von Mark Hadyniak
Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ist gelaufen. Das Ergebnis ist keineswegs spektakulär. Die CDU hat die Wahl haushoch gewonnen. Sie hat mit 37,1 Prozent der Stimmen fast doppelt so viele Prozentpunkte wie die dahinterliegende AfD mit 20,8 Prozent – von einem "Kopf-an-Kopf-Rennen" keine Spur. Im Gegenteil: im Vergleich zur Landtagswahl 2016 konnte die CDU sogar 7,3 Prozentpunkte dazugewinnen, die AfD hingegen hat 3,5 Prozentpunkte verloren.
Dahinter kommt der Rest: Die Linke verliert fast ein Drittel ihrer Stimmen und kommt nur noch auf 11 Prozent, die SPD stirbt langsam aus und kommt nur noch auf 8,4 Prozent – ein Verlust von 2,2 Prozent im Vergleich zu 2016. FDP (6,4 Prozent) und Grüne (5,9 Prozent) – Letztere laut ARD zu den Wahlgewinnern gehörend – nahmen gerade mal die Fünfprozenthürde und dürfen damit im Koalitions-Schacher mitmischen.
Nur wenige Tage vor der Wahl hatten die deutschen Medien noch ein Feuerwerk an Aufregung über das angekündigte "Kopf-an-Kopf-Rennen" zwischen CDU und AfD entfacht. Egal ob Berliner Zeitung, Redaktionsnetzwerk Deutschland, Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, Welt oder Zeit – alle hatten sie die gleiche Schlagzeile. Der Frankfurter Rundschau gefiel das Bild der sich berührenden Häupter so gut, dass sie gleich doppelt damit titelte. Der Spiegel textete zunächst "Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD", änderte seine Überschrift dann aber auf "CDU und AfD eng beieinander" – der Tenor blieb jedoch: Es sei "vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt kein klarer Favorit auszumachen".
Als Argumentationsgrundlage dienten den Medien mehrere Wahlumfragen im Vorfeld der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Besonders prominent in Szene gesetzt hatten sich dabei die Bild und das von dieser beauftragte Meinungsforschungsunternehmen INSA. Am 4. Juni, zwei Tage vor der Wahl, verkündeten diese, die CDU liege bei 27 Prozent, die AfD bei 26 Prozent. Die Bild titelte "Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD" und zitierte dazu INSA-Chef Hermann Binkert:
"Es bleibt beim Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Union und AfD, wobei die CDU […] die Nase aktuell vorn hat."
Die Nase der CDU muss wahrlich lang sein, sieht man sich die realen Wahlergebnisse an. Man könnte sagen, die Nase der CDU sei annähernd so lang wie die gesamte AfD bzw. wie SPD, Grüne und FDP zusammen.
Wie realitätsnah sind die Wahlumfragen?
Abgesehen von den abgedroschenen Redensarten stellen sich Fragen nach Repräsentativität und Realitätsnähe dieser und anderer Wahlumfragen. Die INSA-Umfragen entstellten plakativ die Realität – am 26. Mai sah sie sogar die AfD mit 26 Prozent vor der CDU mit 25 Prozent. Sie steht damit aber nicht allein. Die Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen lieferte im Auftrag des ZDF am 3. Juni ebenfalls ein Zerrbild. Demnach sollte die CDU bei 30 Prozent liegen und die AfD bei 23 Prozent. Immerhin schlussfolgerte das ZDF daraus: "CDU deutlich vor AfD". An der Realität ging diese Umfrage dennoch vorbei.
Das Problem mit der Realitätsferne von Wahlumfragen ist bekannt. Bereits nach der Bundestagswahl 2017 wurde das Thema intensiv in den Medien durchleuchtet. Das Licht war nicht stark genug.
Die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung befragte zum Beispiel den Politikwissenschaftler Thorsten Faas, der deutlich machte, Wahlumfragen lieferten "keine Garantie" für den realen Wahlausgang. Er zählt dabei die Methoden und Techniken der Umfragen auf, um eine "repräsentative" Zufallsstichprobe zu erhalten.
