Polen simuliert Konflikt mit Russland und verliert – eine mögliche selbsterfüllende Prophezeiung

Indem Polens Militär einen fiktiven Krieg mit Russland simulierte – und verlor, versuchte es, die NATO von Polens Verwundbarkeit zu überzeugen. Dies könnte zur Aufstockung der Militäraufgebote führen – und so den soeben simulierten und verlorenen Krieg geradewegs auslösen.

von Scott Ritter

Ende letzten Monats führte das polnische Militär Berichten zufolge ein Stabsmanöver durch, bei dem ein umfassender Konflikt zwischen Polen und Russland simuliert wurde. An dieser Simulation mit dem Namen "Winter-20" waren laut der bekannten polnischen Webseite Interia mehrere Tausend polnische Offiziere beteiligt, die den virtuellen Krieg zwischen den beiden Staaten überwachten. Die Simulation umfasste alle neuesten Waffen des polnischen Militärs, einschließlich der F-35-Kampfjets. Als das Stabsmanöver nach fünf Tagen eines simulierten "Konfliktes" endete, war die polnische Armee völlig zerschlagen, ihre Kampfeinheiten hatten zwischen 60 und 80 Prozent Verluste erlitten und die russische Armee stand an den Ufern der Weichsel – bereit, die Landeshauptstadt Warschau zu besetzen.

Laut einem Artikel in der US-Zeitschrift National Interest diente der simulierte Konflikt "als Erinnerung daran, dass die Ostflanke der NATO schwach und anfällig für russische Aggression ist."

Eine Wiederholung des "Wunders an der Weichsel" vom August 1920, als die belagerten polnischen Truppen unter dem Kommando von Józef Piłsudski die vorrückende Rote Armee unter dem Kommando von Michail Tuchatschewski entscheidend schlagen konnten, würde es nicht geben. Bei einem russischer Angriff auf Polen – sollte er theoretisch heutzutage stattfinden – würden sich aber auch nicht die Ereignisse vom September 1939 wiederholen, als Truppen der Roten Armee unter Semjon Timoschenko die Kontrolle der Sowjetunion über das sogenannte Ostpolen wiederherstellten, während die polnische Armee damit beschäftigt war, eine deutsche Invasion abzuwehren (Anm. d. Red.: Zu jenem Zeitpunkt war jeglicher Widerstand des polnischen Militärs auf dem Boden des Landes gegen die Invasion deutscher Truppen allerdings bereits zerschlagen, die polnische Regierung war bereits auf der Flucht ins britische Exil.), auch nicht jene von Januar bis August 1944, als sowjetische Streitkräfte unter Georgi Schukows Kommando bis an die Grenzen Polens vorstießen. Denn während die letzten beiden Ereignisse Siege des russischen Militärs waren, sind sie ebenso wie Polens Sieg in der Schlacht um Warschau im Jahr 1920  zugleich auch eine Sache historischer Fakten, die nach realen Ereignissen aufgezeichnet wurden. Demgegenüber entspringt die Stabsübung "Winter-20" einer wahnhaften Fantasie, einer selbstinszenierten Niederlage in Form eines Theaterstücks, das zugleich die Akzeptanz bestimmter Narrative von einer angeblichen Schwäche Polens als NATO-Mitglied und von der Stärke Russlands verstärken soll.

Damit soll nicht gesagt werden, dass ein groß angelegter Konflikt zwischen der NATO und Russland östlich der Weichsel nicht innerhalb von weniger als einer Woche mit einer entscheidenden Niederlage der NATO und einem Einmarsch der russischen Streitkräfte gen Warschau enden könnte. Die militärische Schwäche der NATO ist wohldokumentiert, und die Realität einer Rückbildung ihrer Bodentruppen ist bekannt.

Die Vereinigten Staaten können es sich kaum leisten, eine schwere Panzerbrigade in einem Einsatzgebiet zu unterhalten. Und eine zweite Brigade aufzustellen, die in der Lage wäre, diese Präsenz in der Region zu verstärken, ist kaum möglich – selbst unter Rückgriff auf von langer Hand angelegte Ausrüstungsbestände. Deutschland ist nicht in der Lage, eine einzige gepanzerte Brigade zum Feldeinsatz hervorzubringen: So musste das Land seine Garnisonstruppen kannibalisieren, um eine einzige Kampfgruppe in Bataillonsgröße für die Verlegung ins Baltikum bereitzustellen. In einem ähnlich bemitleidenswerten Zustand befindet sich auch die britische Armee: Sie wurde erheblich verkleinert und ist – wie auch Deutschlands Armee – nicht in der Lage, rechtzeitig eine gepanzerte Brigade für den Einsatz in Polen oder im Baltikum zu mobilisieren. Das Gleiche gilt für die französische Armee.

