von Frank Furedi
"Woke" ist ein Begriff aus dem US-amerikanischen Kontext. Er bedeutet, dass Leute sich sozial und politisch bewusst sind, dass Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten existieren. "Woke" sein bezieht sich auch auf die individuelle Lebensführung: Wie man richtig spricht, richtig handelt. Das Wort "woke" leitet sich im Englischen von "to wake" (aufwachen) ab.
Es gab einmal eine Zeit, in der Kapitalisten nur daran interessiert waren, Geld zu verdienen. Jetzt haben große Unternehmen keine Bedenken mehr, gegenüber der Öffentlichkeit zu moralisieren. Die Einschränkung ihrer Macht sollte für jeden, der Wert auf Gedankenfreiheit legt, Priorität haben.
Wenn ein Kommentator, der für das amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes schreibt, die Leser darüber informiert, dass der aufgeweckte Kapitalismus gut für die Unternehmensgewinne ist, wird deutlich, dass der Kapitalismus sich einer massiven Korrektur seiner Eigendarstellung unterzogen hat.
In seinem Artikel "Eine marktwirtschaftliche Verteidigung von Coca-Cola, Delta und des 'Woke'-Kapitalismus" rät der Kolumnist John Tamny allen Konservativen, die es satthaben, sich von Big Business ins Gewissen reden zu lassen, sich zu entspannen, da es einen "guten, kapitalistischen Grund für Unternehmen gibt, die politische Karte zu spielen". Die Befürwortung des "aufgeweckten Kapitalismus" ist die neue Normalität in der Finanz- und Geschäftswelt. Es wird behauptet, dass "woke sein nützlich ist, um Veränderungen anzuschieben".
Andere argumentieren, dass die Akzeptanz "aufgeweckter Werte" Unternehmen ein nützliches Image und moralische Autorität verleiht. Als Starbucks 2018 beschloss, alle seine Geschäfte in den USA für einen landesweiten Schulungstag zur "Sensibilisierung für Rassismus im Alltag" zu schließen, indoktrinierte Starbucks nicht nur seine 175.000 Mitarbeiter, sondern entwickelte auch seine Marke hin zu "wokeness". "Woke" Kapitalisten beschränken ihre Aktivitäten jedoch nicht einfach auf die Imagepflege. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, ernsthafte politische Akteure zu werden, deren Ziel darin besteht, die Grundhaltung der Öffentlichkeit zu verändern.
Katherine Davidson, Portfoliomanagerin bei der Vermögensverwaltungsgesellschaft Schroders, begründet die Teilhabe des aufgeweckten Kapitalismus an Politik damit, dass man einfach auf die Wünsche der Öffentlichkeit reagiert. Sie argumentiert, dass "die Menschen zunehmend nach Unternehmen suchen, die uns nicht nur aus der Corona-Krise herauszuholen, sondern auch umfassendere gesellschaftliche Probleme angehen". Davidson übernimmt die widerliche und eigennützige Sprache der "wokeness" und erklärt, "dass dieses Verhalten, das wir als Unternehmenskarma bezeichnen, letztlich im besten Interesse der Stakeholder sein wird".
Anscheinend überflügeln Unternehmen, von denen angenommen wird, dass sie "das Richtige tun", in ihrer Rendite diejenigen, die nur ihrem Geschäft nachgehen. Und was genau bedeutet der kuschelige Begriff "Unternehmenskarma" eigentlich? Laut Davidson impliziert "die symbiotische Beziehung zwischen einem Unternehmen und seinen Stakeholdern den Begriff Unternehmenskarma, der einem sozial verantwortlichen Unternehmen helfen kann, langfristig zu gedeihen".
Aber es gibt nichts Kuscheliges im aufgeweckten Kapitalismus.
Die Firmenchefs von mehr als 120 US-Unternehmen versammelten sich am 10. April zu einem Zoom-Meeting, um eine offensive Kampagne zu diskutieren und zu organisieren, die sich gegen die von der Republikanischen Partei initiierten staatlichen Wahlgesetze richtet. Sie diskutierten über verschiedene Maßnahmen wie das Aussetzen von Parteispenden oder die Weigerung, Unternehmen oder Arbeitsplätze in Staaten zu verlagern, in denen diese Wahlgesetze eingeführt wurden. Mehrere der Redner stellten sich auf den Standpunkt, dass diese Intervention für die Zukunft der Demokratie von entscheidender Bedeutung sei.
