Wie der Gazakonflikt die Bruchstellen der israelischen Gesellschaft offenbart

In der derzeit eskalierenden Auseinandersetzung mit Israel tritt die Hamas als Beschützerin der Araber auf. Dabei ist fraglich, ob Israel im Inneren einer größeren Gefahr ausgesetzt ist als bei der Konfrontation mit dem äußeren Feind im Gazastreifen.

von Seyed Alireza Mousavi

Es tobt seit Tagen ein blutiger Krieg zwischen der Hamas und der israelischen Armee. Israel reagiert dabei auf massives Raketenfeuer der Hamas auf Ziele in israelischen Städten mit dem umfangreichsten Bombardement des Gazastreifens seit dem Krieg im Sommer 2014. Die Lage nahm allerdings eine neue Wendung, nachdem die Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis in israelischen Städten zugenommen hatte. 

In mehreren gemischten Orten in Israel kam es in den letzten Tagen zu heftigen Ausschreitungen zwischen Arabern und Juden. Die israelische Regierung rechnete im Grunde nicht mit den schrecklichen Szenen von Lynchmorden auf ihrem eigenen Territorium. Dabei verläuft eine neue Front durchs Land, die grundsätzlich gefährlicher als die Auseinandersetzung mit der Hamas ist. Nun handelt sich beim israelisch-palästinensischen Konflikt nicht nur um Raketenangriffe von Gaza auf israelische Städte, sondern auch um Straßenkämpfe zwischen Juden und Arabern innerhalb Israels.

Israel macht seit Jahren Stimmung gegen das Atomprogramm der Islamischen Republik Iran und warnt die "Weltgemeinschaft" vor einer angeblich zunehmenden Bedrohung, die vom  Iran und dessen Verbündeten für das Land ausgeht. In einer groß angelegten westlichen Medienkampagne wird dem Aufschrei Israels gegen den Iran längst eine besondere Aufmerksamkeit bei der Berichterstattung geschenkt, indem Medien seit Jahren behaupten, dass der Iran in wenigen Wochen eine Atombombe produzieren könne.

Nun ist plötzlich mitten in der jüngsten Schlacht um Gaza ein neuer Aspekt der israelischen Gesellschaft sichtbar geworden, den viele westliche Medien ignoriert haben: Nahostexperten stellten in vergangenen Tagen die Frage, ob Israel im Inneren weit mehr Gefahr drohe als von der Konfrontation mit dem äußeren Feind. Denn diese neu sichtbar gewordene Front verläuft mitten durch Israel, wo die israelische Regierung zur Bewältigung der Krise nicht einfach Bomben einsetzen kann. "Wir müssen unsere Probleme lösen, ohne einen Bürgerkrieg auszulösen, der unsere Existenz gefährden kann, mehr als alle Gefahren, die uns von außen bedrohen", warnte vor Kurzem der israelische Präsident Reuven Rivlin. Offenbar ist "Israels Existenz" mehr durch innere Probleme gefährdet als durch die angebliche "iranische Atombombe".

Die arabische Minderheit macht etwa 20 Prozent der rund neun Millionen Einwohner Israels aus. In vielen Städten ist die Bevölkerung gemischt, die arabische Bevölkerung ist vielen Diskriminierungen ausgesetzt. Die Koexistenz von Juden und Arabern in Israel ist immer schon fragil gewesen. Staatsgründer David Ben-Gurion hatte den arabischen Bürgern 1948 zwar die gleichen Rechte wie den jüdischen Bürgern zugesichert, doch de facto leben die Araber in einer Parallelgesellschaft, teils abgekapselt von den staatlichen Institutionen, und sie haben praktisch keinen Zugang zur politischen Führungselite. 

In Israel gibt es allerdings auch arabische Parteien. Bereits in der ersten Knesset waren auch israelische Araber vertreten. Im Vorfeld zur Knesset-Wahl 2021 warben jüdische Parteien auch aktiv um die Stimmen der israelischen Araber. In der Vergangenheit und auch heute kam und kommt es jedoch immer wieder zu polizeilichen Ermittlungen gegen arabische Knesset-Abgeordnete wegen ihrer Besuche in Ländern, mit denen Israel sich im Kriegszustand befindet oder die das israelische Gesetz als "feindliche Länder" einstuft. 

Die Hamas tritt seit dem Gewaltausbruch in Jerusalem und dem Beginn einer neuen Runde im Konflikt mit den israelischen Streitkräfte als Beschützerin der Araber auf. Die Bewegung schafft derzeit eine enge Verbindung zwischen Gaza und Jerusalem. Damit verstärken sich nicht nur die Beziehungen zwischen den Palästinensern in den besetzten Gebieten und der Hamas, sondern auch zwischen arabischen Israelis und ihren arabischen "Schwestern und Brüdern" in Gaza.

Mit anderen Worten: Die Hamas ist nun in der Lage, wie sich gerade im Zuge des neuen Konflikts mit Israel erweist, die tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft als neues Druckmittel gegen die israelische Regierung einzusetzen. Noch schärfer formulierte der israelische Schriftsteller David Grossman in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die innere Krise in Israel:

"Über lange Jahre hinweg dachte ich, dass nur in den besetzten Gebieten eine Art Apartheid herrscht. Die Situation der Palästinenser dort ist so viel schlechter als das Leben irgendeines Bürgers in Israel. Inzwischen denke ich, dass diese wachsende Benachteiligung an den Grenzen Israels nicht haltmacht. Um die Maschinerie der Apartheid in den besetzten Gebieten am Laufen zu halten, muss sie aktiv aus dem Inneren Israels unterstützt werden.

Allmählich und vielleicht ohne dass dies im allgemeinen Bewusstsein wahrgenommen wird, entwickelt sich so etwas wie der Beginn von Apartheidskonzepten innerhalb Israels selbst, ein Drängen darauf, dass ein Teil der Bevölkerung alle Rechte hat und ein anderer, die arabische Bevölkerung innerhalb Israels, in seinen Lebensumständen mehr und mehr eingeschränkt wird."

Während derzeit Nachrichten die Runde machen, dass Israel eine Bodeninvasion im Gazastreifen in Aussicht gestellt hat, erkennt die israelische Regierung, dass die größte Bedrohung für das Land die Anarchie auf den Straßen der gemischten jüdisch-arabischen Städte ist. 

Die Palästinenser in den besetzten Gebieten und arabische Israels, die oft als "die Araber von 1948" bezeichnet werden, haben sich mit den Palästinensern in Gaza solidarisiert. Im Vorfeld dieses neu aufgeflammten Konflikts sagte Palästinas Präsident Mahmud Abbas im Alleingang die Parlamentswahl ab, um der Hamas die Möglichkeit zu nehmen, sich auf diesem Wege mehr Legitimität zu verschaffen. Denn die Hamas scheint nun für viele Palästinenser die einzige ernst zu nehmende Kraft aus ihren Reihen zu sein, die der völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik Israels die Stirn bieten könnte.

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