Was die polnische Armee anbelangt, so hinkt sie in fast jedem für die Kampfkraft relevanten Bereich hinterher – obwohl Polen bisher Milliarden Euro für die Modernisierung und Erweiterung seiner Streitkräfte ausgegeben hat. Der jährliche Verteidigungsbericht Global Firepower (GFP) für das Jahr 2021  bewertet die Streitkräfte von 139 Ländern auf der ganzen Welt und bezieht sich dabei auf eine Vielzahl von Faktoren, die für eine längere offensive oder defensive Militärkampagne von Belang wären. Polen liegt hier weltweit auf Platz 23, und zwar mit einem Indexwert von 0,4187 für seine militärische Stärke (0,0000 wird als perfekte Punktzahl angesehen).

Zum Vergleich: Frankreich liegt mit einem GFPI von 0,1691 auf Platz 7, die Briten mit einem Indexwert von 0,1997 auf Platz 8, und die Deutschen mit einem GFPI von 0,2519 auf Platz 15. Russland liegt auf Platz 2 und weist einen GFPI-Wert von 0,0791 auf. Nur die USA haben einen besseren GFPI-Indexwert von 0,0718 für ihre aktuelle militärische Stärke.

Doch der Großteil des US-Militärs ist auf dem US-amerikanischen Festland stationiert, und es würde Monate in Anspruch nehmen, größere Aufgebote nach Europa zu verlegen. Russland hingegen würde von inneren Kommunikationslinien aus operieren; auch sind seine Streitkräfte so ausgebildet und ausgerüstet, dass sie bei minimalen Mobilisierungsanforderungen im Rahmen eines groß angelegten Bodenkonflikts Kampfoperationen führen und aufrechterhalten könnten.

Fähigkeit, Absicht, Unterstellung

Hier allerdings geht es nicht um Kapazitäten, sondern um Absichten. Das Rekonfigurieren der russischen Streitkräfte weg vonfür kleinere Konflikte konzipierten Formationen in Brigadegröße und hin zur Wiedergeburt von Formationen aus der Sowjet-Ära wie der 1. Gardepanzer-Armee (GPA) oder der 20. Gardearmee als Großverband erfolgte nicht etwa, weil Russland angeblich die Vorherrschaft in Europa mit militärischen Mitteln anstrebt. Sie wurde vielmehr einzig durch die Osterweiterung der NATO notwendig, bei der Staaten mit festverdrahteter Feindseligkeit gegenüber Russland – wie Polen oder die baltischen Staaten – in das westliche Bündnis integriert wurden.

Die russophobe Haltung dieser neuen NATO-Mitglieder führte dazu, dass das transatlantische Bündnis von seiner offiziell defensiven Haltung zu  einer forcierten Aufstellung der Streitkräfte mehrerer europäischer Länder zusammen mit den USA entlang der russischen Grenze überging – das sind Militäraufgebote, deren einziger Auftrag die Konfrontation mit dem russischen Militär ist.

Dieser Aufgabenfokus wurde kürzlich in einem Tweet von Generalmajor Patrick James Donahue II, dem kommandierenden General des neuen "Maneuver Center of Excellence"(MCoE) der US-Armee in Fort Benning, US-Bundesstaat Georgia, aufgegriffen. Er stellte sich die rhetorische Frage, wie die US-Armee von ihrer auf Aufstandsbekämpfung (COIN) ausgerichteten Konfiguration der letzten zwei Jahrzehnte zu groß angelegten Kampfeinsätzen (LSCO) "umgestaltet" werden sollte, und beantwortete sie selbst so:

"Ein Weg dazu wäre, unsere Landkarten auszuwechseln – mit Schwerpunktsetzung östlich der Weichsel und nördlich des Han. Da fokussiert man sich auf großangelegte Kampfeinsätze."

In vielerlei Hinsicht hat die US-Armee dies bereits getan, etwa indem sie förmlich aus dem Nichts die angebliche Verwundbarkeit der NATO an der "Suwalki-Lücke" erfand. Diese "Lücke" besteht aus einem Landstreifen, der Polen mit Litauen verbindet – dieser wurde von NATO-Strategen als wahrscheinlichste Stoßrichtung bei einem theoretischen Angriff der russischen Streitkräfte identifiziert, falls diese das Baltikum vom Rest der NATO isolieren wollten. Die nördliche Grenze der Suwalki-Lücke wird durch die russische Exklave Kaliningrad gebildet, während ihre südliche Grenze durch Weißrussland.

Mag die NATO ihre Aufgabe in dieser Region auch als "rein defensiv" definieren: Die militärischen Manöver, die erforderlich sind, um Truppen zu schnellstmöglicher Verstärkung der Suwalki-Lücke gerade dorthin zu verlegen, sind identisch mit denjenigen, die die NATO bei ihren eigenen offensiven Operationen gegen Kaliningrad oder Weißrussland durchführen würde. Für Russland ist es folglich unmöglich, hierbei einen Unterschied auszumachen – und die beiden Fälle unterschiedlich zu behandeln.

