von Wladislaw Sankin
Am Samstag drangen etwa eintausend Protestierende in das Regierungsviertel der ukrainischen Hauptstadt ein und haben den Sitz des Präsidenten umzingelt. Sie verschossen Feuerwerkskörper, warfen Brandsätze und Rauchbomben. Einige von ihnen versuchten erfolgreich, in das Gebäude einzudringen. Fensterscheiben wurden zertrümmert und die Wände mit Parolen beschmiert. Mehrere "Aktivisten" zündeten am Portal die Embleme mit dem Wappen und der Inschrift "Präsident der Ukraine" an. Die Eindringlinge waren sogar auf den Dächern des Gebäudes zu sehen, wo sie dann die Brandsätze legten. Aber es gab keinen massiven Polizeieinsatz, der den Angriff auf den Präsidentensitz hätte verhindern können, und niemand wurde festgenommen.
Am darauffolgenden Montag berechnete lediglich das Amt des Präsidenten den Schaden auf ca. 2 Millionen Griwna (ca. 72 Tausend Euro), vernagelte die demolierten Türen mit Spanplatten und überstrich wenigstens Nazi-Symbole wie Swastika an der Fassade. Doch es begann keine umfassende Reparatur, Passanten konnten seelenruhig weiterhin ungehindert Bilder vom demolierten Sitz des Präsidenten machen.
Auch eine offizielle politische Reaktion vonseiten der Regierung blieb aus. Der Twitter-Account des Präsidenten schwieg zu dem Vorfall. Am Montag meldete sich Wladimir Selenskij nur, um über sein Treffen mit der Chefin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) Odile Renaud zu berichten. "Wir hatten ein konstruktives und herzliches Treffen. Die Bank ist der größte Investor in der Ukraine. Wir freuen uns, an der Reform des Landes zu arbeiten, um den Energieeffizienzsektor und das Investorenklima des Landes zu verbessern", postete der Präsident, der strahlend mit der Bankchefin auf den Fotos posierte.
Und auch die US- oder EU-Botschaft schwiegen zu dem Angriff, anders als seinerzeit mit den entsprechenden Stellungnahmen nach dem "Sturm auf das Kapitol" in Washington, D.C. oder zur "Erstürmung des Reichstages" in Berlin. Insbesondere ist die US-Vertretung ständig um alles Mögliche in der Ukraine "besorgt". Wäre derartige Randale nicht der eigentliche Anlass, sich um die "ukrainische Demokratie" Sorgen zu machen und die offenbar rechtsgerichteten Verantwortlichen scharf zu verurteilen?
Der Angriff auf den Präsidentensitz in einem großen europäischen Land war aber auch für große Nachrichtenagenturen wie Reuters oder dpa kaum eine Notiz wert. Die westlichen Medien ignorierten dieses jüngste Ereignis vollends. Warum? Man könnte vielleicht denken, um den Russen keinen Gefallen zu tun. Denn schließlich schreibt das Handelsblatt in einem seiner jüngsten Artikel missbilligend: "Russische Staatsmedien stellen das Nachbarland als politisch und ökonomisch gescheiterten Staat dar."
Und auch der bekannte ukrainische Politikwissenschaftler Konstantin Bondarenko gibt auf Facebook zu: "Dadurch ist ein wunderbares, hochwertiges 'Bild' für die russischen Medien entstanden."
Nein, ganz anders: Sie ignorieren solche und ähnliche Ereignisse, von denen es in der Ukraine viele gibt, nicht deshalb, weil sie das russische Narrativ, wonach die Ukraine angeblich ein gescheiterter Staat sei, mit ihrer Berichterstattung nicht unterstützen wollen.
Vielmehr könnte man aber auch denken, die Politiker und Medien im Westen fürchten sich oder flüchten gar damit vor der Wahrheit. Denn spätestens nach der zur Schau gestellten Schändung der Staatssymbole in Kiew könnte man sich die Frage stellen: Stellt eine Nichtvereitelung dieses Angriffs auf den Sitz des Präsidenten und das Fehlen jeglicher angemessener Reaktion darauf vonseiten der Staatsmacht nicht etwa tatsächlich ein Anzeichen für die Zersetzung der ukrainischen Staatlichkeit dar?
"Wenn die erste Person des Staates sich selbst nicht schützen kann, dann kann er auch niemanden sonst schützen (…) Die verschmierte Fassade des Präsidentenamtes ist der Grabstein der ukrainischen Staatlichkeit. Nicht mehr und nicht weniger". Das schreibt kein russischer Journalist, sondern ein ukrainischer Rechtsanwalt darüber. Viele äußern sich in der Ukraine auf den noch nicht von der Zensur betroffenen Internetplattformen an diesen Tagen so oder ähnlich.
