von Dagmar Henn
Seit zwei Wochen müsste er schon Präsident Perus sein: der Lehrer Pedro Castillo. Die Wahlkommission sah ihn bereits als Sieger, mit 50,12 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang am 6. Juni, vor seiner Konkurrentin Keiko Fujimori mit 49,87 Prozent. Fujimori, die Tochter des inhaftierten ehemaligen Diktators Alberto Fujimori, bezichtigte jedoch Castillo des Wahlbetrugs und klagte – ohne Beweise vorzulegen – vor dem nationalen Wahlgericht auf die Annullierung von 200.000 Stimmen.
Am 13. Juni erschien ein Schreiben ehemaliger Militärs, nach dem "die Streitkräfte – in Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung – keinen obersten Befehlshaber akzeptieren können, der durch Betrug illegal eingesetzt wurde oder zumindest durch sehr ernste und offenkundige Unregelmäßigkeiten, wie sie beim letzten Wahlgang geschahen". Bei den Unterzeichnern dieses Schreibens kann man unter anderem einen ehemaligen Militärdiktator im stolzen Alter von 99 Jahren wiederfinden.
Im Regelfall stellt ein solches Schreiben die offene Drohung mit einem Militärputsch dar, und in allen ähnlichen Fällen der vergangenen Jahre wurde die Unterstützung der westlichen Kernländer für die Putschisten relativ schnell erkennbar. In Peru gestalten sich die Dinge derzeit allerdings komplizierter.
Keiko Fujimori könnte man schwerlich als Verteidigerin der Demokratie bewerben. Und das nicht allein, weil die Bilanz der Regierung ihres Vaters verheerend war, der wegen Korruption und massiver Menschenrechtsverstöße zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde und dem ein neues Verfahren unter anderem wegen der Zwangssterilisierung von 1.300 Peruanern bevorsteht. Auch Keiko Fujimori selbst befindet sich mitten in einem Korruptionsverfahren, das im Zusammenhang mit den Prozessen um "Lava Jato" (Operation "Autowäsche") in Brasilien steht. Sie soll von dem darin verwickelten brasilianischen Baukonzern Odebrecht für ihre Präsidentschaftskampagnen 2011 und 2016 etwa eine Million Euro erhalten haben. In dem Prozess drohen auch ihr bis zu 30 Jahre Haft. Zwei Mal, 2018 und 2019, wurde sie bereits in vorbeugende Haft genommen, weil Zeugen eingeschüchtert worden waren.
Sie behauptet auch nicht das erste Mal, um ihren Wahlsieg betrogen worden zu sein. So fasste es der peruanische Politologe Alberto Vergara in einem Interview mit der spanischen Zeitschrift El País zusammen: "In diesen zwanzig Jahren der Demokratie hat in Peru kein Parteichef Betrug reklamiert, nur Keiko Fujimori tat das zwei Mal. Eigenartig, oder? Vor fünf Jahren war es die gleiche Geschichte, und sie sind bereit, das Land in Brand zu stecken, um ihre Haut zu retten."
Keiko Fujimori verkauft ihr Rettungsmanöver (das natürlich auch den Vater aus dem Gefängnis holen soll) als weltgeschichtliche Schlacht. Sie twitterte: "Heute informierte ich die Welt über den erbitterten Kampf, den die Peruaner liefern, um nicht dem Kommunismus in die Hände zu fallen."
Die Demonstranten, die für Keiko Fujimori am vergangenen Wochenende auf die Straße gingen, beschreibt die kolumbianische Zeitschrift El Espectador so: "Von den Anhängern des spanischen Imperiums, die man zu Recht Ultrarechte nennen könnte, über die wohlhabende Oberschicht Limas bis zu Neonazigruppen wie die Acción Legionaria, die auf der Suche nach dem 'authentischen peruanischen Nationalismus' ist. Sie alle sind Teil jener, die auf den Straßen Limas die Annullierung von Stimmen forderten. Etwas, das die Eliten von Lima immer wollten: die Zahl der Wahlberechtigten verringern."
Pedro Castillo wiederum erhielt den Großteil seiner Stimmen abseits der Hauptstadt Lima. Sein Wahlprogramm beinhaltet unter anderem die Nationalisierung der Kupfer- und Goldvorkommen, der beiden Hauptrohstoffe, die Peru exportiert. Allerdings hat seine Partei Perú Libre (Freies Peru) keine Mehrheit im gleichzeitig gewählten Parlament, wird also auf Kompromisse angewiesen sein.