Mit verringerter Sprengkraft zur nuklearen Götterdämmerung

Die Lage wird dadurch noch komplizierter, dass die NATO eine immer gefährlichere Haltung in Bezug auf taktische Atomwaffen einnimmt – genau genommen in Bezug auf neue nukleare Sprengköpfe mit verringerter Sprengkraft, mit denen ballistische Raketen in den Startschächten der auf Einsatzpatrouille befindlichen US-Atom-U-Boote bestückt werden. Diese Waffen wurden nicht nur zur Nutzung in Kampfeinsätzen konzipiert (d.h. also ausdrücklich nicht "lediglich zur Abschreckung" gedacht), sondern ihr Einsatz wurde tatsächlich auch schon bei Stabsmanövern geübt, in denen ein NATO-Konflikt mit russischen Streitkräften in Polen und im Baltikum simuliert wurde.

Dieser Aspekt der Realität wird in dem National Interest-Artikel geflissentlich ausgelassen – stattdessen stellt der Autor die Behauptung, Russland habe sich entschlossen, "Atomwaffen zur Verteidigung von Gebieten einzusetzen, die es erobert und kontrolliert", als eine Tatsache hin. Indes enthält die russische Nukleardoktrin keine derartige Aussage; auch öffentliche Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin bekräftigen Russlands offizielle nukleare Doktrin – nämlich massive Vergeltung für den Fall, dass Atomwaffen jemals gegen russisches Territorium eingesetzt werden.

Am Anfang vom Ende war das Wort

Das "Winter-20"-Stabsmanöver ist eine selbsterfüllende Prophezeiung, wie sie oft im Nachhinein in Geschichtsbüchern aufgezeichnet werden, wenn die betroffenen Nationen nichts mehr am Ereignisverlauf vor Ort ändern konnten. Auch die polnischen Militärs, die Russlands Armee als eine moderne Version von Hitlers Wehrmacht darstellen, allzeit bereit, ein hilflos ausgeliefertes Polen zu verwüsten, setzen künstlich ein Paradigma, das einzig dem Erzwingen einer Antwort seitens der NATO dient.

Die NATO ihrerseits hat diesen Köder bereits geschluckt und ist dabei, Truppen und Kriegsgerät in die polnisch-baltische Region zu verlegen – in derartigen Mengen, dass dort schließlich eine brauchbare offensive militärische Kapazität entstehen wird. Verbindet man diese militärische Lageentwicklung auf der einen Seite mit der aggressiven Haltung der NATO hinsichtlich innerer Angelegenheiten Weißrusslands und der Möglichkeit eines NATO-Beitritts der Ukraine auf der anderen Seite, so ergibt sich eine militärische Bedrohung, die Russland nicht länger ignorieren kann.

Russland führte in den vergangenen Jahren großangelegte Militärmanöver in seinem westlichen Militärbezirk durch. Alle gingen von einer NATO-Aggression entweder gegen Kaliningrad oder gegen Weißrussland aus und dienten zur Übung entsprechender Gegenoperationen. Alle umfassten auch das Führen eines massiven Gegenschlages, bei dem die NATO-Invasoren vom Staatsgebiet Russlands oder von den Staatsgebieten seiner Verbündeten vertrieben werden sollen. Bestandteil aller derartigen Gegenschläge sind unter anderem stets tiefe Vorstöße – jene Art von Angriffen, bei denen feindliche Formationen und Gebiete weiträumig isoliert werden.

Mahnmal Hiroshima

Tatsache ist, dass die Ergebnisse der "Winter-20"-Stabsmanöver die Lage wirklichkeitsgetreu widerspiegeln – im Falle eines großen Krieges am Boden in der polnisch-baltischen Region würde Russland die vorrückenden NATO-Einheiten vollständig vernichten und innerhalb von fünf Tagen die Weichsel erreichen. Die einzige Möglichkeit für die NATO, die Russen aufzuhalten, wäre der Einsatz von Nuklearwaffen, wie zum Beispiel eben jener Sprengköpfe mit geringerer Sprengkraft, den die US-amerikanischen U-Boot-gestützten ballistischen Raketen tragen. Würde die NATO dies jedoch wagen, wäre Russlands Reaktion höchstwahrscheinlich ein massiver nuklearer Angriff gegen die USA und die NATO. Über dieses ernüchternde Ergebnis sollten diejenigen im polnischen Generalstab nachdenken, die aktuell Ereignisse mitgestalten, mit denen – beugt man ihnen nicht vor – durchaus das Ende der Menschheit auf der Erde eingeläutet werden könnte.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Übersetzt aus dem EnglischenScott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen.