwandelt (…) und abweichende Stimmen nicht als Bereicherung und Teil einer Lösung" gesehen, die eine sozial orientierte Politik ermöglichen und Folgeschäden vermeiden könnte.
Harter Vorwurf
Merkels Handeln in der Corona-Krise sei vor allem Symbolpolitik, die aber umso konsequenter durchgesetzt werde. Dabei würde selbst außer Acht gelassen, ob durchgesetzte Maßnahmen überhaupt rechtlich zulässig und durchführbar sind. Kubicki nennt dafür als Beispiele die 2021 von der Kanzlerin geforderte "Osterruhe", die immerhin wieder zurückgezogen werden musste, und die dem folgende "Bundesnotbremse".
Mit dieser sei endgültig der Glaube vieler, die Bundesregierung gehe "planvoll und mit Bedacht vor", widerlegt worden, schreibt der Bundestagsvizepräsident von der FDP: "Tatsächlich wusste sie nicht viel, behauptete aber oft das Gegenteil und verlangte den Bundesbürgern dafür viel ab." Das Nichtwissen der Regierenden hätten die Bürger teuer bezahlt – "mit dem Verzicht auf ihre Freiheiten". Die Politik bekäme dabei aber nicht nur Unterstützung von den Medien, sondern auch von Wissenschaftlern und Medizinern.
Kubicki warnt vor den Folgen:
"Wer auf diese Weise mit Fakten umgeht, wer sich die Wirklichkeit strickt, wie es am besten passt, wer Menschen so dreist für dumm verkaufen will, der zerstört das Vertrauen in den öffentlichen Diskurs als Grundlage unserer Freiheitsordnung."
Das ist nicht an jene Kritiker der Regierenden gerichtet, die oft als "Corona-Leugner" diffamiert werden – damit kommentiert der Autor Worte und Taten der verantwortlichen Politiker wie der Kanzlerin oder von Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU). Dennoch äußert der FDP-Vize immer wieder Verständnis für das Handeln der Regierenden, nicht nur zu Beginn der Pandemie, als sie allen Berichten nach vom Auftauchen des Virus SARS-CoV-2 überrascht wurden. Eine solche Situation könne "zwangsläufig" überfordern und dazu führen, dass einiges schieflaufe.
Das zeigt sich ebenso bei den Aussagen Kubickis zur Impfkampagne, bei der es auch um "Freiheit für alle" gehe. Einige Seiten zuvor spricht er sich dafür aus, dass Geimpfte und Genesene "in die weitgehend unbeschränkte Freiheit" zurückkehren können sollten. Damit beteiligt er sich an der aktuellen Spaltung der Gesellschaft in jene, denen die Grundrechte wieder zustehen, und jene, die darauf weiter verzichten sollen. Und das, obwohl er zuvor der Bundesregierung bescheinigt, "eine moralische Entwertung von Grundrechten zu betreiben".
"Brutale Vernachlässigung"
Das gehört zu den Widersprüchlichkeiten der Sicht und Aussagen Kubickis nicht nur in dem Buch. Darin benennt er immerhin die "brutale Vernachlässigung" nicht nur der älteren Bürger, sondern auch der jüngeren Generationen durch die Corona-Politik. Menschen in Alten- und Pflegeheimen seien "weggesperrt" worden, anstatt sie wirkungsvoll zu schützen:
"Am Ende zeigte sich, dass nicht das Virus für das Wegsperren der Heimbewohner verantwortlich war, sondern die Bundesregierung."
Ähnlich drastisch kritisiert er den politischen Umgang mit den Kindern und Jugendlichen in der Pandemie. Der sei bestimmt worden vor der Linie, die in dem im Frühjahr 2020 bekannt gewordenen "Angst-Papier" aus dem Bundesinnenministerium vorgezeichnet wurde. Kubicki bescheinigt den Regierenden "emotionale Kälte zu den Kindern": "Mit Kindern wurde ab dem Herbst 2020 verstärkt Politik gemacht – und fast immer zum Schlechtesten." Dazu hätten auch vermeintliche Experten wie der SPD-Politiker Karl Lauterbach mit seiner dauerhaften Angstmache beigetragen. Die Folgen hätten die Jüngsten, aber auch die Familien bezahlen müssen.
