von Arkadi Shtaev
"Angesichts der neuen geostrategischen Lage braucht die Sicherheitspartnerschaft, der Glutkern des transatlantischen Verhältnisses, eine neue Übereinkunft: Die europäischen NATO-Staaten – mit Deutschland an erster Stelle – erhöhen ihre Fähigkeiten zur konventionellen Verteidigung erheblich. Dadurch entlasten sie die USA in Europa und erleichtern es ihnen, im Indo-Pazifik die Interessen der liberalen Demokratien zu schützen."
Was sich hier anhört wie eine Aufteilung der Welt in koloniale Einflusssphären, ein Zeitalter, das eigentlich schon längst als überwunden galt, stammt aus einem Thesenpapier, welches aktuell unter der Überschrift "Transatlantisch? Traut Euch" zirkuliert und von Vertretern verschiedener transatlantischer Institutionen und Denkfabriken fabriziert wurde. Unterüberschrift: "Für eine Neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika."
Alleine der Hinweis "Traut Euch" würde zum Schmunzeln anregen, wenn die geopolitische Ausgangslage nicht so ernst wäre, denn seit wann braucht man in der öffentlichen Debatte der Bundesrepublik Mut, um transatlantische Positionen zu vertreten? Bedenklich ist aber, dass diese Zeilen von ihren Verfassern ernsthaft wie folgt definiert werden, nämlich als "eine Handlungsempfehlung an die Bundesregierung und den Bundestag, erarbeitet von einer Gruppe von Expertinnen und Experten für Amerika-Politik".
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass diese "Handlungsempfehlung" eifrig von den üblichen Verdächtigen in der Medienwelt verbreitet wird und natürlich auch ihren Platz auf der Homepage der Heinrich-Böll Stiftung findet, die ja bekanntlich jener Partei nahe steht – den Grünen – die heute an vorderster Front NATO-treue und Kalte Kriegs-Mentalität propagiert.
Transatlantische Tagträumer
Diese Ausführungen sind deshalb so interessant, da sich hier eindrucksvoll offenbart, dass es sich bei den transatlantischen Denker im besten Fall um Theoretiker handelt, die anscheinend nicht in der Lage sind, ihre Theorien der geopolitischen Praxis anzugleichen. In dem Schriftstück heißt es weiter:
"Im Gegenzug bekräftigen die USA ihr Bekenntnis zur Verteidigung des Bündnisgebietes. Sie untermauern dies durch ihre dauerhafte militärische Präsenz in Europa sowie durch ihre nukleare Schutzzusage, die Deutschland durch die Nukleare Teilhabe unterstützen sollte, solange es Nuklearwaffenstaaten außerhalb der NATO gibt."
Das könnte dann noch sehr lange dauern, denn ist kaum zu erwarten, dass die Volksrepublik China, Indien, Israel oder Russland, um nur die bisherigen Nuklearwaffenstaaten außerhalb der NATO zu benennen, auf ihr atomares Arsenal verzichten, um es der NATO recht zu machen.
Noch naiver erscheinen diese Überlegungen, wenn es um das Verhältnis zur Volksrepublik China geht:
"Chinesische Machtpolitik ist zielgerichtet und langfristig angelegt; sie bestraft Naivität. Abgestimmtes Handeln ist das Gebot der Stunde, und deswegen braucht es auch hier eine Neue Übereinkunft: Biden sollte Trumps Versuch der wirtschaftlichen Abkopplung von China beenden. Deutschland und Europa hingegen werden Konsequenzen aus der Einsicht ziehen müssen, dass der Handel mit China sicherheitspolitischen Vorbehalten unterliegt. Gemeinsam sollten die Partner in ihrer China- Politik menschenrechtspolitische mit ordnungspolitischen Überzeugungen verknüpfen und so chinesisches Dominanzgebaren einhegen."
Aha, "chinesisches Dominanzgebaren" einhegen, da wird man in Peking ja zittern. Was nun die Menschenrechtspolitik angeht, da wird hier nicht über die Opfer westlichen Drohnenterrors gesprochen, dem schon zehntausende Zivilisten zum Opfer fielen, da wird nicht über die Misshandlung von Dissidenten im Westen wie Julian Assange schwadroniert, nein, da wird auch nicht gefaselt über die Menschenrechtspolitik im NATO-Staat Türkei oder bei den engen westlichen Verbündeten wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate.
Viel schlimmer erscheint aber, dass bei den Autoren nicht nur eine völlige transatlantische ideologische Zwangsfixierung vorliegt, sondern auch eine totale Ignoranz, ja eine totale Inkompetenz, die Folgen der westlichen Politik der letzten Jahrzehnte zumindest zu reflektieren. Offensichtlich haben die Verfasser nicht mitbekommen, dass die Thesen vom "Ende der Geschichte" schon längst überholt sind.
Diese Fehldiagnose des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama vom "End of History" war auf allzu fruchtbaren Boden gefallen. So begegnet die westliche Welt dem phänomenalen Aufstieg Chinas in den Rang der zweiten Weltmacht mit einem Gemisch aus Arroganz und Missgunst. Die explosive Dynamik Chinas erzeugt wachsende Furcht, ja die Ahnung des eigenen Rückfalls in unerträgliche Mittelmäßigkeit. Die an Sinophobie grenzende Abneigung, die immer wieder in der westlichen Berichterstattung über China zu erkennen ist, hängt wohl auch damit zusammen. Diese Politik hat die Welt weder sicherer, noch prowestlicher gestaltet. Der Terror wurde nicht ausgeschaltet, sondern mutierte erst durch den "War on Terror" zu einem globalen Phänomen.
Europa wach auf!
Statt sich weiter transatlantischen Tagträumen hinzugeben, sollte Europa aufwachen. Unser Kontinent bleibt weiter dazu gezwungen, sich endlich seiner geographischen und geopolitischen Ausgangslage bewusst zu werden. Eine Selbstverständlichkeit eigentlich, die aber immer noch zu wenig die Tagesordnung bestimmt. Führenden Politikern der Bundesrepublik will es nicht gelingen, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Kontinents ohne die Brille Washingtons zu erfassen.
Das ist ein Risiko, gar gefährlich, denn Europa bleibt von einem Feuerring aus diversen Krisenherden in Nordafrika, im Nahen Osten und im Südkaukasus umgeben. Mit dem transatlantischen Dogmen, die sich in diesem pseudowissenschaftlichen Traktat offenbaren, ist Europa in Gefahr. Oder, um es mit den Worte von Helmut Schmidt auszudrücken, der 1997 in einem Gespräch mit dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valery Giscard d'Estaing äußerte: "Wir überlassen den Amerikanern, über die Sicherheit Europas zu verfügen, in einer Weise – Erweiterung der NATO – wie sie gewissen amerikanischen Interessen entsprechen mag, aber ganz gewiss nicht den gesamteuropäischen Interessen."
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