Kommentar von Scott Ritter
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump prahlte gern damit, wie hart seine Linie gegenüber Russland sei, etwa im Jahr 2018: "Es gab noch nie einen Präsidenten, der so hart zu Russland war wie ich."
Ganz falsch lag er nicht – laut Daniel P. Vajdich, einem leitenden Analysten beim Atlantic Council, verhielt sich die Trump-Regierung in der Tat "viel härter gegenüber Russland als alle anderen in der Zeit nach dem Kalten Krieg." Trotz der harten Realität seiner Russlandpolitik stand Trump einer Verbesserung der Beziehungen jedoch nicht ablehnend gegenüber und verkündete öffentlich, dass "es großartig wäre, wenn wir mit Russland auskommen könnten."
Was seine Beziehung zum russischen Präsidenten Wladimir Putin betrifft, so stellte Trump fest: "Ich mag Putin, er mag mich." In der Tat beschrieb Marina Gross, die als Dolmetscherin des US-Außenministeriums an vielen Gesprächen zwischen Trump und Putin mitwirkte, Berichten zufolge die Begegnungen so: "Beim Anhören ihrer Gespräche bekam man oft das Gefühl, zwei Freunde zu belauschen, die sich in einer Bar unterhalten."
Berüchtigt wurde die Begebenheit, als Trump auf die Äußerung des FOX-Journalisten Bill O'Reilly "Putin ist ein Killer" ziemlich ungehalten reagierte: "Es gibt eine Menge Killer. Bei uns gibt es eine Menge Mörder. Was denn – denken Sie etwa, unser Land ist so unschuldig?"
Präsident Biden ließ die Absicht erkennen, mit Russland weitaus aggressiver umzugehen als sein Vorgänger. Mehr noch: Über "Freundschaft" oder "auskömmliches Miteinander" solle auch nicht länger geredet werden. In dem jüngsten Interview mit George Stephanopoulos von ABC News durfte Biden von demselben "Apfel der Versuchung" kosten, den O'Reilly damals Trump anbot: "Also, Sie kennen Wladimir Putin?" fragte Stephanopoulos. "Halten Sie ihn für einen Mörder?" Ohne einen Moment zu zögern, antwortete Biden: "Hm-hm, das tue ich."
Sich aufbauen mit Prahlerei und Seemannsgarn
Jeder, der die Karriere von Joe Biden verfolgt hat, sieht in dieser Antwort nichts anderes als krassen politischen Opportunismus: Biden wurde hier absichtlich eine Pappnasen-Frage gestellt, um dem Präsidenten die Möglichkeit zu geben, den Eindruck einer scharfen Trennung zwischen seiner und der Politik und Haltung seines Vorgängers zu erwecken – und Biden haute beim Beantworten dieser Pappnasen-Frage so richtig auf die Pauke. Bidens negative Meinung über Russland unter Putin ist wohlbekannt, vielleicht am besten artikuliert von Dmitri Trenin, dem Leiter des Carnegie Moscow Center. Nach Trenins sinngemäßem Zitat sieht Biden Russland als "ein Land, wo der Niedergang unüberschaubare Maßstäbe angenommen hat, mit einer auf Erdöl gegründeten Wirtschaft und einer zweitklassigen Militärmacht, unfähig, mit dem Westen zu konkurrieren und durch eine depressive Demographie und ein kleptokratisches, von Schlägern des KGB geführtes Regime belastet".
Jeder, der sich mit Russland befasst, wird verstehen, dass Biden mit seiner Wahrnehmung daneben liegt – und zwar meilenweit. Doch ohnehin ist jeder Versuch, die Kluft zwischen der Realität und Bidens Wahrnehmung zu überbrücken, dazu verdammt, in Sisyphos-Arbeit auszuarten. Biden scherte sich noch nie um Fakten, sondern vielmehr darum, wie er die Fakten am besten verdrehen kann, um seiner größten Leidenschaft zu frönen: der Selbstdarstellung. Dies wurde während des Interviews mit dem ABC-Journalisten Stephanopoulos überdeutlich – nämlich als Biden seine noch im Jahr 2014 gegenüber dem New Yorker geäußerte Behauptung wiederholte, bei der es um sein Treffen mit Putin im Kreml während eines Besuchs im März 2011 ging. Biden zufolge blieb er allein mit Putin in dessen Büro, wo er geäußert haben will, dass Putin eine menschliche Seele fehle: "Ich sagte, 'Ich habe Ihnen in die Augen gesehen, und ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben', und er [Putin] schaute zurück und sagte: 'Wir verstehen uns.'" (Die Geschichte im New Yorker unterschied sich von dieser neueren Version nur darin, dass Biden damals behauptete, Putin habe beim Antworten gelächelt.)
