Kommentar von Kit Klarenberg
Öffentlich hielten und halten die US-Behörden starr an ihrem Narrativ fest, niemand habe den Aufruhr am 6. Januar auf dem Capitol Hill in Washington kommen sehen. Doch die Veröffentlichung interner Dokumente lässt erneut Zweifel an der gängigen Version der Ereignisse aufkommen.
Am 21. Juni berichtete der Sender NBC News über ein jüngst veröffentlichtes gerichtliches Dokument: Dieses warf weitere Fragen darüber auf, ob man beim US-Inlandsgeheimdienst Federal Bureau of Investigation (FBI) vorausgesehen hatte, was später am 6. Januar in Washington geschehen würde – und falls ja, warum das FBI nicht rechtzeitig Alarm schlug.
Das betreffende Dokument ist ein FBI-Ermittlungsbericht zu Aktivitäten in den sozialen Medien vor diesem schicksalhaften Tag. Der im Februar erstellte Bericht zeigt, dass wutentbrannte Donald-Trump-Anhänger offen darüber sprachen, Schusswaffen ins Kapitol zu bringen, um eine "Revolution" anzuzetteln. Beiträge mit derartigem inhaltlichem Tatbestand wurden als Rechtfertigung verwendet, eine Ermittlung gegen den Protestteilnehmer Thomas Webster einzuleiten: Der ehemalige Beamte des New York Police Department wurde im folgenden Monat wegen Angriffs auf einen Beamten der Capitol Police angeklagt. Der Bericht besagt:
"Eine Überprüfung von öffentlich zugänglichem Material und Beiträgen in sozialen Medien im Vorfeld und im Verlauf der [Amtseinweihungs-]Veranstaltung deutet darauf hin, dass Personen, die an der 'Stop the Steal'-Kundgebung teilnahmen, über die Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahlen 2020 verärgert waren und das Gefühl hatten, Joseph Biden sei gesetzwidrig zum gewählten Präsidenten erklärt worden. Nutzer in mehreren Online-Gruppen und Plattformen diskutierten darüber, bewaffnet zum Kapitol anzureisen oder Pläne zu schmieden, an diesem Tag eine 'Revolution' zu starten."
Seltsamerweise trat Webster selbst bei diesen aufrührerischen Diskussionen nicht auf – auch ist nicht bekannt, ob dies bei anderen Personen, die wegen ihrer angeblichen Rolle bei den Unruhen festgenommen wurden, anders gewesen ist. Insgesamt wurden Stand 11. Juni 2021 521 Personen angeklagt.
Völlig unklar ist darüber hinaus, ob man sich beim FBI vor dem 6. Januar 2021 bereits derartiger Aktivitäten bewusst war – auch wenn FBI-Leiter Christopher Wray bisher konsequent jede Andeutung abwies, dass seine Behörde jeglichen Grund zur Annahme hätte, in Washington braue sich Ärger zusammen, bis schließlich die Hölle tatsächlich losbrach.
Operation Occupy the Capitol? Nie gehört
So sagte er am 15. Juni vor dem Committee of Oversight and Reform (wichtigstes Ermittlungsgremium innerhalb des US-Repräsentantenhauses) aus, das FBI habe "keine justiziablen Informationen gehabt, denen zufolge Hunderte von Menschen ins Kapitol einbrechen oder das Kapitol erstürmen könnten". Er fuhr mit der Behauptung fort, das FBI könne nicht einfach "nur für den Fall" möglicher Probleme schon im Vorfeld Netzwerke überwachen. Vom Justizministerium für das FBI aufgestellte Regeln zur Überwachung sozialer Medien verböten dies.
Doch in Wirklichkeit erlauben die Richtlinien des Justizministeriums dem FBI bei inländischen Operationen ebendas. Und das FBI hätte in der Tat gute Gründe gehabt, diese Befugnisse auch zu nutzen. In die Kapitolgebäude der einzelnen US-Bundesstaaten wurde in Vergangenheit bei mehreren Protesten eingedrungen; das Kapitol in Washington selbst fiel dieser Tendenz gegen Ende des Frauenmarsches von 2017 zum Opfer. Wenige Tage nach dem Aufruhr machten auch Forscher für Inlandsextremismus auf Tausende von Online-Beiträgen aufmerksam, die sie über Wochen hinweg gesammelt hatten. Darin legten die beteiligten Netzwerkteilnehmer ihre Ziele unverhohlen dar. In einem Flugblatt etwa, das im Dezember auf Facebook und Instagram geteilt wurde, war der Protest offen als "Operation Occupy the Capitol" bezeichnet worden.
Jedenfalls dürfte das FBI guten Grund gehabt haben, solche Eventualitäten vorauszusehen und sich darauf vorzubereiten. Mehr noch: Ein interner Lagebericht wurde am 5. Januar vom FBI-Standort in Norfolk, US-Bundesstaat Virginia, an die Capitol Police gemailt. Er trug die Betreffzeile "Potenzielle für morgen geplante kriminelle Aktivitäten in der Gegend von Washington DC" und macht heute überdeutlich: Zumindest einige Elemente innerhalb des US-Inlandsgeheimdienstes befanden sich bereits im Voraus in höchster Alarmbereitschaft.