Zum einen stellt sich das Problem der Erhebung – Telefon- oder Internetbefragung? Wie bekommt man genügend Rückmeldungen? Schließt man damit nicht bestimmte Bevölkerungsgruppen aus, zum Beispiel Personen, die kein Telefon oder keinen Internetzugang haben oder keine Rückmeldung geben wollen? Faas spricht dabei von "verzerrenden Faktoren".
Im Kontext der Bundestagswahl 2017 brachte der Spiegel einen kritischen Beitrag zur Zuverlässigkeit von Umfragen heraus, geschrieben von den Statistikern Björn und Sören Christensen. Diese zählen neben der Erreichbarkeit und der geringen Anzahl der Teilnehmer – bei 1.000 bis 2.000 befragten Personen – den sogenannten Stichprobenfehler heraus. Dieser bestehe aus eine Schwankung zwischen 1,5 und 3 Prozent bei den Werten der Wahlumfrage, "weil man nie ganz sicher sein kann, dass eine deutschlandweite Erhebung mit 1.000 zufällig Befragten tatsächlich repräsentativ ist für die Gesamtbevölkerung". Bei der INSA-Umfrage vom 4. Juni wurden 1.132 Personen befragt, bei der Forschungsgruppe Wahlen vom 3. Juni 1.017 Personen.
Damit ließe sich aber noch keine Abweichung von zehn Prozent erklären wie im vorliegenden Fall. Ein Faktor dabei sind jedoch die Gewichtungen, die von den Meinungsforschungsinstituten vorgenommen werden, von den Christensens als "statistische Kniffe" umschrieben. Dabei wird die Bevölkerung nach wichtigen Merkmalen "wie Alter, Geschlecht und Region" eingeteilt und versucht, alle Schichten proportional zur Gesamtbevölkerung zu gewichten.
"Sind also zum Beispiel etwas zu wenige Männer in der Stichprobe, gewichtet man deren Antworten etwas höher, die Antworten der Frauen etwas geringer. Das derart erzeugte Ergebnis soll dann wieder repräsentativ sein."
Diese Gewichtungen sei ein Grund, warum "die Auswertung der gleichen Umfrageergebnisse bei unterschiedlichen Instituten zu ziemlich verschiedenen Ergebnissen führen".
Bei Internetumfragen – wie sie etwas auch von INSA durchgeführt werden – kommt hinzu, dass die Angaben der Teilnehmer in der Regel nicht überprüfbar sind, es sei denn, sie loggen sich über einen Account ein. Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, verwenden die Meinungsforschungsinstitute verschiedene Praktiken, etwa eine "Analyse von Antworten bei ähnlich gelagerten Umfragen".
"Anschließend werden die einzelnen Antworten – wie bei der traditionellen Meinungsforschung – anhand der bekannten Merkmale nachgewichtet. Im Grunde genommen versucht man hier also ebenfalls, die vorhandenen Informationen zusammenzuführen und mittels einer Korrektur in ein repräsentatives Bild zu überführen. Ob das Gewichten klappt oder nicht, hängt stark von der Kunst der Macher ab."
Die Auswirkungen von Umfragen auf das Wählerverhalten
Umfragen beeinflussen das Wählerverhalten. Der Politikwissenschaftler Faas argumentiert, dass etwa 70 Prozent der Bevölkerung im Vorfeld einer Wahl solche Umfrageergebnisse wahrnehmen. Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch eine Studie der Universität Hohenheim im Jahr 2017, die von der Frankfurter Rundschau (FR) dargestellt wurde. Sie spricht sogar von einem Anteil von 75 Prozent.
