Grün, bis das Licht ausgeht – die unterschätzten Gefahren der Energiewende

Deutschland soll seinen Energiebedarf mit erneuerbaren Energien decken, Kohlekraftwerke abschalten und Elektroautos fahren. Gleichzeitig soll das Stromnetz in Europa immer enger verbunden werden. Das ist nicht nur für Deutschland riskant.

von Dagmar Henn

Schon seit einigen Jahren muss die Bundesrepublik massiv Strom zukaufen, wenn ein gefürchteter Zustand eintritt: dunkelkalt. Das geschieht üblicherweise im Winter, wenn die Fotovoltaik keinen Strom liefert und dann zusätzlich die Windräder stillstehen. Bisher ging das noch jedes Mal gut. Das ist aber keine Garantie dafür, dass das so bleibt. Der Blackout in Texas im vergangenen Winter hat gezeigt, welche Ausmaße das Problem annehmen kann.

Dabei war der Vorfall in Texas noch die harmlose Version, weil es sich weitestgehend um eine Notabschaltung des Stromnetzes handelte. Das heißt, in einzelnen Gegenden brauchte es bis zu zwei Wochen, um die Stromversorgung wiederherzustellen. Wären aber zentrale Teile des Netzes (wie Umspannwerke) beschädigt worden, hätte es noch wesentlich länger gedauert.

Texas und Kalifornien sind Gegenden, aufgrund des hohen Anteiles erneuerbarer Energien, in denen man ein wenig in die Zukunft blicken kann, die auch Deutschland droht. Denn es gehen ja nicht nur die Kernkraftwerke vom Netz, die Kohlekraftwerke sollen ebenso möglichst schnell abgeschaltet werden.

Schon in den vergangenen Jahren war es so, dass die Bundesrepublik immer wieder Strom zukaufen musste, wenn Wind und Sonne nicht lieferten. Damit dieses Zukaufen überhaupt möglich ist, müssen aber die Netze der Nachbarländer integriert werden. Und ein größeres Netz schafft zusätzliche Probleme.

Ein Stromnetz ist nicht nur ein gigantisches Geflecht aus stromführenden Kabeln, an dem an einigen Stellen Stromerzeuger und an ganz vielen Stellen Stromverbraucher hängen. Damit der Strom fließt, müssen zwei Dinge sichergestellt sein: Die Frequenz muss stabil sein und es muss genau so viel Strom eingespeist werden, wie abgenommen wird. Die Erzeugung muss also ständig und schnell an den Bedarf angepasst werden.

Dabei sind einige Stromerzeugungsarten flexibler als andere. Ein Gaskraftwerk kann schneller die Leistung erhöhen oder vermindern als ein AKW. Je weniger Kraftwerke im Netz sind, die leicht anpassbar sind (und das sind vor allem Gaskraftwerke), desto schwerer wird es, das Angebot zu regeln.

Auch auf Ausfälle muss stets reagiert werden. Dazu braucht es nicht immer Stürme, die Starkstrommasten umlegen, selbst Eichhörnchen können größere Stromausfälle auslösen. Das Problem dabei: Es kann zu Kaskadeneffekten kommen, sprich, ein kleiner Vorfall irgendwo löst größere Störungen andernorts aus, die dann … Je größer das Netz ist, desto weiter können sich solche Kaskadeneffekte verbreiten. Wenn alle europäischen Länder eng miteinander vernetzt sind (eines der Ziele in den nächsten Jahren, um die Volatilität der deutschen Energieerzeugung zu kompensieren), kann ein solcher Kaskadeneffekt den ganzen Kontinent umspannen.

Kurzfristige Stromausfälle hat jeder schon einmal erlebt. Es dauert meist ein paar Stunden oder einen Tag, bis sie wieder behoben sind. Wenn es aber zu einer großflächigen Notabschaltung kommt wie in Texas, dann dauert schon das Wiederanfahren der Stromversorgung Wochen, weil bei jedem einzelnen Schritt die zwei Bedingungen, Frequenz und Abnahme=Erzeugung, eingehalten werden müssen. Ein solcher Ausfall hat unmittelbar gravierende Konsequenzen.