Das Dokument hielt fest, dass einige Personen Pläne des Kapitolgebäudes in den sozialen Medien geteilt sowie voraussichtliche Sammelpunkte für die Teilnehmer in Kentucky, Massachusetts, Pennsylvania und South Carolina diskutiert – sodass sie gruppenweise über Washington hereinfallen konnten –, und aktiv zu Gewalt aufgerufen hatten. Im Bericht wurde folgender inbrünstiger Online-Beitrag zitiert:
"Seid bereit zu kämpfen. Der Kongress muss hören, wie Glas zerbricht, wie Türen eingetreten werden und [sehen,] wie Blut seiner [Black-Lives-Matter-] und Antifanten- Sklavensoldaten vergossen wird. Werdet gewalttätig. Hört auf, das hier einen Marsch oder eine Kundgebung oder einen Protest zu nennen. Geht in Kriegsbereitschaft dorthin. Entweder wir bekommen unseren Präsidenten oder wir sterben. Durch NICHTS anderes lässt sich dieses Ziel erreichen."
In einem Bericht über das "Versagen bezüglich Sicherheit, Planung, und Reaktion" am 6. Januar kritisiert der Senat das FBI für die Weitergabe der Warnungen via E-Mail. Mit dieser Kommunikationsmethode könne "die Weitergabe entlang der Befehlskette nicht sichergestellt werden", und "eine Angelegenheit dieser Größenordnung" solle stattdessen durch "sofortige Telefonanrufe" weitergegeben werden.
Zudem wurden das FBI und das Homeland Security auch dafür verwarnt, keinen Aufklärungsdaten-Kurzbericht vor dem Protest veröffentlicht zu haben. (Intelligence Bulletins – hier ein Beispiel – pflegen in der Regel beide genannten Behörden unter anderem im Vorfeld von großen öffentlichen Veranstaltungen zu veröffentlichen.) Allerdings wurde dies der angeblichen Zurückhaltung der beiden Behörden zugeschrieben, nur auf potenziell müßiges Geschwätz gestützte Aufklärungsdaten zu sammeln – Geschwätz, das zudem als vom 1. Zusatzartikel zur Verfassung geschützte politische Äußerungen eingestuft werden könnte.
Sogar noch nachsichtiger wurde in dem Bericht die merkwürdige Verzögerung beim Entsenden der Nationalgarde betrachtet. Eine zeitlich geordnete Schilderung der Ereignisse, die das Verteidigungsministerium zwei Tage später veröffentlichte, legt nahe, dass die Bürgermeisterin Washingtons Muriel Bowser um 13:34 Uhr am 6. Januar, also knapp 40 Minuten, bevor die Randalierer zum ersten Mal zum Kapitol vordrangen, beim Sekretariat der US-Armee "eine nicht spezifizierte Anzahl zusätzlicher Kräfte" angefordert hatte. Aus unklaren Gründen dauerte es sage und schreibe anderthalb Stunden, bis das Pentagon zustimmte – und weitere 20 Minuten, bis Bowser die Bestätigung erhielt, dass ihrer Anforderung stattgegeben worden war.
Weitaus verwirrender war jedoch, dass die Nationalgarde erst um 17:02 am Ort des Geschehens eintraf: Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Situation im Grunde schon von selbst erledigt. Nichtsdestoweniger wird diese Abfolge von Ereignissen im Bericht zweifelhafterweise darauf zurückgeführt, dass Bowser keine "direkte Anfrage" für die Hilfe der Nationalgarde gestellt habe; dass der Leiter des Heeresamts Ryan McCarthy "den Ernst der Lage nicht erkannte", bis die TV-Nachrichtensender längst schon Videomaterial vom Geschehen im Kapitol auszustrahlen begannen; und dass "undurchsichtige" Entscheidungsprozeduren innerhalb des Präsidiums der Capitol Police die Bearbeitung der "Unterstützungsanfragen an die Nationalgarde verlangsamt haben".
Keinerlei Erwähnung dagegen findet im Bericht die Berichterstattung der Mainstream-Medien unmittelbar nach dem 6. Januar: Diese wiesen darauf hin, dass einige Capitol-Hill-Mitarbeiter von ihren Vorgesetzten ausdrücklich angewiesen worden waren, an diesem Tag wegen erhöhter Risiken nicht zur Arbeit zu erscheinen; oder dass die Capitol Police es versäumt hatte, Vorsichtsmaßnahmen wie Sperrzonen und gehärtete Barrieren einzusetzen, wie es üblicherweise bei Großveranstaltungen in dieser Gegend getan wird. Dies mag zumindest teilweise erklären, warum der buntscheckige Haufen so leicht Zugang zum Gebäude erlangt hatte und anschließend im Inneren auf so dürftigen Widerstand gestoßen war.
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Fast sechs Monate später scheint die Wahrheit darüber, was in den Tagen, Wochen und Monaten vor dem 6. Januar geschah und zu den Ereignissen an diesem Tag führte, nicht nähergerückt zu sein. Im Gegenteil, sie scheint unerreichbarer denn je – nicht zuletzt, weil so gut wie jeder neue Medienbericht und jede neue offizielle Stellungnahme zu diesem Fall Zweifel an der etablierten Erzählung aufkommen lässt.
Ganz klar jedoch scheint die Vorstellung, die Unruhen seien ausschließlich aus einem "Geheimdienstversagen" erwachsen, immer mehr an Glaubwürdigkeit zu verlieren. So stellen sich denn auch immer mehr Menschen die Frage, ob man mehr hätte tun können, um die Unruhen zu verhindern – und warum dies nicht getan wurde.
Übersetzt aus dem Englischen.
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Kit Klarenberg ist ein investigativer Journalist, der die Rolle von Geheimdiensten bei der Gestaltung von Politik und Wahrnehmung untersucht. Folgen Sie ihm auf Twitter @KitKlarenberg