von Gert Ewen Ungar
Am 21. Juli einigten sich die USA und Deutschland auf eine gemeinsame Erklärung zu Nord Stream 2. Die Pipeline soll künftig neben Nord Stream 1 Erdgas aus Russland nach Deutschland fördern. Mit Nord Stream 2 wird die durch die Ostsee lieferbare Menge an Gas faktisch verdoppelt. Die USA verzichten auf Sanktionen gegen Deutschland. Deutschland sagt der Ukraine im Gegenzug weitere Unterstützung zu.
Das Papier ist insgesamt bizarr, die Reaktionen darauf sind es noch mehr. Zunächst handelt es sich bei dem Papier um eine Erklärung ohne jeden bindenden Charakter. Die Erklärung ist weder ein völkerrechtlich wirksamer Vertrag, noch sind Mechanismen zur Überprüfung des Erreichten vorgesehen. Viele der Punkte sind vage gehalten, konkrete Indikatoren fehlen völlig. Der Streit um die Auslegung der Erklärung ist vorprogrammiert. Das Thema Nord Stream 2 ist für einen Moment befriedet, aber nicht vom Tisch.
Zugesagt wurde von Deutschland unter anderem, die Rückleitung russischen Gases aus der Ukraine nach seiner Ankunft in der EU zurück in die Ukraine auszuweiten. Nach der Kündigung der Versorgungsverträge mit Russland seitens der Ukraine wird russisches Gas nach seiner Ankunft in der EU in die Ukraine zurückgepumpt. Dieser absurde Mechanismus soll unter dem Titel "Resilienz-Paket für die Ukraine" verfestigt und ausgebaut werden.
Die einzige Personalie, die verabredet wird, ist die Ernennung eines deutschen Sondergesandten, der auf die Verlängerung des Durchleitevertrags zwischen der Ukraine und Russland über das Jahr 2024 hinaus hinarbeiten und sich dafür einsetzen soll, die Ukraine in Bezug auf Energie in Lieferketten der EU einzubinden. Dafür wird der Posten mit 70 Millionen Dollar ausgestattet. Das ist für den Umfang der Aufgabe ein bescheidener Betrag. Insgesamt sind die Beträge, die in der Erklärung angesetzt werden, für Volkswirtschaften gering. Selbst für die Ukraine, die inzwischen zum ärmsten Land Europas abgestiegen ist.
Die Ukraine verliert tatsächlich am meisten. Sie hat für die Integration in den Westen ihre Wirtschaft ebenso ruiniert, wie sie traditionelle Bindungen und ihre kulturellen Wurzeln unter Schmerzen abschneidet, dafür sogar das Auseinanderfallen der eigenen Gesellschaft in Kauf nimmt. Als Gegenleistung bekommt sie außer einem eingefrorenen Konflikt im Land faktisch nichts. Die gemeinsame Erklärung verspricht vage, die Ukraine als Produzent von grünem Wasserstoff in die Versorgung der EU einzubinden. An der Befriedung des Bürgerkriegs in der Ostukraine hat der Westen, haben die EU und Deutschland offenkundig jedes Interesse verloren. Der Minsker Prozess ist tot. An einer wirtschaftlichen Stärkung oder gar einem echten Aufschwung besteht ebenfalls kein Interesse. Die Ukraine ist überschuldet und damit auf absehbare Zeit abhängig von westlichen Geldgebern. Die Ukraine ist kein souveränes Land, und das soll so bleiben.
Bei der gemeinsamen Erklärung geht es mehr um Gesichtswahrung als um echte Lösungen. Die USA sind mit dem Vorhaben gescheitert, den Bau von Nord Stream 2 zu unterbinden. Merkel hat sich durchgesetzt und ein gewisses Maß an Souveränität gegenüber den USA behauptet. Die USA werden die deutsche Seite bis auf Weiteres nicht sanktionieren. Die russische freilich schon.
Die gemeinsame Erklärung ermöglicht der Biden-Administration die Gesichtswahrung – mehr nicht. Weder der Administration Trump noch der Bidens ist die Verhinderung des Projekts selbst durch illegale, extraterritoriale Sanktionen gelungen. Die Fertigstellung von Nord Stream 2 ist eine geopolitische Niederlage für die USA. Es ist ein Riss im transatlantischen Bündnis, der auf einen Machtverlust des Hegemons im engsten Kreis seiner Verbündeten hindeutet.
