von Seyed Alireza Mousavi
Joe Biden übernahm am 20. Januar ein tief gespaltenes Land. In seiner Antrittsrede schlug Biden versöhnliche Töne an und sagte, er wolle das Land wieder einen. Biden widmete seine gesamte Rede dem Ruf nach neuem Zusammenhalt im Land und machte deutlich, dass er nach den turbulenten Trump-Jahren einen neuen Weg einschlagen wolle. Tatsache ist, dass Trumps linksliberale Gegner mitnichten unparteiische Beobachter des tatsächlich dramatischen Geschehens in den vergangenen Jahren in den USA sind, genauso wenig wie Trump und dessen Anhänger. Doch die Fronten zwischen Republikanern und Demokraten und dementsprechend in der US-Gesellschaft werden sich nach Bidens Einzug ins Weiße Haus wohl weiter verhärten.
Seit der Bürgerrechtsbewegung in den 60er-Jahren verfolgt das liberale Establishment aufgrund des strukturellen Rassismus eine Identitätspolitik in den USA, wonach der Schutz der Minderheiten und derer Rechte auf seiner Agendasteht. Dieser Trend zur Betonung von Partikularinteressen und Minderheitenrechten setzte sich in der westlich geprägten Welt ungebrochen fort. Identität als zentrale politische Kategorie wurde seitdem stets erweitert und auf neue Personengruppen bezogen. Einst kämpfte die liberale Politik für die Emanzipation von "kollektiven Zwängen" wie Familie und plädierte daher für die Rechte der Frauen, nun kämpft sie für die Emanzipation von Geschlechtsidentitäten, da das biologische Geschlecht nach der modernen Vorstellung von Identität "gesellschaftlich" determiniert sei. Die Liste der Identitäten nach diesem Konzept lässt sich fast unendlich fortführen, und sie können beliebig neu kombiniert werden.
Bei dieser Identitätspolitik handelt es sich nicht darum, die materiellen Verhältnisse gerechter zu machen, sondern die partikularen Interessen einzelner Gruppen - etwa sexuelle oder auch religiöse Minderheiten - sollen eine stärkere Anerkennung finden. Die westliche Rechtsordnung setzt spezifisch auf sich ausdehnende Bedeutung der Minderheitengruppen, von Lesben, Schwulen und anderen sexuellen Minderheiten (LGBT) bis hin zu Transgender Studies. Die Minderheiten und Migranten sind praktisch jedoch selbst Opfer dieses Gesellschaftsmodells, das wiederum die Spaltung der Gesellschaft verschärft, während es kein soziales Konzept für die Bekämpfung der Armut anbietet.
Nach der Identitätspolitisierung der Minderheiten von links ritt Ex-US-Präsident Donald Trump in den letzten Jahren auch auf einer Welle der Identitätspolitisierung von rechts. Damit ist das Ansprechen einer "Mehrheit" und deren Bild von den USA mit seinem simplen Slogan "Make America great again" gemeint. Weiße Männer ohne Hochschulabschluss außerhalb der Metropolen stimmten 2016 größtenteils für Trump, da sie von der Politik des liberalen Establishments enttäuscht waren und sich seit Jahren ignoriert fühlten.
Die Wahl Trumps war im Grunde eine Absage an die Diversitätsideologie der Globalisten, wonach eine Gesellschaft keine Substanz habe und nur ein Flickenteppich von heutigen und neu entstehenden Minderheitsgruppen sei. Das Problem besteht jedoch darin, dass Trump keine Alternative zur Identitätspolitik der liberalen Kräfte in den USA anbot, sondern die Identitätspolitik des westlichen Demokratiemodells in eine radikal rechte Richtung verschärfte. Die Trump-Basis radikalisierte sich derart, dass seine Äußerungen radikale rechte Gruppen und Militante ansprachen, die ihm wie einem religiösen Heilsbringer huldigten und am 6. Januar sogar bereit waren, das Kapitol für ihn zu stürmen.
Die sich in einer Radikalisierungsphase befindliche Rechte in USA glorifiziert die nationale Volksgemeinschaft, die weiß und homogen sein sollte, während auf der Tagesordnung der linksliberalen Eliten weiterhin die Forcierung einer One-World-Ideologie und der Wert der Diversität steht. Dies ist das Dilemma, in dem sich die US-amerikanische Gesellschaft befindet, und Biden, der aus dem liberalen Establishment kommt, könnte daran kaum etwas ändern. Denn er will nun zugunsten der "Diversity-Agenda" alles rückgängig machen, was Trump für sein Konzept "America First" in die Wege leitete. Hier bleibt natürlich zu fragen, wo genau überparteiliche und strategische Ziele der USA liegen, wenn die Identitätspolitik von rechts und links die politische Tagesordnung bestimmt.
Der Misserfolg des Westens bei der Bewältigung der jüngsten Krisen, sei es die Migrationskrise, sei es die COVID-19-Pandemie, macht deutlich, dass das westliche Demokratiemodell gefährlich nahe am Abgrund steht. Denn gerade in der Krise zeigt sich der Mangel an einem Konzept, dass die Solidarität in der Gesamtbevölkerung jenseits von Partikularinteressen - von rechts oder links - wiederherstellen kann.
Die FAZ kommentierte vor Kurzem den chinesischen Erfolg bei der Bewältigung der Corona-Krise und räumte ein, dass existierende liberale Demokratien sich als weitaus instabiler und gefährdete erwiesen hätten. In einem atemberaubenden Tempo habe das Reich der Mitte in fast allen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung den Abstand zu den westlichen Gesellschaften verringert.
Die FAZ schob allerdings die Schuld für das jüngste Versagen der westlichen Demokratien bei der Bewältigung der Krise den "autoritär-populistischen Regierungen" in den USA, Polen, Brasilien usw. in die Schuhe. Rechtspopulismus ist zum einen jedoch nicht die Ursache der heutigen Verhältnisse in den USA und Westeuropa, sondern Symptom der Krise eines Systems, das zum Teil nicht mehr funktioniert und nicht in der Lage ist, die Solidarität innerhalb der eigenen Bevölkerung wiederherzustellen. Zum anderen ist das Phänomen "Populismus" das Wesen des westlichen Demokratiesystems, in dessen Zentrum Massenmedien als Stimmungsmacher eine entscheidende Funktion einnehmen. Diese Rolle als solche spielen Medien in China oder Russland als mutmaßlichen Rivalen des Westens nicht.
Die Flüchtlingskrise 2015 wie auch die COVID-19-Pandemie 2020 forderten das westliche Gesellschaftsmodell heraus, ließen es jedoch nicht zusammenbrechen. Nun bleibt zu beobachten, ob dieses Modell weiteren großen Krisen gewachsen ist.
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