Schon während des Wahlkampfes versuchte Keiko Fujimori, Castillo und den Gründer von Perú Libre, Vladimir Cerrón, in die Nähe der früheren maoistischen Guerilla "Sendero Luminoso" (dt.: Leuchtender Pfad) zu rücken, allerdings weitgehend ohne Erfolg. Sie bezeichnete Castillo während ihres Wahlkampfes als "Autobombe", die die Entwicklung der letzten 30 Jahre "in tausend Stücke reißen" würde. Kurz vor dem zweiten Wahlgang gab es dann wirklich einen Anschlag mit einer Autobombe in einer ländlichen Region Perus mit 16 Todesopfern, der sofort dem "Sendero" zugeschrieben wurde und der Castillos Vorsprung schrumpfen ließ.
Es ist allerdings schwierig, Castillo eine Verbindung zum "Sendero Luminoso" anzuhängen. Er war jahrelang in den "Rondas Campesinas" aktiv, einer Art ländlicher Selbstschutz, der anstelle der weitgehend abwesenden Polizei Übergriffe nicht nur durch Viehdiebe, sondern eben auch durch den "Sendero Luminoso" verhinderte. Und die "Rondas Campesinas" genießen nach wie vor hohes Ansehen bei der peruanischen Landbevölkerung.
Die Trennung zwischen der wohlhabenden, eher europäischen Stadtbevölkerung an der Küste und der Landbevölkerung im weitläufigen Rest Perus ist extrem. Vergara bezeichnet das als zwei Länder, die einander nicht berühren, sich nicht sehen, keinen Austausch miteinander treiben und einander mit Furcht betrachten. Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte führte dazu, dass alles, was privatisiert werden konnte, in Peru privatisiert wurde, und in dieser Welt bewegt sich die wohlhabende Kaste der Hauptstadt. Die Bevölkerungsmehrheit erlebte zwar in den letzten beiden Jahrzehnten eine leichte Verbesserung ihrer Lebenslage, leidet aber jetzt unter dem von Corona ausgelösten Wirtschaftseinbruch, der rekordverdächtige 11 Prozent des BIP beträgt, und unter den Folgen der schlechten Gesundheitsversorgung, die dazu führte, dass Peru den Weltrekord in der Corona-Sterblichkeit hält.
Selbst wenn die politische Mobilisierung, die augenblicklich in Peru zu sehen ist, zwar breit, aber nicht tief ist (bei der vorletzten Präsidentschaftswahl stützte sich Fujimori noch auf die Landbevölkerung), ist eine Zuspitzung der Auseinandersetzung bei einer hälftigen Teilung meistens hochgefährlich. Das mag dazu geführt haben, dass die Vereinigung der Generäle und Admiräle Perus (ADOGEN) zwar versuchte, die Schreiber des Briefes vor Strafverfolgung in Schutz zu nehmen, aber gleichzeitig betonte, die bewaffnete Macht sei nicht politisch einzusetzen. Der peruanische Übergangspräsident Francisco Sagasti reagierte nun vor zwei Tagen sehr deutlich auf dieses Schreiben. Er beauftragte das Verteidigungsministerium damit, "die nötigen Untersuchungen durchzuführen, um mögliche gegen die Verfassung gerichtete Handlungen zu bestimmen und die Verantwortlichkeiten zu beweisen."
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat allerdings bereits erklärt, nach ihren Beobachtungen seien die Wahlen legitim und es gebe keine Anzeichen eines Betruges. Weder in den hiesigen noch in den US-amerikanischen Medien gibt es bisher Anzeichen dafür, dass Keiko Fujimori gegen Castillo gestützt werden solle. So ungewöhnlich das angesichts der Ereignisse der vergangenen Jahre in Lateinamerika ist, lassen sich nur zwei mögliche Erklärungen dafür finden. Entweder die Verbindung zwischen Castillo und Cerrón ist so lose, dass die üblichen Verdächtigen darauf hoffen, durch eine Kehrtwende des Präsidenten – wie in Ecuador mit Lenín Moreno – gegen das Wahlergebnis die Kontrolle zu behalten. Oder die Knappheit des Rohstoffs Kupfer, die sich abzeichnet, ist so bedrohlich, dass das Risiko eines Bürgerkriegs in Peru zu hoch ist, weil der den Kupferpreis in astronomische Höhen treiben würde.
Die wohlhabenden Bürger Limas jedoch, die für Fujimori demonstrieren, würden sich mit einer Erfüllung ihrer Wünsche ökonomisch selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Haupthandelspartner Perus ist sowohl bei den Exporten (29 Prozent) als auch bei den Importen (24 Prozent) mittlerweile längst die Volksrepublik China. Eine sehr auf die USA und damit fast zwangsläufig gegen China gerichtete Politik, wie sie von Keiko Fujimori zu erwarten ist, dürfte da große Schäden anrichten. Sollte das ein Teil ihrer Unterstützer noch begreifen, könnten sich auch völlig neue Entwicklungen in Peru ergeben.
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