Kriegsschiffe und Säbelrasseln – Steuern wir auf ein neues 1914 zu?

Hochtrabende Friedensreden halten und gleichzeitig Kriegsschiffe an die gegnerische Küste senden? Die NATO-Politik erinnert sehr an Praktiken aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Wohin sie führten, ist bekannt. Sind wir dazu verdammt, die Geschichte zu wiederholen?

von Mark Hadyniak

Die Welt ist aufgeteilt in zwei antagonistische Blöcke. Die Großmächte haben zwei Militärallianzen geschmiedet, den Rest der Welt darunter subsumiert und sich selbst maximal aufgerüstet. Nach außen kommuniziert jede Großmacht die eigene Friedensliebe und beschuldigt die andere Seite der aggressiven Kriegstreiberei. Tatsächlich hat jede dieser Nationen bereits Kriegspläne ausgearbeitet und ökonomische Kriegsziele gesetzt. Im Streben die andere Seite zu schwächen, wird provoziert, gedroht und mit den Säbeln gerasselt. Am Ende ist jegliche Diplomatie nutzlos, weil beide Seiten schon so viel in den Krieg investiert haben, dass der Frieden zu teuer wäre.

Wir schreiben das Jahr 1914. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este am 28. Juni 1914 und die nachfolgende Julikrise lieferten allen beteiligten Militärmächten – sowohl der Entente (Großbritannien, Frankreich, Russland) als auch den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn) einen Vorwand, um die lang gehegten Kriegsambitionen endlich in die Tat umzusetzen. Die Mobilmachungen Russlands, Frankreichs und Deutschlands Ende Juli/Anfang August 1914 und schließlich die Kriegserklärungen waren logische Folgen und Summe der vorangegangenen historischen Geschehnisse. Die nachfolgenden Ereignisse und das Ergebnis sind bekannt: etwa zehn Millionen Tote und über 20 Millionen Verwundete, Zerstörung, Not, Hunger und Elend – bis hin zur Spanischen Grippe, die in den Jahren 1918 bis 1920 zwischen 20 und 50 Millionen Menschen tötete.

Können wir das alles in die Annalen der Geschichte einreihen und wie den 107. Jahrestag des Attentats von Sarajevo an uns vorbeiziehen lassen? Leider nicht, denn angesichts der aktuellen Zuspitzung der geopolitischen Situation zeigt ein Blick auf die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, wie die Geschichte sich wiederholen könnte.

Imperialismus – die gewaltsame Aufteilung der Welt

Die Schwierigkeit bei historischen Analogien ist immer die Frage, ob sich die jeweils agierenden Akteure, die Konfliktstellungen und ihre konstituierenden Bedingungen vergleichen lassen. Die einzelnen Personen und ihre jeweiligen Konstellationen im gesellschaftlichen Überbau können variieren, dahinter liegen aber grundlegende historisch-gesellschaftliche Prozesse, die sich analysieren und nachvollziehen lassen.

Laut dem russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin ist der Imperialismus die gesellschaftliche Grundlage des Ersten Weltkriegs. Im Imperialismus hat nach Lenin der Kapitalismus sein höchstes Entwicklungsstadium erreicht: Es haben sich Monopole formiert, die die gesamte Ökonomie beherrschen. Innerhalb des Kapitals hat sich das "Finanzkapital" herausgebildet, die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital. Die führenden imperialistischen Staaten teilen in permanenter Konkurrenz zueinander den gesamten Weltmarkt untereinander auf.

Ist die Welt einmal unter den Großmächten aufgeteilt – ob nun als direkter territorialer Besitz, als Kolonie bzw. Halbkolonie oder aber nur als wirtschaftliche Einflusssphäre –, erstarren die Machtverhältnisse. Die ökonomische und politische Entwicklung schreitet aber voran. Die beständig expandierenden kapitalistischen Mächte brauchen neue Absatzmärkte oder aber Territorien für den Kapitalexport. Die Ungleichmäßigkeit in der kapitalistischen Entwicklung führt dazu, dass aufsteigende Nationen die Herrschaft der alteingesessenen Nationen in Frage stellen und bedrohen. Es ist letztlich der ökonomische Zwang – die Gier nach Profit –, der zu einer Umverteilung der Einflusssphären und Märkte drängt. Lenin schreibt:

"Um die tatsächliche Macht eines kapitalistischen Staates zu prüfen, gibt es kein anderes Mittel und kann es kein anderes Mittel geben als den Krieg. Der Krieg steht in keinem Widerspruch zu den Grundlagen des Privateigentums, er stellt vielmehr eine direkte und unvermeidliche Entwicklung dieser Grundlagen dar. Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wieder herzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik." (1)

Aus dieser Perspektive ist der Erste Weltkrieg ein Resultat der sich bis zum kriegerischen Höhepunkt zugespitzten Gegensätze der imperialistischen Hauptmächte, die sich zu zwei militärischen Blöcken zusammengeschlossen haben, um auf gewaltsamen Weg eine Neuaufteilung der Einflusssphären auf Kosten der anderen Seite durchzusetzen – ob nun Großbritannien, Frankreich und Russland (und später auch die USA) auf Kosten Deutschlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches oder umgekehrt.

Ein Blick auf heute

Dieselben ökonomisch-gesellschaftlichen Faktoren wirken auch heute noch: die Monopole, das Finanzkapital, die stetige kapitalistische Expansion, die Aufteilung der Welt in Einflusssphären der imperialistischen Hauptmächte. Wo bestimmte Regionen der Welt verschlossen sind, werden sie gewaltsam geöffnet – oder es wird zumindest versucht, wie die Beispiele Libyen und Syrien zeigen. Entscheidend wird die Frage sein, wenn die Aufteilung der Weltmärkte so abgeschlossen und festgeronnen ist, dass eine Neuaufteilung nur noch auf kriegerischem Weg möglich ist – und wann aus einem regionalen Krieg ein Weltenbrand wird.

1914 waren die Hauptmächte in zwei festgefügte, antagonistische Militärblöcke aufgeteilt. Eine derartige Konstellation existiert derzeit nur zum Teil, nämlich in Gestalt der NATO, die unter anderem die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland umfasst (Letztere auch als EU), inoffiziell damit assoziiert ist Israel und möglicherweise Saudi-Arabien. Als Gegenpol bildet sich in den vergangenen Jahren ein Bündnis zwischen Russland, China und möglicherweise dem Iran heraus. Noch haben sich diese Mächte nicht als Militärallianz vereint – ein Faktor, der zeigt, dass die welthistorische Situation noch nicht bei 1914 steht –, aber ökonomische und politische Bündnisse wurden bereits geschlossen. Bei einer fortgesetzten Aggression durch die NATO wäre es nur wahrscheinlich, dass sich Russland und China weiter annähern – auch in Form eines Beistandsvertrags. Die NATO hat solche Bindungen längst.

Die aktuellen Aktivitäten zeigen genau diesen aggressiven Charakter: Wenn NATO-Staaten wie das Vereinigte Königreich oder die Niederlande Kriegsschiffe im Schwarzen Meer in Richtung der russischen Hoheitsgewässer schicken, wenn vereinte NATO-Truppen wochenlang Manöver unweit der russischen Grenze durchführen, wenn die Ukraine zunehmend in den NATO-Dunstkreis gezogen wird, wenn NATO-Militärbasen rund um das russische und chinesische Gebiet errichtet werden, wenn NATO-Kriegsschiffe permanent entlang des Südchinesischen Meers patrouillieren, was ist das anderes als Provokation, Drohung und Säbelrasseln?

Diplomatische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs

Ein Blick auf die Jahre 1900 bis 1914 lässt erahnen, auf welchem Stand die Weltlage sich hinsichtlich eines drohenden "neuen 1914" befindet. Der sowjetische Historiker Arkadi Samsonowitsch Jerussalimski hat auf bislang unerreichtem Niveau den deutschen Imperialismus analysiert und dabei unter anderem herausgestrichen, wie der Erste Weltkrieg schon in den Jahren davor diplomatisch vorbereitet worden war. Dafür hatte er umfangreiches Quellenmaterial ausgewertet, unter anderem die sogenannten "Farbbücher" der einzelnen am Krieg teilnehmenden Nationen – das deutsche "Weißbuch", das britische "Blaubuch", das französische "Gelbbuch", das russische "Orangebuch", das serbische "Blaubuch", das belgische "Graubuch", das italienische "Grünbuch". Jerussalimski argumentiert:

"Die diplomatische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs begann lange, bevor er im Jahre 1914 ausbrach. Die sich verschärfenden wirtschaftlichen und politischen Widersprüche zwischen den kapitalistischen Großmächten und die daraus erwachsenden Militärbündnisse bestimmten die neue Kräfteverteilung in Europa, das neue Staatensystem, das um so labiler war, da das Wettrüsten und die verstärkte koloniale Expansion dieses System ständig veränderten und die Gefahr militärischer Konflikte mit sich brachten." (2)

Die Jahre 1900 bis 1914 waren bestimmt von einer beständigen Zuspitzung zwischen den Hauptkontrahenten Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die schließlich in festen Militärbündnissen mündeten, die zwangsläufig auf einen Krieg hinausliefen. Ähnlich wie heute bezeichneten die Herrscher ihre Aufrüstung und ihr Säbelrasseln als ein "System des bewaffneten Friedens" – natürlich begleitet von vielerlei kleineren bis größeren Kriegen wie den Russisch-Japanischen Krieg 1904/1905, den Österreichisch-Türkischen Krieg 1911/1912 oder den zahlreichen kolonialen Aggressionen.

Während im Jahr 1898 die britisch-französischen Widersprüche gerade in der kolonialen Frage noch immens gewesen waren, hatten die aggressive Aufrüstungs- und Kolonialpolitik Deutschlands, das ein immenses Interesse an einer Neuaufteilung der globalen Einflusssphären hatte, dazu geführt, dass es 1904 zu einem Interessensausgleich zwischen Großbritannien und Frankreich kam. 1906 wurde die Entente cordial geschlossen – ein Militärbündnis, das direkt gegen den militärischen Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien aus dem Jahr 1882 gerichtet war. Russland, das bereits zuvor einen Verteidigungsvertrag mit Frankreich geschlossen hatte, trat 1907 der nun Triple Entente bei. Damit war Europa zum großen Teil in zwei Militärblöcke organisiert, die kaum Spielraum für Verhandlungen ließen.

Trotz nach außen verkündeter Friedensinteressen drängten beide Blöcke in den kommenden Jahren offensiv auf eine Schwächung der anderen Seite und eine Verbesserung der eigenen geostrategischen Position. Deutschland, das sich von feindlichen Mächten umzingelt sah und einen Zweifrontenkrieg befürchtete, vertrat dabei eine besonders aggressive Strategie.

Kriegsschiffe als Druckmittel

Exemplarisch dafür ist die Marokkokrise 1911 – der sogenannte "Panthersprung nach Agadir". Marokko war damals ein noch nicht definitiv einer Einflusssphäre zugehöriges Gebiet. Sowohl das deutsche als auch das französische Kapital erhoben Anspruch auf dieses Gebiet. Das britische Kapital hatte hinsichtlich der Übereinkunft mit Frankreich auf eigene Ansprüche verzichtet. Frankreich besetzte damals als Reaktion auf einen marokkanischen Volksaufstand die Städte Fez und Rabat und machte sich damit zur De-facto-Kolonialmacht. Deutschland schickte direkt das Kanonenboot SMS Panther in die Hafenstadt Agadir, um seinen Anspruch zu unterstreichen. Einige Tage später folgten die Kriegsschiffe SMS Berlin und SMS Eber. In Frankreich wurde das als unmittelbare Kriegsdrohung aufgefasst – beide Seiten tasteten ab, wie weit sie gehen würden. Jerussalimski beschreibt die nachfolgende Situation:

"In den danach zwischen Deutschland und Frankreich beginnenden Verhandlungen nahmen beide Seiten eine äußerst hartnäckige Haltung ein und griffen wiederholt zu Drohungen." (3)

Der Weltkrieg brach in dieser Situation aber noch nicht aus. Großbritannien drängte Frankreich zwar zu einer unnachgiebigen Haltung, allerdings war das zaristische Russland zu dem Zeitpunkt noch nicht bereit für einen Krieg gegen Deutschland und bot sich daher als Vermittler an. Auch Deutschland konnte zu diesem Zeitpunkt nicht auf seine Verbündeten Österreich-Ungarn und Italien zählen. Letzteres hatte sich längst in einem Geheimabkommen 1900 und einem Neutralitätsvertrag 1902 mit Frankreich geeinigt. Im November 1911 wurde ein Abkommen zwischen Frankreich und Deutschland erzielt. Deutschland musste Frankreichs Vorherrschaft über Marokko anerkennen und wurde dafür mit einem Stück Kolonialbesitz im Kongo kompensiert.