Erstaunlich ist, was der deutsche Mainstream daraus macht. Das Gejammer in den deutschen Medien ist groß, es geht aber an der Sache vorbei. Die Kommentatoren sind sich darin einig, dass Russland mehr Einfluss in Europa bekommen hat. Die Deutsche Welle meint, die Gefahr sei groß, dass Deutschland dem "süßen Gift des billigen Gases" aus Russland erliegt. Alle Beiträge teilen die Meinung, dass Russland seinen Einfluss politisch ausnutzen wird, und sehen hier eine große Gefahr für Deutschland und die EU. Auf n-tv warnt der außenpolitische Falke der CDU Norbert Röttgen davor, dass Russland Energie als Waffe benutzen wird. Diese Warnung vor einem Machtmissbrauch durch Russland zieht sich wie ein roter Faden durch nahezu alle Artikel zum Thema.
Die am weitesten von der Realität entfernten Beiträge liefert die Tagesschau ab. In einem lässt sie den ukrainischen Außenminister Kuleba zu Wort kommen. Dieser sorgt sich darum, dass Russland seine "Verpflichtungen" nicht einhalten könnte. Es ist vermutlich richtig, dass sich Russland nicht an die Erklärung halten wird, als Forderung ist die Einhaltung aber auch paradox, denn Russland wurde bei den Verabredungen zwischen Biden und Merkel überhaupt nicht gefragt.
In einem weiteren Beitrag sieht der Kommentator Stephan Stuchlik Nord Stream 2 als außenpolitischen Scherbenhaufen, denn letztlich würde Deutschland von seinen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Russland keinen Gebrauch machen, wie die Fälle Nawalny, Krim und das, was er Krieg in der Ostukraine nennt, zeigen würden. Auch da sei der Gashahn bei der schon vorhandenen Pipeline Nord Stream 1 nicht zugedreht und Russland so bestraft worden. Stuchlik übersieht die umfassenden Sanktionen gegen Russland geflissentlich und verliert jedes Maß.
Lediglich ein Beitrag der Tagesschau erfasst, dass die Liefermenge mit Nord Stream 2 über dem Bedarf liegt, zieht dann aber daraus die falschen Schlüsse und versteigt sich zur These, die Pipeline sei ein Prestigeobjekt Moskaus. Es gibt sicher Prestigeprojekte. Die Zusammenarbeit mit China zum Bau einer Mondbasis gehört in diese Kategorie. Nord Stream 2 dagegen ganz bestimmt nicht.
Einig ist man sich insgesamt darin, dass jetzt Deutschland über die Einhaltung der Verträge und damit auch über das Wohlergehen der Ukraine zu wachen hat. Lediglich ob es das auch kann, ist den deutschen Kommentatoren strittig. Dass Deutschland darüber hinaus auf Polen und das Baltikum zugehen muss, um das zerschlagene diplomatische Porzellan aufzukehren und die EU wieder zusammenzuführen, auch darin ist sich der Mainstream einig.
Die Kommentare arbeiten sich an faktisch falschen Behauptungen ab, nehmen die Entwicklung nur in einem kleinen Ausschnitt wahr und ziehen daher die falschen Schlüsse. Sie eint der Glaube daran, dass Deutschland eine moralisch lautere Außenpolitik zu führen bestrebt ist. Die deutschen Kommentare zeigen, wie weit die Berichterstattung des deutschen Mainstreams inzwischen von der deutschen Politik entfernt ist. Der deutsche Journalismus wirkt absolut verloren in seiner Einseitigkeit, überfordert mit den tatsächlichen Entwicklungen, geradezu provinziell, ja hinterwäldlerisch.
Lediglich der Kommentar im Cicero erfasst für einen Moment die Realität etwas genauer. Thomas Jäger schreibt dort: "Bundeskanzlerin Merkel hat erneut bewiesen, dass sie nicht die Anführerin der EU ist, sondern engstirnige Interessen verfolgt."
Ja, es ist richtig. Merkel verfolgt Interessen. Und zwar deutsche machtpolitische Interessen. Es geht dabei um Einfluss und Dominanz, nicht aber um Ethik und Moral. Was der deutsche Mainstream in seinem somnambulen Zustand übersieht, ist, dass es Merkel in ihrer Regierungszeit geschafft hat, den Einfluss Deutschlands in der EU massiv auszuweiten.
In der Finanzkrise gelang es dem deutschen Finanzminister, den Euro – der in seiner Funktion ursprünglich gedacht war, Deutschland nach der Wiedervereinigung in eine Währung einzubinden und damit politisch einzuhegen – zum Instrument deutscher Interessen und Machtpolitik zu machen.
Es stimmt, Nord Stream 2 ermöglicht die Durchleitung von russischem Gas in einer Menge weit über den deutschen Bedarf hinaus. Das aber ist kein klimapolitischer Fehler, sondern deutsches Machtkalkül. Mit Nord Stream 2 wird Deutschland Drehscheibe für die Gasversorgung in der EU. Es steht außer Frage, dass Deutschland diese Position nutzen wird, um seine Macht weiter auszubauen. Es ist absehbar, dass nicht Russland Energie als Waffe benutzen wird – es ist Deutschland, das diese Waffe gleich auf zwei Ziele richtet.
