Wanderwitz-Debatte: Nicht "diktatursozialisiert", sondern "demokratiesozialisiert"

Das muss man erst mal hinkriegen: Der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans widerspricht leidenschaftlich dem Ostbeauftragten Marco Wanderwitz. Eine Minute später stößt er ins gleiche Horn. Das Problem: Sie beklagen, was sie zu verantworten haben.

von Arthur Buchholz

Es war schon 'ne Nummer, die der Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz da kurz vor der Wahl in Sachsen-Anhalt gebracht hatte. Der sächsische CDU-Politiker hatte in einem Podcast der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt, dass ein "nicht unerheblicher Teil" der AfD-Wählerinnen und Wähler "für die Demokratie verloren" sei. Viele Ostdeutsche seien "diktatursozialisiert" und hätten der Demokratie unwiederbringlich den Rücken gekehrt.

Der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans, dazu im ntv-Frühstart befragt, war natürlich "entsetzt". Menschen, die 40 Jahre alt oder jünger sind, könnten nicht mehr diktatursozialisiert sein. 

Löbliche Worte. Aber was danach kam, hätte er sich schenken können: 

"Das habe ich im Wahlkampf in Sachsen-Anhalt mitbekommen, dass es schwer ist, Menschen für Politik zu begeistern." Und er legt nach: "Das ist schon ein Phänomen, das es im Osten Deutschlands natürlich gibt."

Also doch: Wanderwitz hat recht, Walter-Borjans sagt es nur etwas netter. Denn es ist ja auch wahr. Der Osten ist frustriert. Aber auf die Idee, dass die SPD und andere daran schuld sein könnten, kommt Walter-Borjans nicht. Im Gegenteil:

"Es ist schon so, dass immer noch nachwirkt, dass Menschen durch abrupte Veränderungen in ihren sozialen Verhältnissen und dann durch enttäuschte Erwartungen, was denn dann in der nächsten Zeit passierte, sich ein Stück von Blendern haben irritieren lassen, die ihnen ganz einfache Rezepte versprechen."

Natürlich meint Walter-Borjans damit die AfD, aber hatte Bundeskanzler Helmut Kohl nicht gesagt, es werde blühende Landschaften geben? Hatte Kohl damals nicht versprochen, es werde keinem schlechter, aber vielen besser gehen?

Es folgten die Flitterwochenjahre, dann die Krise der 2000er-Jahre und Hartz IV. Noch immer verdient man im Osten weniger als im Westen, besonders hart trifft es Metallarbeiter und Handwerker. Jetzt den Ossis zu sagen, sie seien auf Blender hereingefallen, klingt doch wie ein schlechter Witz.

Und dann sind die Leute in Sachsen-Anhalt laut Walter-Borjans auch selbst schuld, wenn es wirtschaftlich nicht bergauf geht: "Und das hat sehr viel zu tun mit Ansiedlung von Unternehmen, und da muss man auch noch mal sagen: Das wird nicht einfacher, wenn der Eindruck entsteht, dass da Kräfte am Werk sind wie die AfD, die das Land abschotten wollen, die eher geschlossen sind gegenüber Neuem und dem, was von draußen kommt, weil selbst in Sachsen-Anhalt und anderen Regionen Ostdeutschlands, gibt es einen richtigen Facharbeitermangel. Und das bedeutet, man muss auch Interesse haben, man muss auch Interesse haben, in die Region zu gehen." (Das auch im Westen AfD gewählt wird, ist Walter-Borjans wohl entfallen)

So stellt man eben jegliche Logik auf den Kopf. Denn seit der Wiedervereinigung wanderte mehr als ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung zwischen 18 und 30 Jahren ab, weil es keine Arbeit und keine Perspektive in den "blühenden Landschaften" gab. Der Westen gewann, der Osten verlor. Die Jungen suchten Arbeit. Es blieben die Alten zurück. Die Ärzte gingen, die Bahnstrecken wurden ausgedünnt, die Betriebe wurden unter der berüchtigten Treuhand liquidiert und die Arbeiter auf die Straße gesetzt. Die Westwirtschaft konnte sich über neue Kunden ohne nennenswerte Konkurrenz freuen. Bis auf das Sandmännchen und den Trabi wurden fast alle Aspekte des Lebens in der DDR verteufelt oder belächelt.

All dies geschah unter dem freundlichen Nicken der westdeutschen Politiker und Unternehmer, die sich in Spitzenpositionen der neuen Bundesländer breitgemacht haben. Der Ossi ist nicht diktatursozialisiert, sondern demokratiesozialisiert. Das sollten die Politiker mal bedenken.

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