Ein Gastbeitrag von Dr. Karin Kneissl
Energie als wirtschaftlicher oder gar politischer Faktor ist ein relativ junges Phänomen. Ich würde den Beginn einer strukturierten Energiepolitik mit dem Jahr 1973 ansetzen, als eine Erdölkrise zur Vervierfachung des Ölpreises binnen weniger Wochen führte. Damals wurden Energiekosten zum Thema jedes Haushalts und massiv in die gesamtwirtschaftliche Rechnung einkalkuliert. Die Folge war eine von hohen Ölpreisen getriebene Inflation.
Diese Kosten für Förderung und Vertrieb von Erdöl und Erdgas sind nicht nur kommerzielle, sondern auch geopolitische oder ökologische. Die wesentlichen Ökonomen, egal welcher Denkschule, haben sich selten für Energie interessiert; ihre Modelle basierten auf Boden, Kapital und Arbeit. Energie war Arbeit, ob menschliche oder tierische. Das Erdölzeitalter, das mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Automobil begann, hat Erdöl zum strategischen und weltweit wichtigsten Rohstoff gemacht. Staaten entstanden und zerbrachen im Namen des Erdöls. Die Welt durch die Brille des Erdölmarktes zu betrachten, erweitert den Blick, um Allianzen und Konflikte zu verstehen. Die Geopolitik im Namen des Erdöls ist faszinierend und bestimmt auch das aktuelle Weltgeschehen.
Energiepolitik muss mehr als Klimadebatte sein
Doch vor dem Hintergrund der globalen Erwärmung haben das Thema Klimawandel und damit der Ausstieg aus dem Erdöl fast alle anderen Aspekte der Energieversorgung verdrängt. Der Verbrennungsmotor gilt als Auslaufmodell, die weitere Deindustrialisierung und der Verlust von bis zu acht Millionen Arbeitsplätzen in Europa werden in Kauf genommen. Es ist eine etwas einseitige Debatte, die meines Erachtens nun schon seit Jahren stattfindet. Völlig ausgeblendet wird beim Ausstieg aus der Atomenergie und der Dominanz der Erneuerbaren im Zuge der deutschen Energiewende, die in erster Linie eine Stromwende ist, folgende Frage: Wie verhält es sich mit der Energieversorgungssicherheit.
Permanente und zuverlässige Stromversorgung zu leistbaren Preisen ist eine Grundlage unseres Wohlstandes. Wir können und wollen uns regelmäßige Stromausfälle oder gar ein großräumiges Blackout mit dem massiven Ausfall von Infrastruktur gar nicht vorstellen. Für andere Gesellschaften, die diese Energieversorgungssicherheit nicht kennen, ist das Leben mit dem Stromausfall Alltag. Nun geht es mit dem European Green Deal nach der Stromwende zunehmend um das Transportwesen, also die Mobilitätswende. Die Ambitionen sind hochgesteckt. Trotz Pandemie verschärfte die Europäische Kommission im Vorjahr die Vorgaben, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren. 2050 will die EU klimaneutral sein. Völlig ausgeblendet wird bei diesem Fahrplan, dessen rechtliche und finanzielle Umsetzung noch offen ist, vor allem die soziale Dimension.
"In jedem Auto liegt eine gelbe Weste"
So lautet eines der Kapitel in meinem Buch zur Mobilitätswende. Begannen Revolutionen in der Vergangenheit aus Hunger, so gehen Wütende und Verzweifelte in unserer Zeit auf die Straßen, weil man ihnen unter anderem mit einer erhöhten Treibstoffsteuer die Mobilität erschwert. Dies war so in der Revolte der "Gilets jaunes", der Gelbwesten, die ab Herbst 2018 in Frankreich Kreisverkehre besetzten; ihre Forderungen nach Reformen gehen aber weit über dieses Thema hinaus. Und dieser Ruf nach Bewegungsfreiheit erklingt heute noch heftiger bei den Protesten gegen den Lockdown quer durch Europa.
Mehr zum Thema - Der Ursprung der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich
"Gib uns unser täglich Auto" ist nicht der Ruf einer Gesellschaft, die nicht mehr fähig wäre, zu Fuß unterwegs zu sein. Es ist die Notwendigkeit für viele, sich überhaupt Wohnraum und einen Arbeitsplatz leisten zu können und dafür täglich im Stau zu stehen und den Treibstoff zu bezahlen. Der Preis an der Zapfsäule hat in den meisten OECD-Staaten einen Steueranteil von über 50 Prozent. Am Höhepunkt des Erdölpreisanstiegs im Sommer 2008 zahlten die Menschen in Frankreich und Italien fast zwei Euro pro Liter. 12 Jahre später beträgt der Preis die Hälfte. Der fiskalische Hebel wird oft als Puffer eingesetzt, um rasche Preissprünge nicht sofort an den Kunden weiterzugeben. Zugleich sind diese Steuern bedeutende Einnahmen für fast jeden Staatshaushalt, denn der Treibstoff lässt sich nur selten substituieren.
Bei jeder Mobilitätswende in der EU sind diese sozialen Verästelungen daher zu berücksichtigen. Schlagworte im Stile von "Niemand wird zurückgelassen", wie sie unter den Rubriken zur sozialen Abfederung nachzulesen sind, reichen meines Erachtens nicht aus. Weder ein Umstieg auf die E-Mobilität noch eine Verteuerung des Autofahrens wird sich, ohne den Faktor Mensch in Existenznot, machen lassen. Diese Dimension der sozialen Revolte wird nicht abnehmen, sondern sich verschärfen.