Mit der gemeinsamen Erklärung ist Deutschland nicht nur legitimiert, sondern geradezu aufgefordert, die Pipeline als Waffe gegen Russland zu richten. Deutschland wird aber genau diese Waffe auch gegen seine europäischen Partner in Stellung bringen. Es hat genau das schon mit dem Euro getan. Wolfgang Schäuble war als deutscher Finanzminister auf dem Höhepunkt der Krise bereit, Griechenland vom Zahlungsverkehr abzuschneiden. Zur Durchsetzung der Idee der Austerität hätte er die Griechen hungern lassen. Das hat die EU sichtlich beeindruckt. Die Polen haben wie auch die Ungarn im Anschluss auf die Einführung des Euro verzichtet, um sich ein gewisses Maß an nationaler Souveränität zu bewahren. Gegen sie richtet sich jetzt die ganze Aggression einer Deutsch sprechenden EU. Wer meint, die Verfahren gegen die beiden Länder seien ausschließlich dem Umgang mit LGBT in Ungarn und einer fragwürdigen Justizreform in Polen geschuldet, übersieht den Vorlauf: Die Weigerung beider Länder, einem Währungsregime vollständig beizutreten und damit Souveränität an einen von Deutschland machtpolitisch vollständig dominierten Euroraum abzugeben. Er übersieht auch, dass die EU bei Wohlverhalten bereit ist, über alle möglichen Verstöße hinwegzusehen. Das Baltikum und die dortige Diskriminierung von Minderheiten und die dort grassierende Zensur sind dafür ein Beispiel. Es interessiert die EU nicht, denn das Baltikum verhält sich machtpolitisch konform.
Auch jetzt richtet sich die Skepsis Polens angesichts der Pipeline nicht nur gegen Russland, sondern eben auch ganz deutlich gegen Deutschland und die damit verbundene Ausweitung von Macht. In Deutschland bleibt dieser Aspekt ebenso unbetrachtet, wie das Wirken Schäubles im Rahmen der Finanzkrise nie einer kritischen Würdigung unterzogen wurde.
Im Gegenteil. Dieser kurze Einschub sei erlaubt: Die Verfilmung des Buches des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis "Die ganze Geschichte", der die Verhandlungen mitgeschnitten und protokolliert hat, hat in Deutschland keinen Verleih gefunden. Und das, obwohl Adults in the Room hochrangig besetzt ist. Ulrich Tukur spielt Wolfgang Schäuble, der insgesamt nicht gut wegkommt. Ohne politische Einflussnahme ist es nur schwer zu erklären, warum ein Film von solcher Brisanz und Relevanz dem deutschen Publikum vorenthalten wird. Eine Diskussion soll in Deutschland nicht stattfinden.
Während die Geschichte zeigt, dass Russland auch in Krisenzeiten vertragstreu ist, zeigt die jüngere und jüngste Geschichte, dass Deutschland dagegen keine Skrupel haben wird, seine Markt- und Wirtschaftsmacht als Waffe zur Durchsetzung seiner politischen Ziele einzusetzen. Auch die Grünen als größte Kritiker des Pipeline-Baus werden, sollten sie nach der Bundestagswahl an politischem Einfluss gewinnen, von diesem machtpolitischen Mittel nicht Abstand nehmen, schließlich lassen sich damit deutsche Werte den Mitgliedsländern der EU via Energiepolitik aufzwingen.
Wer deutsche Außen- und Europapolitik verfolgt, für den steht fest: Deutschland strebt erneut nach Herrschaft über Europa. Auf genau diesem rechten Auge ist der deutsche Mainstream blind. So offenkundig dieser Aspekt politischen Beobachtern auch sein mag, so beharrlich schweigt dazu der deutsche Journalismus.
So ist den Ländern der EU tatsächlich zu einer Diversifizierung ihrer Gaslieferungen zu raten – allerdings nicht um sich Unabhängigkeit von Russland zu bewahren, sondern wegen Deutschland und seines immer fester werdenden Griffs nach alleiniger Macht über Europa mittels Wirtschafts-, Währungs- und Energiepolitik.
Dem deutschen Mainstream ist zu raten, den eigenen Kompass neu zu kalibrieren, um wieder relevanten Journalismus machen zu können. Deutschland ist kein moralisch gutes Land, kein Garant für Freiheit und Demokratie. Es hilft nicht, diese Falschbehauptung immer wieder zu wiederholen, wenn die Tatsachen vollkommen dagegen sprechen. Tut man es trotzdem, setzt man sich zu Recht dem Vorwurf aus, Propaganda zu betreiben. Deutschland verfolgt knallharte machtpolitische Interessen und ist dafür bereit, auch zu ganz unmoralischen Mitteln zu greifen. Wieder einmal.
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