Diese historische Episode hat verschiedene interessante Aspekte: Zum einen zeigt sie eine Strategie der Herrschenden in Deutschland, nämlich über die Entsendung von Kriegsschiffen – trotz der militärisch geringen Bedeutung schon damals (ein Kanonenboot!) – politischen Druck auszuüben. Sie zeigt zudem, wie die Bündnisse funktionierten: Verhandlungen werden zwar geführt, aber die Allianzen stehen dabei fest. Es zeigt sich aber auch noch etwas: 1911 trieben beide Seiten die Eskalation bewusst voran – sie waren aber noch nicht für einen Krieg bereit. Ganz anders war die Situation schon 1914, als keine Verhandlungen mehr den von allen Seiten gewollten und auf den Weg gebrachten Krieg stoppen konnten.

Analogien zu heute?

Ist es abwegig, Analogien zwischen dem "Panthersprung" von 1911 und der Entsendung der beiden NATO-Kriegsschiffe in Richtung Krim zu sehen? Was ist mit der Entsendung der deutschen Fregatte "Bayern" in das Südchinesische Meer? Geht es um die Rückgewinnung der deutschen Kolonie Kiautschou mit der Stadt Tsingtau (Qingdao)?

Karl Marx schrieb bereits 1852:

"Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce." (4)

Vergleicht man beide historische Situationen miteinander, stellt man klar fest: Wir sind noch nicht bei 1914. Es fehlt noch der Antagonismus zweier festgefügter Militärblöcke und die Unbedingtheit des Krieges. Aber wie weit wird der Drang nach der Neuaufteilung der Weltmärkte bereits von festgeronnenen Einflusssphären behindert? Wie stark werden schon Kriegspläne ausgearbeitet – trotz aller Friedensreden? Sind wir schon bei 1911? Sind wir noch vor 1906?

Epilog – was tun?

Ein neues 1914 hätte wenig mit dem historischen 1914 zu tun. Angesichts der nuklearen Bewaffnung und des umfangreichen Militärpotenzials der NATO, Russlands und Chinas wäre ein Weltkrieg kurz und verheerend. Danach müsste man sich keine Gedanken mehr über einen Neuaufbau machen.

Wie können Alternativen dazu aussehen? Folgt man Lenins Argumentation, sind zwar "zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich" – sie können aber nicht von Dauer sein, da die "Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus" ist.

Für Lenin ergab sich daraus, dass nur die sozialistische Revolution den Kreislauf durchbrechen könnte. Jedoch zeigt die reale Geschichte der sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, dass sich der Erste Weltkrieg nicht durch die Weltrevolution verhindern ließ. Im Gegenteil: Die Revolutionen kamen erst als Folge der Verwüstungen und des Elends des Krieges zustande. Und bis auf die russische Oktoberrevolution scheiterten sie allesamt.

Es bleibt also mit Lenins Worten zu fragen: "Was tun?" (5). Wie lässt sich ein neues 1914 verhindern – ein Atomkrieg und das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen?

Sicher nicht über die derzeit von der NATO praktizierte Politik der militärischen Einkreisung Russlands und Chinas oder mittels ständiger Provokationen. Eher böte sich das Prinzip der "friedlichen Koexistenz" an, das erfolgreich von der UdSSR als Generallinie der Außenpolitik praktiziert wurde. Von allein werden die Herrschenden der NATO-Staaten aber nicht zu einer "friedlichen Koexistenz" übergehen – allen voran die USA, deren ökonomische und politische Dominanz sukzessive abnimmt. Sie müssen von der eigenen Bevölkerung dazu gezwungen oder abgesetzt werden – sprich: von uns.

Mehr zum Thema - Im Kalten Krieg gegen China haben die USA schlechte Karten (Teil 1) + (Teil 2)

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Quellen:

(1) W. I. Lenin: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, in: Lenin Werke, Band 21, S. 344f

(2) A. S. Jerussalimski: Der deutsche Imperialismus. Geschichte und Gegenwart (Berlin / 1968), S. 162

(3) ebenda, S. 187

(4) Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke, Band 8, S. 115

(5) W. I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, in: Lenin Werke, Band 5