Das Zoom-Meeting der kapitalistischen Oligarchen zwang viele ihrer Kollegen fast sofort zur Erklärung, dass auch sie "Unternehmenskarma" besäßen und bereit seien, sich ihrer Kampagne anzuschließen. Führungskräfte von mehr als 300 der mächtigsten Unternehmen, zusammen mit hochkarätigen Prominenten und Mitgliedern der Kultureliten, unterzeichneten eine Erklärung, die als ganzseitige Anzeige in der New York Times veröffentlicht wurde. Die üblichen Verdächtigen wie Amazon, BlackRock, Google und Warren Buffett waren unter den Unterzeichnern, die sich auf ein Engagement für soziale Gerechtigkeit eingeschworen hatten.
Kapitalistische Unternehmen konkurrieren bekanntlich um Marktanteile. Jetzt konkurrieren sie auch darum, die maximale Sichtbarkeit für ihre aufgeweckte Legitimation zu erreichen. Alles, was es brauchte, war eine PR-Kampagne des Sportartikelherstellers Nike, mit der man auf die Proteste nach dem Mord an George Floyd zuging und in einem Tweet ein kurzes Video mit weißen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund veröffentlichte: "Lasst uns alle Teil des Wandels sein." Worauf sich zahlreiche andere Marken zusammenschlossen, um die gleiche Botschaft zu verkünden. Ein zynischer Kommentator bemerkte: "Plötzlich waren unsere sozialen Medien schwarz und weiß und mit einem Markenlogo versehen."
"Aufgewachte" Unternehmen versuchen auch, sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, indem sie ihre eigene Nische im Markt der aufgeweckten Selbstdarstellung entwickeln und monopolisieren. Gillettes Kampagne gegen "toxische Männlichkeit" ist in dieser Hinsicht paradigmatisch.
Dies gilt das auch für die radikale Forderung des Herstellers von Speiseeis Ben & Jerry's, in der ein Entzug der Finanzierung des Polizeiwesens gefordert wird. Wenn Ben & Jerry's erklärt, dass das "[Polizei]-System nicht reformiert werden kann" und dass es "abgebaut und ein echtes System der öffentlichen Sicherheit von Grund auf neu aufgebaut werden muss", wird deutlich, dass das Unternehmen entschieden hat, dass seine Mission nicht nur der Verkauf von Speiseeis ist, sondern auch, die Gesellschaft nach seiner Vorstellung zu verändern.
Selbst in den besten Zeiten war Big Business kein Freund der Demokratie. Die Kapitalistenklasse hielt sich jedoch an die Arbeitsteilung zwischen sich und der politischen Klasse. Kapitalisten waren im Geschäft, um Geld zu verdienen, und nicht, um zu moralisieren, wie sich die Öffentlichkeit zu verhalten und wie sie zu denken hat. Jetzt sind sie in das politische Leben eingedrungen und bestehen darauf, dass sich ihre Ansichten und nicht jene des Volkes und der von ihnen gewählten Politiker durchsetzen.
Dass der aufgeweckte Kapitalismus eine Bedrohung für die Demokratie darstellt, wird jedes Mal hervorgehoben, wenn Facebook und Twitter die Ansichten einer öffentlichen Person zensieren, die sie nicht mögen. Dass der aufgeweckte Kapitalismus eine Gefahr für das öffentliche Leben darstellt, zeigt sich, wenn Amazon beschließt, sozialkonservative Bücher zu verbieten.
Die politische Macht dieser scheinheiligen autoritären Unternehmen einzudämmen, ist eine der wichtigsten Herausforderungen für diejenigen unter uns, die sich für die Sache der Demokratie einsetzen.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Frank Furedi ist Autor und sozialer Kommentator. Er ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität of Kent in Canterbury. Folgen Sie ihm auf Twitter: @Furedibyte
Mehr zum Thema - Oligarchie in den USA – Fäulnis lässt sich nicht übertünchen