von Kaspar Sachse
Auf der einen, der "Realo"-Seite existiert das dominante Lager der "woken" Linken um die Parteiprominenz aus der Strömung der Emanzipatorischen Linken. Dazu gehören zum Beispiel Katja Kipping oder Anne Helm. Dazu kommt das Forum Demokratischer Sozialismus um das ehemalige Mitglied der Atlantik-Brücke Stefan Liebich, Klaus Lederer, Benjamin-Immanuel Hoff, Dietmar Bartsch und Matthias Höhn sowie Akteure vom Netzwerk Reformlinke um Jan Korte, Petra Pau oder Halina Wawzyniak.
Diese setzen sich in erster Linie für den "Kampf gegen Rassismus" und Kampagnen der Solidarität für politisch und sozial benachteiligte Minderheiten, beispielsweise für Geflüchtete und politisch Verfolgte ein. "Geschlechtersensible Sprache" stellt eine weitere, unverrückbare Säule beim ideologischen Richtungskompass dar, der es mittlerweile über die linkeninterne Kommunikation bis an Universitäten, die öffentlich-rechtlichen Medien und gar in den Duden geschafft hat. Der unabdingbare "Klimaschutz" um jeden Preis zeigt sich in der Unterstützung von Fridays for Future oder Extinction Rebellion.
Nicht nur dabei gerät die soziale Frage immer deutlicher ins Hintertreffen. Grundsätzlich wird zwar beispielsweise Hartz IV kritisiert, doch forciert man zunehmend stärker ein "bedingungsloses Grundeinkommen", das soziale Probleme nicht dauerhaft lösen kann und die staatliche Abhängigkeit und Überwachung der Menschen noch vergrößern wird. Die programmatischen Unterschiede zur SPD und den Grünen werden dabei auffälligerweise immer kleiner.
Abgesehen von der COVID-19-Pandemie, in der man voll auf Regierungskurs fährt und mit NoCOVID oder Zero-COVID am besten noch totalitärer anmutende "Maßnahmen" durchsetzen will, sind besonders die "alten, weißen Männer" an allem Übel dieser Welt schuld, was sich exponiert an der Einreihung in die vierjährige Dauerverachtung auf allen Kanälen für Ex-US-Präsident Donald Trump zeigte. Dazu wird immer wieder eine vermeintlich inhärente Homophobie in Russland kritisiert. Wer etwaige moralische Doppelstandards zwischen der westlichen Welt und Moskau kritisiert, wie der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu, steht massiv in der Schusslinie.
Der fast schon universalistische "Kampf gegen rechts" trifft dabei auch Linke mit von den oben abweichenden Haltungen aus dem anderen Lager der eigenen Partei. Besonders Vertreter der Kommunistischen Plattform, des Marxistischen Forums und der Antikapitalistischen Linken, die alle insbesondere die soziale Frage stärker in den Mittelpunkt stellen, strikt gegen Auslandeinsätze der Bundeswehr sind und sich gegen die NATO und für ein friedliches Bündnis mit Russland einsetzen trifft dabei der Bannstrahl.
In erster Linie ist hier Sahra Wagenknecht, Gründungsmitglied der Kommunistischen Plattform und bis 2010 Teil der Antikapitalistischen Linken, zu nennen, die parteiübergreifend eine sehr große Popularität genießt. Im März 2019 kündigte Wagenknecht an, ihrer Gesundheit geschuldet nicht mehr für den Fraktionsvorsitz der Linksfraktion im Bundestag zu kandidieren. Heftige Kämpfe mit Vertretern des anderen Flügels hatten ihre Spuren hinterlassen. Daran hat sich bis heute nichts geändert: So gab es vor wenigen Tagen bei den Linken in Sachsen-Anhalt scharfe Kritik an einem Wahlkampfauftritt von Wagenknecht, die sich beim Thema Whistleblower wiederholt für Julian Assange oder Edward Snowden eingesetzt hatte.
So äußerte sich Rebekka Grotjohann, Mitglied im Landesvorstand, gegenüber dem Spiegel:
"Ich hätte es besser gefunden, wenn man sie nicht eingeladen hätte. Sie polarisiert und bringt immer wieder Streit in die Partei. Mit ihren flüchtlingsfeindlichen Aussagen und ihrem Blinken nach rechts hat sich Wagenknecht bei vielen von uns und auch bei mir sehr unbeliebt gemacht."
Nun rumort es kurz vor dem Bundesparteitag auch in außenpolitischen Fragen. So äußerte sich Matthias Höhn, der sicherheitspolitische Sprecher der Linksfraktion, im Januar ebenfalls gegenüber dem Spiegel mit Bezug auf die Causa Nawalny:
"Wer eine sicherheitspolitisch gebotene Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und der EU anstrebt, darf Völkerrechtsbrüche nicht akzeptieren und muss auf Aufklärung solcher Verbrechen bestehen. […] Es gibt keinen Grund zur Nachsicht gegenüber der russischen Regierung. Inakzeptables Verhalten muss auch so benannt werden."
In Höhns Strategiepapier mit der Überschrift: "Linke Sicherheitspolitik" heißt es, NATO, Russland und China seien gleichermaßen für die angespannte internationale Lage verantwortlich. Obwohl die selbst von Höhn zitierten Zahlen eine andere Sprache sprechen: 1,04 Billionen Dollar (!) betrug 2019 das Militärbudget der NATO, davon 732 Milliarden der USA, China hatte einen Etat von 261 Milliarden, Russland noch hinter Indien mit 65,1 Milliarden, also weniger als einem Zehntel der USA.
Dennoch fordert Höhn:
"Es wird höchste Zeit, dass die Linke Antworten findet, die jenseits ausgedienter Freund-Feind-Bilder zu finden sind."
Passend dazu will Höhn die Rolle der Bundeswehr als Instrument der Außenpolitik neu definieren:
"Solange die Linke keine kurzfristige Auflösung der Bundeswehr fordert, sondern richtigerweise auf eine Neudefinition ihrer Aufgabe orientiert (keine weltweiten Kriegseinsätze, Konzentration auf die Landesverteidigung, Umbau auf defensive Fähigkeiten...), muss sie auch in der Lage sein zu definieren, welche Mittel sie dafür aufwenden will. Das bleibt bisher jedoch eine Fehlstelle. In den zurückliegenden Legislaturperioden hat die Linksfraktion nahezu keiner Beschaffung für die Bundeswehr, von der persönlichen Ausrüstung bis zum Kampfflugzeug, zugestimmt. Diese pauschale Ablehnung ist kein sicherheitspolitisches Konzept."
Final kommt Höhn zu folgenden, seltsam relativierenden Schlussfolgerungen:
"Deutschland sollte beim Aufbau neuen Vertrauens eine zentrale Rolle einnehmen. Dazu gehört etwa, den diplomatischen Austausch im NATO-Russland-Rat und der OSZE zu revitalisieren und die in der NATO-Russland-Grundakte und der KSE-Schlussakte gegenseitig versicherten politischen Vereinbarungen einzuhalten, dass beide Seiten keine ständige Stationierung substanzieller Streitkräfte in Grenzgebieten durchführen. Aus linker Sicht ist jederzeit unerlässlich, auf klaren völkerrechtlichen Regeln zu beharren und diese in allen Richtungen gleichermaßen anzuwenden. Ein nicht-mandatierter amerikanischer Luftschlag in Syrien, ein Einmarsch türkischer Truppen in ein Nachbarland oder der Einsatz von verbotenem Nervengift in Russland – wer glaubwürdig sein und Vertrauen aufbauen will, darf nicht mit zweierlei Maß messen."
Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Wolfgang Gehrcke, der lange außenpolitische Fragen in der Fraktion mitgestaltet hatte, gab bereits zu bedenken:
"Gute Gründe als überholt, alt, von gestern abzuwerten, ist ein beliebtes Muster neoliberaler Ideologen, um sich selbst als innovativ, modern, der Zukunft zugewandt darzustellen."
Und auch am neuen Wahlprogrammentwurf von Kipping und Bernd Riexinger gibt es Kritik von der Basis. So äußerten sich Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke, Ellen Brombacher, Lydia Krüger, Steffen Niese, Isabelle Casel, Andrej Hunko, Justo Cruz in der Jungen Welt:
"In der Gesamtschau ist dieser Entwurf daher als Versuch einer Relativierung der friedenspolitischen Positionen der Partei und der internationalen Solidarität zu werten. Nicht der Ruf nach 'weniger Geld für Aufrüstung' (Seite 114), sondern die Forderung nach einem Abzug der US-Truppen aus Deutschland und der Schließung von Ramstein sowie aller anderen US-Militärbasen müssen in ein friedenspolitisches Programm für das 21. Jahrhundert."
Zu Recht stellen die Autoren die Frage: "Warum Konfrontationspolitik gegenüber Russland nicht mehr klar benennen?" Sie
"erwarten, dass so wie in unserem 2017er Programm auch jetzt die Konfrontations- und Einkreisungspolitik der USA und der NATO-Verbündeten gegenüber Russland klar benannt wird. Die gewaltige Aufrüstung der NATO gegenüber Russland ist ein friedensgefährdender Aggressionsakt und muss von uns als solcher kritisiert werden. Eine Äquidistanz, mit der die mehr als 1.000 Milliarden Dollar Militärausgaben der NATO 2019 mit den 64 Milliarden Dollar Russlands gleichgesetzt werden, spricht der Realität Hohn."
Beim anstehenden ersten digitalen Parteitag am 26./27. Februar, bei dem auch die Wahl einer neuen Doppelspitze vorgesehen ist, wird sich zeigen, ob es die beiden favorisierten Vertreterinnen der unterschiedlichen Lager, Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler, noch einmal schaffen, die Partei zu einen. Nicht nur bei den außenpolitischen Vorstellungen zeigt sich jedoch, dass es immer schwieriger wird, grundlegende Differenzen zu überbrücken.
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