von Seyed Alireza Mousavi
Die Bundesregierung hielt den Zeitpunkt für gekommen, viele Vertreter des Libyen-Konflikts wieder an einen Tisch zu bringen, um den Friedensprozess voranzubringen. Deutschland und die Vereinten Nationen brachten am Mittwoch Delegationen aus 16 Staaten auf der zweiten Konferenz in Berlin zusammen. Das Treffen folgte auf eine Konferenz im Januar 2020, auf der die Staats- und Regierungschefs sich darauf verständigt hatten, ein Waffenembargo zu respektieren und die Kriegsparteien des Landes zu einem Waffenstillstand zu drängen. Deutschland hatte dabei versucht, als Vermittler zu fungieren.
Die Fortsetzung der Berliner Libyen-Konferenz fiel allerdings eine Nummer kleiner aus, da an der zweiten Konferenz Außenminister und andere Diplomaten statt der Staatschefs teilnahmen.
Während auf der ersten Konferenz über den Stopp von Waffenlieferungen nach Libyen verhandelt worden war, standen bei der zweiten Konferenz der Abzug der ausländischen Truppen und die für den 24. Dezember angesetzten nationalen Wahlen im Vordergrund. Einigkeit bestand im Vorfeld darüber, dass das Datum nicht in Frage gestellt werden darf, um den in Gang gekommenen "Stabilisierungsprozess" nicht zu gefährden.
Obwohl der deutsche Außenminister Heiko Maas sich im Vorfeld nach den Entwicklungen in den letzten Monaten vorsichtig optimistisch gezeigt hatte, erklärte er auf der zweiten Konferenz, die Lage sei in Libyen tatsächlich "wesentlich" besser als zum Zeitpunkt der ersten Berliner Libyen-Konferenz. "Libyen ist ein positives Beispiel auf der internationalen Bühne dafür, dass wir noch in der Lage sind, dazu beizutragen, Konflikte einzudämmen und sie mit politischen Lösungen zu versehen", sagte Maas am Mittwoch.
Doch die relative Entschärfung des Konflikts in Libyen ist nicht der Einheitsregierung oder dem Berliner Libyen-Prozess zu verdanken, sondern laut vielen Libyen-Experten vielmehr der türkischen Intervention – einer militärischen Einmischung in klarem Widerspruch zur damaligen Berliner Erklärung über Libyen.
Die türkische Intervention in Libyen wurde vom türkischen Parlament am 2. Januar 2020 genehmigt. Die Entscheidung des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan konnte seinerzeit nicht überraschen, da die Türkei schon im Sommer 2019 Militärberater, Waffen und Kampfdrohnen geschickt hatte, um die damalige Einheitsregierung von Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch zu unterstützen. Dieser Schritt war damals insofern entscheidend, als die Türkei einen Sieg des Generals Chalifa Haftar verhindert konnte, des mächtigsten Mannes in Ostlibyen, der von seinen Hochburgen im Osten des Landes aus eine groß angelegte Offensive auf die Hauptstadt Tripolis gestartet hatte.
Die libysche Außenministerin Nadschla al-Mangusch erklärte auf der Presskonferenz am Mittwoch, es gebe "Fortschritte" in Bezug auf ausländische Söldner, "sodass hoffentlich in den kommenden Tagen noch mehr Söldner von beiden Seiten abgezogen werden", was mehr Vertrauen schaffen und zu weiteren Schritten führen würde. "Alle ausländischen Kräfte und Söldner müssen ohne Verzögerung aus Libyen abziehen", heißt es auch im Abschlussdokument der Konferenz.
Es gebe bereits erste Entwicklungen, was ausländische Söldner in Libyen angehe, sagte Maas auf der Pressekonferenz. "Es gibt auch zwischen der türkischen und russischen Seiten durchaus Einigkeit: Wenn man mit dem Abzug beginnt, wird es kein Abzug sein, bei dem all diejenigen, die sie bezahlen oder die sie dorthin geschickt haben, sofort wieder zurücknehmen werden, sondern es wird ein schrittweiser Prozess sein", betonte Maas. Es sei auch deshalb wichtig, dass der Abzug der Söldner im Gleichgewicht geschehe, da andernfalls zwangsläufig eine Situation entstünde, bei der eine Seite noch einmal ein militärisches Übergewicht hätte. Deshalb müsse dies im Gleichschritt geschehen.
Die Türkei behauptet, ihre militärische Präsenz sei legal und basiere auf einem Sicherheitsabkommen, das sie im November 2019 mit der ehemaligen Einheitsregierung unterzeichnet hatte. Der türkische Außenminister Mavlüt Çavuşoğlu sagte Anfang Mai auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit seiner Amtskollegin Mangusch in Libyen, dass sich die türkischen Streitkräfte im Rahmen eines mit der ehemaligen libyschen Einheitsregierung unterzeichneten Ausbildungsabkommens in dem nordafrikanischen Land befänden. Er prangerte einige Akteure an, die die türkische Präsenz in Libyen mit dem Einsatz ausländischer Kämpfer gleichsetzen wollten, die nur dort gewesen seien, um Geld zu verdienen. Insofern bleibt auf der zweiten Berliner Konferenz unklar, wie sich die Bundesregierung und die neue libysche Regierung zu dem Sicherheitsabkommen aus dem Jahr 2019 zwischen der damaligen Einheitsregierung und der Türkei positionieren.
Die bewaffnete Präsenz in Libyen müsse reduziert werden, und dieser Schritt solle auf wohlüberlegte Weise geschehen, sagte Russlands Vizeaußenminister Sergei Werschinin nach der zweiten Libyen-Konferenz vor den Medien, so die Nachrichtenagentur TASS. Der Chef des Generalstabes der Streitkräfte der Russischen Föderation Waleri Gerassimow erklärte diesbezüglich am Mittwoch auf der Moskauer Konferenz über internationale Sicherheit, die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus bleibe bestehen. Gleichzeitig bildeten die Handlungen des Westens, die darauf abzielten, "demokratische Veränderungen" durchzusetzen, oft einen Nährboden, um Terroristen zu fördern, fügte er hinzu.
Aus russischer Sicht führte das Vorgehen des Westens in Libyen im Jahr 2011 praktisch dazu, dass das Land seine staatliche Souveränität verlor und sich in eine Hochburg des Terrorismus und Extremismus verwandelte.
Russland spielt eine wichtige Rolle bei der Beilegung der inneren Konflikte in Libyen, da die westlichen Länder ihre Glaubwürdigkeit im Zuge des Sturzes Gaddafis in Libyen größtenteils verloren haben und die Angst vor der Stärkung der radikal-islamistischen Milizen des "Islamischen Staates" (IS) im von Krieg heimgesuchten Land zugenommen hat. Westliche Medien schenken in ihrer Berichterstattung jedoch dem Einsatz russischer Söldner der Firma Wagner auf der Seite von General Haftar besondere Aufmerksamkeit. Präsident Wladimir Putin erklärte Anfang 2020, wenn es in Libyen russische Staatsbürger gebe, verträten diese nicht die Interessen des russischen Staates und hätten auch kein Geld von der russischen Regierung erhalten.
Die EU-Partner Frankreich und Italien schlugen sich im Libyen-Konflikt auf verschiedene Seiten. Italien unterstützte die von der UNO anerkannte Regierung im Westen, Frankreich den faktisch im Nordosten herrschenden General Haftar. Es bleibt unklar, inwieweit diese beiden europäischen Staaten die Abschlusserklärung der Libyen-Konferenz über ihre jeweilige Interessen hinweg durchzusetzen versuchen.
Eine wichtige Herausforderung besteht darin, alle bewaffneten Gruppen in Libyen unter ein gemeinsames militärisches Kommando zu stellen. Dieses Thema stand offenbar nicht auf der Tagesordnung der Konferenz. Der politische Dialog innerhalb Libyens ist seit März vorangekommen. Die meisten der Regierungsinstitutionen im Osten und Westen des Landes sind unter der neuen Regierung vereint. Ausnahmen sind der Militär- und Sicherheitsapparat. Dabei gibt es Meinungsverschiedenheiten. Haftar hat als Oberkommandierender der "Libyschen Nationalarmee" keine Position innerhalb der neuen Übergangsregierung inne, obwohl er deren Bildung begrüßte und versprach, den Friedensprozess zu unterstützen. Seine Armee wird offenbar von der Regierung nicht anerkannt.
Insofern bleibt unklar, wie die Nationalarmee in die neue Regierung integriert werden soll. Die politische Dynamik in Richtung der Wahlen im Dezember kann aufrechterhalten werden, wenn Haftar und seine Unterstützer im Vorfeld in die Strukturen der neuen Einheitsregierung integriert werden. Denn das Misstrauen zwischen den Parteien des Bürgerkriegs im Osten und Westen des Landes ist weiterhin ungebrochen. Beide Seiten brauchen nach wie vor ihre ausländischen Schutzmächte, um sich gegen einen erneuten möglichen Angriff des Gegners zu wappnen.
Der libysche Präsidentenrat verbot vor Kurzem jede Militärbewegung im ganzen Land ohne seine Zustimmung, nachdem Truppen, die dem mächtigsten Mann in Ostlibyen Haftar loyal sind, die Kontrolle über einen Grenzübergang zu Algerien übernommen und ihn zur Militärzone erklärt hatten.
Bei den zweiten Libyen-Konferenz wurden der Abzug der ausländischen Söldner und die Unterstützung der geplanten Wahlen diskutiert, ohne auf eine wichtige Herausforderung einzugehen, nämlich die fortbestehende Spaltung zwischen dem Osten und dem Westen Libyens. Die libysche Außenministerin wiederholte auf der Pressekonferenz in Berlin praktisch nur das, was der deutsche Außenminister bereits in seiner Rede erwähnt hatte. Es ging dabei um abstrakte Konzepte wie Förderung von Demokratie und Menschenrechte, ohne die wirklichen Probleme im Land anzusprechen. Es handelte sich wie bei der ersten Konferenz um eine Show mit wenig Substanz und noch wohl weniger Wirkung.
Sklaven-, Drogen- und Waffenhandel florieren weiterhin in Libyen. Es scheint, in den nächsten Monaten wird eher eine Änderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Konfliktparteien die Zukunft Libyens bestimmen, als das, was auf der zweiten Berliner Libyen-Konferenz beschlossen wurde. Inzwischen steht deswegen in Frage, ob der Wahltermin eingehalten wird, was im Grunde die zentrale Aufgabe der Übergangsregierung ist. Die Regierung in Tripolis ist offenbar weit davon entfernt, sich ernsthaft mit der Vorbereitung der Wahlen zu befassen, und es herrschen unter internationalen Beobachtern Zweifel daran, dass Regierungschef Abdul Hamid Dbeiba wirklich daran gelegen ist, an einer schnellen Machtübergabe mitzuwirken.
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