Das betrifft nicht nur den privaten Gefrierschrank, der abtaut. Das betrifft die gekühlten Vorräte entlang der gesamten Lebensmittellieferkette. Das betrifft die gesamte digitale Infrastruktur, die ohne Strom nicht funktioniert. Das betrifft mittlerweile, seit auch die Rettungsdienste kein eigenes Funknetz mehr betreiben, auch diese, und Krankenhäuser, sobald der Treibstoff für das Notstromaggregat aufgebraucht ist.

Im letzten Winter erst sind wir knapp an einem solchen Vorfall vorbeigeschrammt. Das war die Nebenwirkung einer Abschaltung eines Kohlekraftwerkes. Aber die Liste der geplanten Abschaltungen ist noch lang.

Der Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht vom 30. März die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) vorgelegte Einschätzung der Energiewende scharf gerügt. Zu viele Faktoren seien nicht berücksichtigt und Risiken seien generell nicht gründlich genug betrachtet worden.

"So hat das BMWi kein Szenario untersucht, in dem mehrere absehbare Faktoren zusammentreffen, die die Versorgungssicherheit gefährden können. Durch den Kohleausstieg entsteht eine Lücke von bis zu 4,5 Gigawatt gesicherter Leistung, die das BMWi noch nicht bei der Bewertung der Versorgungssicherheit berücksichtigt hat."

Diese Lücke entspricht, so der Bundesrechnungshof, der Leistung von vier Großkraftwerken. Um diesen Wert liegt spätestens im Jahr 2024 die gesicherte Stromerzeugung unter der Nachfrage, falls die Abschaltungen wie geplant erfolgen.

Die Bevölkerungsprognose, die für die Berechnung des Bedarfes im Jahr 2050 und damit die langfristige Planung herangezogen wurde, entspricht nicht jener des Statistischen Bundesamtes. Das BMWi geht von nur 75 Millionen Einwohnern aus, das Statistische Bundesamt von 77 bis 83 Millionen.

Bis 2030 will das BMWi Vereinbarungen mit der Industrie treffen, in denen diese im Falle von Energieengpässen freiwillig auf Stromlieferung verzichtet. Das sollte einen Spielraum von 16 Gigawatt ergeben. Das Umweltbundesamt hält aber nur 6 Gigawatt für technisch machbar.

Einer der Engpässe in der deutschen Stromversorgung ist das Leitungsnetz. Simpel gesagt: Die großen industriellen Verbraucher sitzen in Süddeutschland, die Windparks stehen im Norden. Damit der Windstrom auch mit höheren Kapazitäten im Süden genutzt werden kann, braucht es neue Leitungen. Bereits 2010 wurde ein entsprechender Leitungsausbau beschlossen. Von den 5.061 Kilometern, die bis 2020 bereits hätten gebaut werden sollen, sind aber erst 913 Kilometer gebaut. Der Ausbau liegt fünf Jahre hinter dem Zeitplan.

Eine Speicherung des Stroms aus erneuerbaren Energien, um in Spitzenzeiten nicht mehr für die Abnahme bezahlen zu müssen, ist nach wie vor nicht in Sicht. Solche Speicher wären auch als Sicherheitspuffer nötig, wenn viele der großen Turbinen der konventionellen Kraftwerke außer Betrieb genommen werden.

Diese Liste allein reicht schon aus, um erkennbar zu machen, dass es ein Problem gibt. Aber das ist noch nicht alles. Entgegen seinem gesetzlichen Auftrag, der es verpflichtet, auch die Versorgungssicherheit zu überprüfen, hat sich das BMWi darauf beschränkt, den Markt zu betrachten. Die Sicherheit ist aber ein entscheidender Faktor, weil die Folgeschäden eines massiven Blackouts enorm wären.

Das BMWi muss dringend prüfen, welche Gefahr für die Versorgungssicherheit von der Lücke von bis zu 4,5 GW zwischen dem Szenario "Zielerreichung Klimaschutz" und dem gesetzlich festgelegten Stilllegungspfad ausgeht. Der Einwand des BMWi, eine "Stapelung" verschiedener nachteiliger Szenarien sei nach dem Stand der Fachdiskussion nicht sinnvoll, überzeugt nicht. Gerade wenn das Zusammentreffen mehrerer nachteiliger Entwicklungen wahrscheinlich ist, muss eine derartige Kombination untersucht werden. Nur so entsteht eine belastbare Risikoanalyse. Alle absehbaren Risiken für die Versorgungssicherheit sind im Zuge der Umsetzung der Energiewende bereits angelegt. Sie müssen daher einbezogen werden. Der Bundesrechnungshof bekräftigt daher seine Forderung nach der Analyse eines "Worst-Case"-Szenarios.