Die Frage ist, welchen Einfluss das auf das Wahlverhalten hat. Für Thorsten Faas steht fest, dass es Bevölkerungsteile gibt, "die versuchen, strategisch zu wählen". Diese "verfolgen bestimmte Koalitionsüberlegungen und greifen zu diesem Zweck auf Umfragen als Impuls- oder Signalgeber zurück". Daneben gibt es aber diverse sozial-psychologische Prozesse, die auf die Wahlentscheidung einwirken können.
Die Hohenheimer Studie analysiert zum einen den sogenannten "Mobilisierungseffekt", wodurch Wahlberechtigte durch die Umfragen überhaupt zum Wählen animiert werden könnten. Andererseits könne es auch sein, dass durch bestimmte Umfragen potenzielle Wähler von der Stimmabgabe abgehalten werden:
"Dieser könnte bei Anhängern des vermeintlichen Wahlverlierers als ein 'Defätismuseffekt', bei denen des Wahlsiegers als ein 'Lethargieeffekt' und bei den Unentschlossenen als ein 'Bequemlichkeitseffekt' bezeichnet werden."
Die Stimmabgabe selbst kann laut den Forschern um den Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider durch verschiedene Effekte beeinflusst werden: etwa durch den "Mitläufer"-Effekt, bei dem Wähler gerne auf der Siegerseite stehen wollen, oder durch den "Mitleidseffekt", wenn Wähler einer zurückliegenden Partei zur Seite stehen wollen. Darüber hinaus gebe es den sogenannten "Fallbeileffekt", der besagt, dass Wähler einer bevorzugten Partei nur dann die Stimme geben, wenn diese Chancen auf den Einzug ins Parlament habe – sprich bei einer Fünfprozenthürde über diese hinauskomme. Die FR resümiert:
"Eine Partei könnte somit etwa an der Fünfprozenthürde scheitern, da ihre potenziellen Wähler aufgrund von vorherigen Wahlumfragen annehmen, sie würde den Einzug in den Bundestag nicht schaffen."
Dieser Effekt kann mit dem taktischen Wählen korrelieren. Faas berichtet von einem Beispiel der Bundestagswahl 2013, bei dem die FDP laut einer Bild-Umfrage am Morgen des Wahlsonntags bei sechs Prozent liegen sollte, tatsächlich kam sie dann nur auf 4,8 Prozent der Stimmen. Der Politikwissenschaftler erklärt:
"Wir haben eine kleine experimentelle Studie gemacht, mit der wir zeigen konnten, dass die Annahme, dass die FDP schon in den Bundestag kommt, zu weniger Leihstimmen von Unions-Anhängern geführt hat. Bringt man das in Verbindung mit der Tatsache, dass es laut der Umfragen in den Tagen vor und auch am Tag der Bundestagswahl so aussah, dass die FDP mehr als fünf Prozent der Stimmen erhält, dann kann man etwas kühn formulieren, dass die Demoskopen durchaus ihren Beitrag zu dem Wahlergebnis geleistet haben, indem sie die Wählerschaft in dem Glauben gelassen haben, es würde für die FDP schon reichen."
Unabhängige Meinungsforschungsinstitute?
Man kann dabei nicht von zufälligen Begebenheiten ausgehen, wenn man analysiert, das die Meinungsforschungsinstitute selbst bestimmten politischen Parteien bzw. Richtungen nahestehen. Nach Angaben der FR steht etwa das das Institut Forsa der SPD nahe, die vom ZDF genutzte Forschungsgruppe Wahlen habe den Ruf, "CDU-nah zu sein".
Dem Meinungsforschungsinstitut INSA wurde in den vergangenen Jahren von zahlreichen Medienanbieter – so etwa dem Deutschlandfunk, dem Spiegel, der taz, der Zeit oder eben der FR – eine politische Nähe zur AfD nachgesagt. Kern der Argumentation ist dabei INSA-Chef Binkert. Dieser hatte in der Vergangenheit eine umfangreiche Korrespondenz mit der AfD gepflegt – unter anderem hatte er 2014 der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag vorgeschlagen, bei der Ausarbeitung von Redeentwürfen zu helfen. Außerdem gingen von dem Unternehmen INSA-Consulere mehrere Spenden auf ein Konto der AfD ein.