Stromausfall als wahrscheinliches Szenario
Die Pandemie zeigte die Verwundbarkeit unserer Gesellschaften in einer global verästelten Wirtschaft auf. Gleichauf mit dem Szenario der Pandemie rangiert in fast allen Risikoanalysen seit Jahrzehnten das Extremereignis Stromausfall. Nicht nur Experten, auch Kommunalpolitiker und Mittelständler setzten sich mit den Folgen für unser aller Handlungsfähigkeit auseinander, wenn das Stromnetz zusammenbricht. In der sicherheitspolitischen Vorschau des österreichischen Verteidigungsministeriums heißt es: "(...) ist ein Blackout ein sehr realistisches Szenario, mit dem binnen der nächsten fünf Jahre zu rechnen ist. Die derzeitigen Planungen für den Systemumbau stehen im Widerspruch zu den physikalischen Möglichkeiten und Grenzen des Systems."
Es muss ständig ein Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch hergestellt werden, was systemische Eingriffe erfordert. Allein in Österreich sind die Kosten für diesen Aufwand von zwei Millionen im Jahr 2011 auf 346 Millionen Euro im Jahr 2018 gestiegen. Die Liste der möglichen Bedrohungen für eine Lahmlegung des Stromnetzes ist lang: Cyberangriffe stehen ganz oben, dann folgen sogleich Wetterextreme, die bereits in der Vergangenheit in Europa für länger anhaltende Stromausfälle gesorgt haben. Die Wahrscheinlichkeit ist aber eher, dass das Netz aufgrund der immanenten Komplexität kollabieren könnte. Wenn nun in großem Umfang Elektroautos an dieses bereits überlastete Stromnetz angehängt werden, vergrößert sich damit die Gefahr eines Blackouts. Man stelle sich dann vor, dass aktuelle Krisenpläne in einem Zeitalter der Elektromobilität der Realität einfach nicht standhalten werden.
Viele offene Fragen
Werden wir vor dieser veränderten Gesamtlage einer massiven Rezession, die sich wohl nicht mit Gelddrucken beruhigen lässt, die Klimaziele des von der Europäischen Kommission verordneten Green Deals weiterverfolgen? Demzufolge sollen die Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors bis 2050 um 90 Prozent sinken. Oder werden sich viele Regierungen gezwungen sehen, andere Prioritäten zu setzen, um soziale Revolten zu verhindern? Werden die Menschen infolge von Massenarmut ihr altes Dieselfahrzeug so lange wie nur möglich weiterbenutzen, anstatt Carsharing zu betreiben, das in Zeiten hoher Infektionsgefahr ohnehin teils obsolet wurde? Derzeit betreiben offensichtlich alle Energiepolitik. UN-Generalsekretär António Guterres ernennt Michael Bloomberg, den Gründer und Chef der Bloomberg Mediengruppe und zuletzt Kandidat für die US-Präsidentenwahlen, zu seinem Sondergesandten für Klima und Energie. Die Europäische Zentralbank (EZB) will fortan bestimmen, welche Anleihen aus klimapolitischen Gründen gekauft werden sollen und welche "schmutzig" sind. Die EZB handelt damit jenseits ihres Mandats und der Pflicht zur Neutralität. Nur wenige Ökonomen oder Notenbanker melden sich zu Wort und mahnen, denn der mediale Jubel über die neue grüne EZB übertönt vieles.
Im Zuge der Recherchen für mein Buch bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der aktuelle dirigistische Zugang der Förderung der E-Mobilität sich noch als brisant erweisen kann. Denn der Ausbau der Stromnetze, um auf die neuen Flotten von Elektroautos vorbereitet zu sein, hinkt gefährlich nach. Am 8. Januar schrammten wir in vielen EU-Staaten neuerlich an einem Blackout vorbei. Die Netzbetreiber mahnen zur Vorsicht, denn wenn die Sonne nicht scheint, der Wind nicht weht, wie es zu dieser Jahreszeit der Fall ist, und der Rückgriff auf Strom aus Atomkraft bzw. Erdgas infolge der Stilllegung vieler Kraftwerke nicht mehr möglich ist, wird das Szenario Stromausfall wahrscheinlicher. Deutschland ist mit der Energiewende 2011 aus vielen Formen konventioneller Energieerzeugung ausgestiegen und hat seinen Anteil an Erneuerbaren massiv ausgebaut, ohne aber entsprechendes Back-up für bestimmte Wettersituationen zu erhalten.
Angesichts des Versagens der Europäischen Kommission und ihrer politischen Spitze in der Organisation und im Vertrieb von Impfstoffen wächst auch meine Sorge, dass ein ähnliches Versagen beim Umbau des Energiemix in der EU noch viel gefährlichere Folgen haben kann. Denn ein tagelanger Blackout mit dem Ausfall von Infrastruktur würde wohl nicht nur massive Schäden und viel Leid verursachen, sondern könnte auch die Zivilisation, wie wir sie kennen, vernichten. Der Schriftsteller Marc Elsberg beschreibt in seinem exzellent recherchierten Thriller "Blackout" 13 Tage Stromausfall in weiten Teilen Europas infolge eines Cyberangriffs. Die Details sind dort nachzulesen. Wir wappnen uns gegen Computerviren, doch setzen wir zeitgleich eine Versorgungssicherheit wider besseres Wissen aufs Spiel, indem wir unsere fragile Infrastruktur überstrapazieren.
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Dr. Karin Kneissl ist ehemalige parteilose Außenministerin von Österreich. In ihrem letzten Buch „Die Mobilitätswende: und ihre Brisanz für Gesellschaft und Wirtschaft“ (Wien 2020) nimmt sie den EU Green Deal mit Blick auf Elektroautos unter die Lupe.