Wer glaubt, das deutsche Stromnetz sei wesentlich sicherer, weil besser in Schuss als das texanische, der irrt. Wie alle anderen Teile öffentlicher Infrastruktur in Deutschland, leidet auch das Stromnetz unter mangelnden Investitionen und zu wenig Wartungspersonal. Es finden sich viele Sollbruchstellen im System. Ein Artikel auf Telepolis liefert dazu einige Beispiele:

"Ein Großteil der europäischen Infrastruktur kommt in den nächsten Jahren an ihr Lebens- und Nutzungsende. Die Mehrzahl der Kraftwerke ist mittlerweile 40 bis 50 Jahre alt. Teilweise sogar älter. Allein in Deutschland gibt es über 1.150 Großtransformatoren, wovon rund 500 Stück bereits über 60 Jahre alt sind. Die Produktionskapazität beträgt jedoch nur mehr zwei bis vier Stück pro Jahr."

Transformatoren, das sind die Teile, die bei einem plötzlichen Zusammenbruch des Stromnetzes gern durchbrennen. Das war ja der Grund für die Notabschaltung in Texas. Zwei bis vier Stück pro Jahr ermöglichen aber nicht einmal Ersatz für Ausfälle.

Und schon stößt man auf den nächsten Punkt, an dem die Frage der Stromversorgung jener der Gesundheitsversorgung ähnelt: Sicherheit übersetzt sich mit Redundanz. So wie eine Gesundheitsversorgung zwar profitabel, aber nicht mehr sicher ist, wenn die Kapazität im Normalbetrieb maximal ausgelastet ist, verhält es sich auch bei Stromnetzen. Um unvorhergesehene Vorfälle aufzufangen, muss mehr Kapazität vorhanden sein, als im Alltag gebraucht wird. Die privatisierten Stromversorger haben aber kein Interesse an einer Überkapazität, weil sie nicht profitabel ist. Es hat gedauert, aber die Privatisierung könnte sich auch in diesem Bereich bald rächen.

Noch gar nicht wirklich mitbedacht bei dem vom Bundesrechnungshof gerügten Szenario ist die geplante Umstellung auf Elektrofahrzeuge. Die benötigen nämlich ebenfalls Leitungen, die es noch gar nicht gibt. Nur in den städtischen Zentren liegen Stromleitungen, die Ladestationen versorgen können. Auf dem flachen Land finden sich viele Gegenden, in denen erst einmal ganz neue Kabel verlegt werden müssten. Nur, dazu braucht es erstens Kabel und zweitens jemanden, der es verlegt. Nicht nur die Kupferpreise befinden sich gerade in steilem Anstieg; es gibt die Bautrupps nicht, die verlegen könnten.

Bei einer Bundesregierung ohne Grüne könnte man ja zumindest noch hoffen, dass auf die sich ansammelnden Risiken wenigstens insoweit reagiert wird, dass man die Abschaltung der Kohlekraftwerke noch einmal überdenkt oder zumindest hinauszögert. Mit den Grünen wäre auch noch der Grundlastanteil, den die Gaskraftwerke liefern, bedroht, weil Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen soll.

Allerdings geht bisher jedes Szenario davon aus, dass unsere europäischen Nachbarn dabei ruhig zusehen. Der bisherige Energieumbau hätte schon längst zu Problemen geführt, hätte man nicht bei Bedarf auf Stromlieferungen der Nachbarn zurückgreifen können. Es gibt aber keine Garantie dafür, dass sie unbegrenzt die Risiken einer ideologiegesteuerten Energiepolitik abfangen wollen. Je fragiler das Netz und die Versorgung in Deutschland werden, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass den Nachbarn irgendwann die eigene Haut näher ist und sie sich lieber vor den Folgen eines deutschen Blackouts schützen.

Dann allerdings ist, schon allein durch die der Biogasproduktion zu verdankenden Importquote bei pflanzlichen Nahrungsmitteln (die bei 80 Prozent liegt), sichergestellt, dass wir uns hier in Deutschland lange und eindrücklich mit der Bedeutung der Stromversorgung für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft befassen dürfen.

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