Ein Kommentar von Stephan Fein
Joe Biden ist 78 Jahre alt und unterschreibt ein Achtjahresprogramm. Das klingt, als würde man einem fast Achtzigjährigen eine Lebensversicherung verkaufen. Ablauf ungewiss. Man möchte ja niemandem etwas Böses. Doch Ambitionen sind eines, deren Umsetzung etwas anderes. Doch lassen wir ihm seine Visionen. Ex-Kanzler Helmut Schmidt sagte einmal: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Vielleicht war Biden da schon.
Es wird schon einen Grund haben, warum sich in der Vergangenheit nie einer an die Reaktivierung der berüchtigten Infrastrukturschwäche der USA gewagt hatte. Nicht einmal der Gewaltbekämpfer Rudi Giuliani hatte als New Yorker Bürgermeister seine Schlaglöcher im Griff. Und die sehen uns heute, nach mehr als 30 Jahren, noch genauso an. Also braucht es für die kaputte US-Infrastruktur wirklich einen Visionär.
Biden wäre nicht der erste, der sein eigentliches Lebenswerk nicht mehr erlebt. Großprojekte in den USA haben ihre Erfinder oft überdauert, wie zum Beispiel die Union-Pacific-Eisenbahnverbindung von der Ost- zur Westküste oder der Bau des Hoover-Damms.
Dabei muss Biden im bildlichen Sinne jetzt das aufgreifen, was die industriellen Gründerväter nahezu unberührt hinterließen: uralte Eisenbahnschwellen. Ganze Generationen sind ab den 1940ern lieber geflogen und haben die Eisenbahnschwellen einfach liegen lassen. Dafür wurden pragmatisch Flugplätze aus dem Boden gestanzt und für die Trucks Highways gebaut. Ist in den USA was kaputt, baut man einfach neuer und schöner, nach dem Prinzip: Fixer Upper. Nagelpistole und Sprayer raus, und los geht's.
US-Pragmatismus ist zwar gerade das, was uns in Deutschland bei der Pandemiebekämpfung gut anstehen würde. Doch zu viel der Ambition führt auch nicht unbedingt zum Ziel. Vor allem sollte Biden erst einmal in der eigenen Partei für Zustimmung für seine Steuerpläne sorgen. Das wird nicht einfach sein angesichts der drohenden Unternehmensbesteuerung. Im Senat braucht das Gesetz 60 Ja-Stimmen, die Demokraten haben aber nur 50 Sitze. Mindestens zehn Republikaner braucht er also noch und keinen, der in der eigenen Partei kneift.
Die meisten, die mit ihren kleinen Farmen auf dem Land leben und republikanisch wählten, wollen ihm den Gefallen aber nicht tun. Die fahren alte Autos, haben einen demnächst um ein Drittel höher versteuerten Betrieb und ärgern sich über die "großkopferten Städter", wann auch immer diese hochnäsig in ihren ausländischen Coupés durch den Mittelwesten gleiten und die urigen Cowboys belächeln. Man sagte, Trump habe die USA gespalten. Was Biden jetzt vorhat, spaltet die Land- und die Stadtbevölkerung. Die einen zahlen für die anderen und haben nur wenig davon. Sozialwohnungen, Brücken, Autobahnen, Stromversorgung, Straßen und die Umwelt retten ist für einen fast Achtzigjährigen wirklich ein ganz schön dickes Paket.
Für einen Kilometer Autobahn brauchen wir in Deutschland von der Planung bis zur Fertigstellung knapp 20 Jahre. Biden gibt sich für die US-Infrastruktur acht Jahre. Entweder rechnet der Visionär mit seiner Wiederwahl, oder er gönnt dem dann möglicherweise wieder kandidierenden Donald Trump in dessen zweiter Amtszeit die Früchte seines America-First-Konzeptes.
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