Bidens Märchenstunde diente einem Zweck. "Das Wichtigste im Umgang mit ausländischen Staatschefs ist einfach, dein Gegenüber zu kennen." Mit diesem neunmalklugen Getue vor Stephanopoulos versuchte Biden, sich von einem anderen US-Präsidenten, diesmal George W. Bush, abzugrenzen. Dieser hatte bekanntlich über sein erstes Treffen mit Putin im Juni 2001 Folgendes zu berichten: "Ich habe dem Mann in die Augen gesehen. Ich fand ihn sehr geradlinig und vertrauenswürdig. Ich war in der Lage, ihn seelisch einzuschätzen."
Es gibt einen weiteren Unterschied zwischen der Aussage von Bush und der von Biden in Bezug auf ihre jeweiligen Treffen mit Wladimir Putin. Bushs Treffen mit Putin, von dem er berichtete, war öffentlich und wurde allseitig dokumentiert – Bidens dagegen nicht. In der Tat geht die Wahrscheinlichkeit, dass das Treffen Bidens mit Putin so ablief, wie von Joe Biden beschrieben wird, steil gegen Null: Als Biden den Kreml im Jahr 2011 aufsuchte, leitete er die diplomatischen Bemühungen der Obama-Regierung um einen "Reset" der Beziehungen zu Russland oder war zumindest das Aushängeschild dieser Bemühungen. Für Bidens gespielten Machismo fehlte die Gelegenheit ebenso wie die Notwendigkeit. Die beiden Männer trafen sich zwar, aber jeweils als Teil von Delegationen, die miteinander Möglichkeiten zur Verbesserung der Beziehungen diskutierten. Bidens beleidigende verbale Entgleisung wäre nicht nur völlig unangemessen und mit den umfassenderen politischen Zielen seines Besuchs unvereinbar gewesen – sondern seine späteren Berichte davon widersprechen auch seinen eigenen Ansichten über Russland, wie er sie damals äußerte. Bei einer Pressekonferenz nach seinem Treffen mit Putin (zu jener Zeit Russlands Premierminister, nicht Präsident) wusste Biden zu berichten: "Russland hat die besten Ingenieure der Welt. […] Russland hat geistiges Kapital. Russland ist eine große Nation." So äußert man sich gewöhnlich nicht, wenn man kurz zuvor dem russischen Staatschef unter vier Augen gesagt hatte, er habe "keine Seele".
Beweise müssen draußen bleiben
Bidens Ringen gegen die Wahrheit ist wohlbekannt. Daher sollte niemand überrascht sein, falls er sein Treffen mit Putin möglicherweise frei erfunden hat. Biden wurde auch schon beim Plagiieren einer Rede des ehemaligen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei Neil Kinnock ertappt; er log über seine akademischen Leistungen; auch sog er sich schon einmal eine Geschichte aus den Fingern, bei der er an der US-Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren teilgenommen haben wollte. Bidens Lügen dienen alle stets demselben Ziel: sich als jemand darzustellen, der er jedoch nicht ist. Selbiges bei seiner offensichtlichen Lüge darüber, Putin von Angesicht zu Angesicht seelenlos genannt zu haben. Biden versucht verzweifelt, ein "harter Kerl" zu sein. Doch damit dieser Ruf gegenüber Putin bestehen bleibt, müsste es einen "Showdown"-Moment geben, in dem der Gute gegen den Bösen antritt und ihn herausfordert. Weil aber ein solches Ereignis nicht existiert, musste Biden einfach eines erfinden – und muss es nun, wie schon seine meisten anderen Lügen, so lange und so oft wiederholen, bis es ein Eigenleben entwickelt und von Journalisten fraglos als Wahrheit angenommen und begrüßt wird.
Das gegenwärtige Bedürfnis des 78-jährigen US-Präsidenten, beim Thema Russland mit den Muskeln zu spielen, wird durch die Schlussfolgerungen eines vom Büro des Direktors der nationalen Nachrichtendienste (DNI) veröffentlichten Berichts bedingt. Darin wird behauptet, Russland habe sich in die US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 eingemischt: "Der russische Präsident Putin autorisierte Einflussoperationen – und eine Reihe von russischen Regierungsorganisationen führte sie durch –, die darauf abzielten, die Kandidatur von Präsident Biden und die Demokratische Partei zu verunglimpfen, den ehemaligen Präsidenten Trump zu unterstützen, das öffentliche Vertrauen in den Wahlprozess zu untergraben und die soziopolitischen Spaltungen in den USA zu verschärfen."
Der Schwerpunkt des Berichts lag auf der Rolle, die angebliche "Stellvertreter" aus der Ukraine gespielt haben sollen, insbesondere Andrei Derkatsch, den die USA beschuldigen, ein russischer Agent zu sein. Laut dem DNI-Bericht sollen russische Geheimdienste Derkatsch und weitere benutzt haben, um ein Anti-Biden-Narrativ zu verbreiten, wobei Moskau jedoch die Kapazität einer "glaubhaften Abstreitbarkeit" behalten sollte.