"Die Planlosigkeit und Unfähigkeit der Bundesregierung" in der Corona-Krise hat aus Kubickis Sicht nicht nur zu großen Freiheitseinschränkungen geführt: "Eine Allgemeingefährdung wurde dabei in Kauf genommen", so sein schwerer Vorwurf. Was er als Belege dafür anführt, widerspricht dem, was die Kanzlerin in ihrem bisher letzten Amtseid 2018 sagte:
"Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde."
Der FDP-Vize zieht als Fazit: "Das menschenfreundliche Bild des Grundgesetzes, das natürlich auch von allen politischen Entscheidungsträgern eine verbindliche Leitlinie sein muss, wurde in der Corona-Krise aus Gründen der politischen Opportunität mit Füßen getreten." Die Bundesregierung habe mit ihrer Corona-Politik "nicht selten rechtliche Grenzen übertreten": "Die geschah zum Teil auf Basis von Dilettantismus und Ignoranz, aber auch mit Vorsatz."
Unerkannte Verfassungsgegner
Kubicki stellt fest, dass in der Corona-Krise "von verschiedener Seite versucht wurde", die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik "zu schleifen – nicht zuletzt vom Kanzleramt". Er bedauert, angesichts dessen "gab es nur sehr wenige, die entschieden für demokratische Werte einstanden". Dabei erwähnt er nicht all jene hierzulande, die seit dem Frühjahr 2020 genau das tun, mit dem Grundgesetz in der Hand, auf Straßen und Plätzen, in verschiedenster Form. Dafür werden diese Menschen diffamiert – und auch von Polizisten verprügelt und verhaftet.
Der Bundestagsvizepräsident warnt am Ende seines Buches deutlich: In einem Staat, "in dem Willkür regiert und in dem rechtliche Grundsätze politischen Erwägungen unterliegen", sterbe die Freiheit. Demokraten haben aus seiner Sicht die Aufgabe, "der bürgerrechtlichen Akzentverschiebung, die durch die Corona-Politik entstanden ist, wieder entgegenzuwirken".
Er geht noch weiter:
"Wir dürfen nie wieder zulassen, dass mit Angst Politik gemacht wird, und müssen uns dagegen wehren, wenn staatliche Organe oder gesellschaftliche Akteure aktiv Furcht schüren, um Freiheitsrechte zu begrenzen. Oder wenn Regelbrüche mit angeblich höheren Motiven entschuldigt werden. Es gibt keine statthaften Motive, die über unserer Rechts- und Freiheitsordnung stehen."
Freiheitsbeschränkungen dürften "nie wieder so widerstandslos, so leichtfertig und so willkürlich implementiert werden".
Nein, der Jurist und Politiker Kubicki ist kein "Querdenker" und auch kein heimliches Mitglied der basisdemokratischen und maßnahmen-kritischen Partei Die Basis, auch wenn seine Worte vielleicht so klingen. Sie wirken überraschend, weil sie inzwischen kaum von einem etablierten Politiker erwartet werden. Dabei sind sie gerade von einem Liberalen wie Kubicki zu erwarten, der wieder dafür sorgen will, "dass die Eigenverantwortung der Menschen zentraler Bestandteil unseres Zusammenlebens wird – und nicht die ständige Vorgabe von Verhaltensregeln durch den Staat".
Derzeit gehört der Buchautor noch zur Opposition im Bundestag. Schauen wir genau hin, falls seine Partei nach der Wahl im Herbst dieses Jahres eventuell wieder mitregiert. Dann muss auch Kubicki an das erinnert werden, was er kritisiert und vehement einfordert.
Wolfgang Kubicki: "Die erdrückte Freiheit – Wie ein Virus unseren Rechtsstaat aushebelt"
Westend Verlag 2021. 128 Seiten, ISBN 978-3-86489-346-9; 14 Euro
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