Nein, die USA, die EU und deren Mainstreammedien schweigen aus einem ganz anderen Grund. Es gibt für sie einfach gar nichts Verwunderliches oder Beunruhigendes an diesem Ereignis, denn sie brauchen in der Ukraine eigentlich nicht das Etikett, das durch diesen Angriff "bedroht" werden könnte, nämlich einen funktionierenden Staat samt Staatsmacht. Schließlich würde sich ein Staat irgendwann vornehmlich um die eigenen und nicht um deren fremde Interessen kümmern. Auch hier lüftet uns wieder das Handelsblatt ein "kleines" Geheimnis, denn es schreibt mit bestechender Offenheit, worum es dem Westen in der Ukraine eigentlich geht:
"Auch die (von der Internationalen Währungsfonds) geforderten Privatisierungen sollen nun weitergehen. Die Ukraine hat noch 3.600 Staatsbetriebe – diese sollen auf 300 reduziert werden."
Laut dem ukrainischen "Abwickler" dieser Privatisierungen vom Fonds für Staatseigentum solle dieser Ausverkauf "endlich transparent sein, wo früher vieles an Oligarchen ging". Damit dieses "Viele" dann nicht etwa an Ukrainer, sondern an ausländische Investoren geht, sind internationale Unternehmensberatungen und westliche Kanzleien beauftragt und naturgemäß eifrig bei der Sache.
Vor diesem Hintergrund ist nun klar, warum der ukrainische Präsident Selenskij beim Treffen mit der europäischen Großinvestorin bei deren erstem Besuch im Lande so strahlte, während die Staatssymbole an der Fassade seines Amtssitzes noch vom Ruß bedeckt waren. Denn er war an diesem Tag vielmehr als "Abwickler für erfolgreiche Privatisierung zugunsten westlicher Interessenten" tätig und viel weniger als "Präsident (s)eines Staates".
Er strahlte auch deshalb, weil im angeblich wichtigsten ukrainischen Anliegen, nämlich in der Konfrontation mit Russland – und hier reden wir wieder mit der Stimme vom Handelsblatt –, er zusätzlich die Stütze von der mächtigen deutschen Wirtschaft bekommt, denn die Deutschen wollen "zu dem wirtschaftlichen Erfolg seines Landes" mit verstärktem Zufluss deutscher Investitionen beitragen. Die Investitionen in die Ukraine hat ja auch die deutsche Bundeskanzlerin neulich zu ihrer Chefsache erklärt. Dass dies eine Art Abstandszahlung an die USA wegen Nord Stream 2 sein solle, ist zwar sehr interessant, aber dies ist eine ganz andere unrühmliche Geschichte.
Damit diese ganze Abwicklung eines fremden Landes funktioniert, muss ein Staat "Ukraine" nicht wirklich existieren – wie gesagt, er könnte dabei sogar stören. Nach dem verfassungswidrigen Staatstreich im Winter 2014 haben die Organe des sich immer mehr auflösenden Staates – wie etwa auch die Werchowna Rada – bereits vieles bewirkt, was Interessenten aus dem Ausland sehr zufriedenstellen könnte. Sie haben zum Beispiel 2020 endlich den Verkauf von wertvollem Agrarland an Ausländer ermöglicht. Sie haben die Wasserversorgung der Krim gekappt, so dass die Tagesschau diesen mittelalterlichen Akt der Kriegsführung durch Belagerung erst nach sieben Jahren endlich merkt, lediglich um frohlockend zu prophezeien: "Abgeschnitten von der Ukraine scheint die Krim kaum überlebensfähig zu sein."
Sie haben dafür gesorgt, dass die ukrainischen Nationalisten das Militär und Sicherheitsorgane derart unterwanderten, dass sie gemeinsam mit den Nationalisten von der Straße ("Aktivisten") einerseits dafür sorgen, die Bevölkerung bei der Stange zu halten oder zumindest jeglichen Protest gegen antirussische "Ukrainisierung" und nationalistischen Kurs durch Angst zu unterbinden. Andererseits sorgen sie über ihre Einflusshebel für ständige Spannung gegenüber Russland und für den Hass auf die "Separatisten" im eigenen Land, ohne dass die Ukraine sich dabei in eine offene nationalistische Militärdiktatur verwandeln muss und stattdessen eine angeblich "demokratische" Fassade wahrt.
Ein Konglomerat aus diesen Kräften, mit bereitwilliger Unterstützung durch NATO-Berater und Mitarbeiter dutzender westlicher Fonds, Wirtschaftsakteure und deren Lobbyisten, kann das Land auch weiterhin unter dem Deckmantel der "Ukraine" als Staat regieren. Deswegen kann die Frage nach dem "gescheiterten Staat", die in der Schlagzeile dieses Artikels gestellt wurde, so gar nicht beantwortet werden, weil sie so gar nicht mehr steht. Denn damit etwas scheitern kann, müsste dieses "Etwas" zuvor noch existieren.
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