Die russische Regierung schmetterte ihrerseits alle Anschuldigungen ab und beschrieb sie als "eine weitere Ansammlung unbegründeter, gegen unser Land gerichteter Bezichtigungen der Einmischung in die US-amerikanischen internen politischen Prozesse" und stellte weiter fest, dass die Folgerungen des Berichts "nur mit dem selbstgerechten Glauben der Geheimdienste an ihre Unfehlbarkeit bestätigt" werden und dass "keine Fakten oder spezifische Beweise für solche Behauptungen vorgelegt wurden." Mit den im Bericht gesammelten Behauptungen wird keineswegs irgendwelches Neuland beschritten. Sie stellen eine ideologische Erweiterung ähnlicher Behauptungen aus der Zeit der US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 dar, als die US-Geheimdienste eine Einschätzung über die Rolle von RT bei einer angeblichen Beeinflussung der US-amerikanischen öffentlichen Meinung verbreiteten, die damals den heute fraglichen Ereignissen vorausging.
Schlechtester Superheld aller Zeiten
Es spielt keine Rolle, dass der DNI-Bericht ein Schlag ins Gesicht eines jeden selbständig denkenden US-Amerikaners ist – besagt er doch implizit, dass der US-Durchschnittsbürger sich leicht von Meinungen Außenstehender beeinflussen lässt: Auch die Vorstellung, die russische Regierung könne (unmittelbar oder über Stellvertreter) die Meinung der US-Wähler geschickter manipulieren als ganze Armeen erfahrener politischer Agenten, die Hunderte von Millionen Dollar ausgeben, um ein ähnliches Ergebnis zu erzielen, ist nicht nur lächerlich, sondern zutiefst beleidigend.
Doch nochmals: Nicht die Fakten sind hier wichtig, die mit dieser Behauptung zu verbinden wären, sondern vielmehr das auf Eindrücken gegründete Narrativ, das US-Präsident Biden da ausschmückt. Am 26. Januar dieses Jahres führte Biden sein erstes Telefongespräch mit Wladimir Putin. Laut einer Erklärung des Weißen Hauses im Anschluss daran "machte Präsident Biden deutlich, dass die Vereinigten Staaten in Reaktion auf Handlungen Russlands, die uns oder unseren Verbündeten schaden, entschlossen im Sinne der Verteidigung ihrer nationalen Interessen handeln werden". Zu den spezifischen Themen, die Biden ansprach, so die Erklärung, gehörte die Frage um eine angebliche Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020.
In seinem Interview mit Stephanopoulos sprach Biden die Befunde im DNI-Bericht an und auch sein Telefonat mit Putin:
"Er wird einen Preis zahlen müssen. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander, er und ich. Ich kenne ihn relativ gut, und das Gespräch fing [so] an: Ich sagte, 'Ich kenne dich und du kennst mich. Falls ich feststelle, dass das [wirklich] passiert ist, dann macht euch auf etwas gefasst.'"
Biden kennt Putin überhaupt nicht gut. Würde er Putin kennen, wüsste er, dass das Allerletzte, was den russischen Staatschef aufhorchen lassen würde, ein blumiges Macho-Gehabe eines altersschwachen US-Präsidenten wäre. Es bestehen kaum Zweifel daran, dass die Biden-Regierung in den kommenden Tagen und Wochen weitere Sanktionen gegen Russland verhängen und dafür diesen Bericht als Rechtfertigung anführen wird. Es besteht ebenso wenig Zweifel daran, dass diese Sanktionen keinerlei Auswirkungen auf die Politik und die Handlungen der russischen Regierung haben werden. Aber darum geht es auch gar nicht. Biden lässt hier nicht für Putin die Muskeln spielen: Sein Publikum ist das US-amerikanische Volk und sein Posieren Teil einer koordinierten Kampagne mit dem Ziel, sein Mantra "Amerika ist wieder da" auf Biegen und Brechen unter das Volk zu bringen.
Die Tatsache, dass Bidens Possen nur Schall und Rauch bar jeglicher Substanz sind, ist nebensächlich. Die Mainstream-Medien der USA werden seine Worte und sein Konterfei in ihrem gesamten Wirkungsradius verbreiten und dazu beitragen, ein weiteres Kapitel im Fortsetzungsroman der Fiktion, nun sei Joe Biden der neue Superheld der USA, als Tatsache zu zementieren. Das wäre zum Brüllen komisch, wären die möglichen Folgen von Bidens Handeln nicht so bitterernst. In einer Welt, in der russische und US-amerikanische Atomwaffen nur einen Knopfdruck davon entfernt sind, das ganze uns bekannte Leben zu beenden, ist es vielleicht nicht die beste Idee, den harten Kerl zu spielen.
Übersetzt aus dem Englischen
Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des Marinekorps der Vereinigten Staaten und Autor des Buches "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspekteur für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrages, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als UN-Waffen-Chefinspekteur im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle betreffen. Folgen Sie ihm auf Twitter @RealScottRitter
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