Binkert selbst war selbst laut dem Spiegel 30 Jahre Mitglied in der CDU. Unter dem Thrüringer Ministerpräsidenten Dieter Althaus war er einst Staatssekretär und Leiter der Landesvertretung in Berlin. Nach dem Abgang von Althaus zog sich auch Binkert aus der CDU zurück – nach eigenen Angaben, um als Meinungsforschen unabhängig zu sein. Im gleichen Jahr setzten die Kontakte von INSA zur AfD ein. Vollständig scheint sich Binkert aber nicht aus dem Umfeld der CDU entfernt zu haben. 2019 wurde bekannt, das er Mitglied der CDU-nahen Werteunion ist.
Laut der taz hoben sich die INSA-Umfragen bereits in der Vergangenheit von denen anderer Institute dadurch ab, dass sie die AfD deutlich höher einschätzten. Ein ähnlicher Fall scheint auch im Vorfeld der Landtagswahl Sachsen-Anhalt vorzuliegen. Aber hat das der AfD tatsächlich genutzt?
Cui bono? – Am Ende profitiert nur die CDU
Die beabsichtigten Ergebnisse müssen nicht mit den tatsächlichen Resultaten zusammenfallen. Gerade bei Wahlen sind immer diverse Akteure im Spiel, die versuchen, Einfluss zu nehmen. Es lohnt sich daher, auf die realen Ergebnisse zu schauen, um zu überlegen: Wem nützt es?
Das Wahlergebnis der CDU ist ein riesiger Erfolg: 37,1 Prozent und ein Zugewinn von 7,3 Prozentpunkten im Vergleich zu 2016. Die niedrigen Umfragewerte – sowohl bei INSA als auch bei der Forschungsgruppe Wahlen – und eine drohende Überholung durch die AfD könnten dazu beigetragen haben, dass Wähler motiviert wurden, die CDU zu wählen. Die AfD hingegen hat bei der Wahl im Vergleich zu 2016 3,5 Prozentpunkte verloren. Für sie scheint es eher nicht nützlich gewesen zu sein, dass ihr ein "Kopf-an-Kopf-Rennen" mit der CDU attestiert worden war.
Während die Verluste der Partei "Die Linke" ziemlich genau in den Umfragen beschrieben wurden, ebenso das Ergebnis der FDP, wurden SPD und Grüne sowohl bei INSA als auch bei der Forschungsgruppe Wahlen deutlich stärker dargestellt, als ihr tatsächliches Wahlergebnis ausfiel. Wurden damit Mitleidswähler abgehalten? Jedenfalls haben die Umfragen beiden Parteien nicht zu einem Wahlerfolg verholfen.
Betrachtet man den Ablauf des Wahlspektakels von den Resultaten her, muss man festhalten: Am Ende hat nur eine Partei profitiert – die CDU. Die Umfrageergebnisse der CDU-nahen Forschungsgruppe Wahlen und der INSA haben ihren Teil dazu beigetragen – beabsichtigt oder nicht –, dass letztlich nur ein Kopf das Rennen machte, der des CDU-Ministerpräsidenten Reiner Haseloff. Aber vielleicht ist es auch kein Zufall, dass von den 20 von der INSA angegebenen Referenzen neben Unternehmen wie AOK, Barmer, RWE und Woolworth dreimal Gliederungen der CDU auftauchen? SPD und FDP werden ebenfalls genannt, AfD, Grüne und Linke nicht.
Zum Schluss muss man noch bedenken: Die INSA erstellt ihre Wahlumfragen nicht aus eigenem Antrieb heraus. Ihr Auftraggeber ist die Bild. Der Auftraggeber der Forschungsgruppe Wahlen ist das ZDF.
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