Hat der Westen Russland verloren? Jugend beim Abbau der "europäischen" Identität im Land führend

Die Russen haben erkannt, dass das "Europa", in das sie sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ernsthaft zu integrieren versuchten, nicht mehr existiert. Die endgültige "Scheidung" zwischen Moskau und dem Rest des Kontinents muss sorgfältig gemanagt werden.

ein Kommentar von Glenn Diesen

Eine ganze Zeit lang war die Vorhersage üblich, dass Russlands postsowjetische Generation eine engere Bindung an den Westen verspüre und eine gemeinsame Identität mit Europa annehmen und anstrebe. Der Westen brauche nur das Ende der Regierungszeit Wladimir Putins abzuwarten, und die Anziehungskraft der europäischen Identität werde letztlich zu einem gefügigeren Russland führen. Heutige Umfragen zeigen jedoch, dass die Russen die europäische Identität ihres Landes schnell abstreifen – und junge Leute führen diesen Trend an.

Ein Generationswechsel hin zu einem weniger europäischen Russland

Eine aktuelle Umfrage des Lewada-Zentrums, einem liberalen Institut für Meinungsforschung, das von Moskau als "ausländischer Agent" gekennzeichnet wurde, ergab: Nur 29 Prozent der Russen betrachten Russland als europäisches Land – und das bedeutet einen drastischen Rückgang verglichen mit den 52 Prozent im Jahr 2008. Ein Generationswechsel ist im Gange, da gerade jüngere Russen die Idee einer europäischen Identität für ihr Land am stärksten ablehnen. Von den 18- bis 24-jährigen Befragten, sehen nur 23 Prozent Russland als europäisches Land.

Frühere Umfragen von Lewada und der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen auch, dass junge Russen, obwohl sie nicht während des Kalten Krieges aufgewachsen sind, dennoch der NATO mehr Misstrauen als jeder anderen internationalen Organisation entgegenbringen. Junge Russen sind zwar gegenüber ihrer eigenen Regierung kritischer eingestellt – doch die Annahme, dass sie ihr Land nach dem Vorbild Europas umgestalten wollen, scheint fehlerhaft zu sein.

Eine lange und gescheiterte Rückkehr nach Europa

Als die Kiewer Rus zerfallen war und die Mongolen im 13. Jahrhundert eingefallen waren, war Russland für die nächsten 250 Jahre von der europäischen Landkarte verschwunden. Nach einem mühsamen Wiederauf- und Zusammenbauprozess behauptete sich Russland erst im frühen 18. Jahrhundert unter Peter dem Großen als europäische Macht. Sankt Petersburg wurde ausdrücklich mit der Absicht als neue Hauptstadt gebaut, um als "Fenster nach Europa" zu fungieren. Russland wurde nach europäischen Standards modernisiert, und eine Kulturrevolution wurde eingeleitet, in deren Verlauf das Alphabet, die Kleiderordnung, die Kultur und die Bräuche europäischer gestaltet wurden.

Russlands Bestrebungen, nach Europa zurückzukehren, gipfelten jedoch nie in einer politischen Eingliederung in den Kontinent. Allerdings wurde das Land seinerseits kulturell ungewöhnlich einflussreich – vor allem in der Literatur und der darstellenden Kunst.

Doch während (und weil) Russland also die Fußstapfen anderer Europäer beschritt, war es außerstande, seinen eigenen, organischen Weg der Entwicklung herauszuarbeiten. Im 19. Jahrhundert argumentierte der Schriftsteller Fjodor Dostojewski:

"Die Russen sind zum selben Grade Asiaten wie Europäer. Der Fehler unserer Politik die letzten zwei Jahrhunderte hindurch bestanden darin, die Völker Europas glauben zu machen, dass [auch] wir wahre Europäer sind. Wir dienten Europa zu gut, wir nahmen an seinen Familienstreitigkeiten zu oft und zu stark teil. [...] Wir haben uns wie Sklaven vor den Europäern verneigt – und lediglich ihren Hass und ihre Verachtung haben wir verdient. Es ist an der Zeit, sich vom undankbaren Europa abzuwenden. Unsere Zukunft liegt in Asien."

Diese Gefühle kamen in den 1990er-Jahren wieder auf – als offensichtlich wurde, dass Russland nicht in das neue politische Europa aufgenommen werden würde und stattdessen der arrogante Westen erwartete, dass Moskau sich Institutionen unterwirft, die ihm keine Mitgliedschaft anboten: Von allen großen ehemals sozialistischen Staaten wurde einzigartigerweise nur von Russland verlangt, den westlichen Regeln zu folgen – ohne dass jedoch eine westliche Integration auch nur angeboten wurde. Diese Formel war eindeutig funktionsuntüchtig – und blieb auch wirkungslos.

Nur drei Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im Jahr 1994, argumentierte sogar Andrei Kosyrew, Jelzins durch und durch prowestlicher und liberaler Außenminister, dass Russland dazu verdammt sein könnte, wieder seinen eigenen Weg zu gehen – denn

"einige Leute im Westen erlagen der Fantasie, man könne mit Russland eine Partnerschaft nach dem Prinzip aufbauen: 'Wenn die Russen jetzt gute Jungs sind, sollten sie uns in jeder Hinsicht folgen.'"

Die NATO widmete sich nach dem Kalten Krieg ihrer expansionistischen Mission, Europa "vereint und frei" zu machen. Dafür versuchte das Bündnis, jedes Land auf dem europäischen Kontinent zu integrieren – außer Russland. Die Europäische Union begann ihrerseits mit der schrittweisen Monopolisierung des Konzepts Europa selbst, und Russland wurde bald mehr oder weniger zum einzigen "nichteuropäischen" Land in Europa, obwohl es der größte Staat des Kontinents ist und irgendwas zwischen 14 Prozent und 18 Prozent seiner Bevölkerung beheimatet, je nachdem, wie man es misst.

Europa, quo vadis?

Europa hat nunmehr viel von seiner Anziehungskraft auf Russland verloren. Im Laufe der Geschichte veranlasste die Notwendigkeit, seine Wirtschaft zu modernisieren, Russland zum Blick nach Europa – und dazu, sich eine europäische Identität zuzulegen. Doch nun arbeitet Moskau unermüdlich daran, seine Wirtschaft mit Blick gen Osten zu reorganisieren, und die wirtschaftliche Macht Europas in der Welt nimmt, relativ gemessen, stetig ab. Aus der Sicht der neuen Generation von Russen hat (und hatte) der Westen außer Wirtschaftssanktionen und moralisierendem Gehabe nicht viel im Angebot.

Außerdem ist Russland weniger daran interessiert, seine Gesellschaft nach europäischem Vorbild zu gestalten. Die marxistische Erfahrung wirkte sich auf die konservativen Werte in Russland verheerend aus, und Europa wartete mit einer gesunden Alternative auf. Zuvor versuchten die frühen Bolschewiki in ihrem Bemühen, einen von seiner eigenen Vergangenheit befreiten "kommunistischen Menschen" zu schaffen, die Nation, die orthodoxe Kirche, die Familie und andere unverzichtbare gesellschaftliche Institutionen zu demontieren – um letztlich den Kapitalismus abzuschaffen und die Umsetzung eines marxistischen Konzepts der menschlichen Freiheit voranzutreiben. Nach dem Ende des sowjetischen Experiments war Europa scheinbar ein Modell, dem man nacheifern konnte – wenn es darum ging, ein Gleichgewicht zwischen konservativen gesellschaftlichen Institutionen und liberalen Werten zu finden.

Doch das Europa, dem Russland nachzueifern versuchte, existiert nicht mehr – und das heutige ist kein für Russland attraktives Modell mehr. Auch ähnelt der Versuch, den von seiner Vergangenheit befreiten "westlichen Menschen" zu schaffen, dem fehlgeleiteten Experiment des "kommunistischen Menschen". Russlands Präsident Wladimir Putin beobachtet:

"Wir sehen, dass viele euroatlantische Staaten faktisch den Weg der Verleugnung oder Ablehnung ihrer eigenen Wurzeln eingeschlagen haben, einschließlich ihrer christlichen Wurzeln – die die Grundlage der westlichen Zivilisation bilden. Es werden die moralische Basis und jegliche traditionelle Identität geleugnet – nationale, religiöse, kulturelle und sogar geschlechtliche Identitäten werden geleugnet oder relativiert."

Umfragen zeigen auch, dass sich die Russen auf der Suche nach Stabilität an traditionelle Institutionen wie Familie und Kirche wenden. Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass die Russen zunehmend eine mit der orthodoxen Kirche verbundene Identität annehmen – und auch hier ist es wieder einmal die Jugend, die den Weg weist.

Neuer Versuch: Eurasisches Russland befasst sich nun mit Europa

Ausgerechnet der Generationswechsel weg von einer europäisch-russischen Identität stellt eine Chance dar, die Beziehungen zwischen Europa und Russland zu verbessern. Die europäische Identität der Russen vermittelte dem Westen die unberechtigte Erwartung, dass sich Russland als ewiger Anwärter in die Welt des Westens weiterhin an die Regeln von Institutionen halten würde, in denen Moskau eine eigene Vertretung verweigert worden war. In Russland war diese europäische Identität eine Quelle tiefer Ressentiments – eben weil das Land dauerhaft ausgeschlossen wurde.

Russlands Abkehr von einer europäischen Identität stellt eine Scheidung im Guten dar. Russland wird sich nicht mehr gezwungen fühlen, sich dafür zu rechtfertigen, dass es sich nicht an europäische Normen hält. Auch wird weniger wahrscheinlich, dass Bemühungen des Westens, ein Europa ohne Russland zu konzeptualisieren, historisch bedingten Groll und Ressentiments schüren. Ein Russland, das die schlechte Ehe mit Europa aufgibt, dürfte und sollte sich stattdessen des Aufbaus einer guten Nachbarschaftsbeziehung annehmen.

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Übersetzt aus dem EnglischenGlenn Diesen ist Professor an der Universität von Südostnorwegen und Redakteur bei der Zeitschrift Russia in Global Affairs. Auf Twitter unter @glenndiesen vertreten.