Ein Gastbeitrag von Dr. Karin Kneissl
Anfang Juni 2017 hatte eine große Eskalation in den ohnehin fragilen Beziehungen zwischen den sechs Mitgliedern des Golfkooperationsrats (Gulf Cooperation Council; GCC) zu einer totalen Blockade Katars geführt. Die Kronprinzen von Saudi-Arabien, Mohammed bin Salman, und des Emirats Abu Dhabi (der Vereinigten Arabische Emirate), Muhammad bin Zayid Al Nahyan, beschuldigten den katarischen Emir Tamim Al Thani terroristischer Verbindungen und kündigten ein hartes Ultimatum an. Eine totale Blockade des gasreichen Emirats Katar, einer mit dem saudischen Territorium verbundenen Halbinsel, hatte für See-, Land- und Luftwege begonnen und bleibt bisher in Kraft. Am Vorabend des Treffens jedoch war die Aufhebung dieser Blockade die aktuelle Nachricht. Was bedeutet das?
Es ist sicherlich eine vertrauensbildende Maßnahme nach fast dreieinhalb Jahren sehr hoher wirtschaftlicher und politischer Kosten. Die Reise von Dubai nach Doha war zu einem problematischen Unterfangen geworden. Familien wurden auseinandergerissen, jeder Einzelne in Katar litt darunter. Nicht nur die Millionen Ausländer, die in der Region arbeiteten, sondern auch alle, die dort Geschäfte machten, waren davon betroffen. Katar unterwarf sich weder, noch verschwand es. Die Familie Al Thani schaffte es, diese Krise trotz der enormen Belastung für die Wirtschaft zu bewältigen.
Alles begann mit einem Deepfake-Video (Anm.: mit KI-Methoden erzeugte Fälschung), in dem Scheich Tamim mitten in der Nacht eine Rede hielt, die er nie gehalten hatte. Als ich ihm im Jahre 2019 begegnete, erfuhr ich mehr über die erstaunliche Verleumdungskampagne, die gegen ihn persönlich gestartet worden war. Für diejenigen, die sich an den US-Film "Wag the Dog" erinnern, der die enge Verbindung zwischen Filmemachern und Kriegsplanung darstellt, hatte mit dieser großen Krise unter den arabischen Golfstaaten eine neue Ära gefährlicher Propaganda begonnen. Wer auch immer dieses Video produziert hatte provozierte damit Chaos und Kosten. Ich schrieb in meinem letzten Buch über Diplomatie über diese Episode, denn sie ist das perfekte Beispiel, wie man durch öffentliche Diplomatie einen Nebel des Krieges schafft.
Der Riss ist tief und kompliziert
Ein Teil der aktuellen Bereinigung, die von Jared Kushner – dem Schwiegersohn des US-Präsidenten Donald Trump – und seiner Mannschaft vermittelt wird, besteht in Folgendem: Alle Parteien werden ihre Medienkampagnen gegeneinander einstellen. Diese Krise verlief fast parallel zu jener der Trump-Regierung. Die zugrundeliegenden Probleme gehen jedoch viel tiefer als alles, was seit Juni 2017 passiert ist. Es geht um eine langjährige Rivalität, die die Schaffung des in Doha ansässigen Satellitenkanals Al Jazeera und dessen saudischer Antwort Al Arabiya umfasst. Sie steht in Verbindung mit den Öl- und Gasmärkten. Katar ist seit Jahrzehnten ein führender Produzent von Flüssiggas und verließ im Jahre 2018 die OPEC, die Organisation der erdölexportierenden Länder. Außerdem ist die Rolle der von Katar unterstützten Muslimbruderschaft ein starkes Element der Spaltung innerhalb des GCC und darüber hinaus. Aus diesem Grund schloss sich Ägypten dem Boykott Katars an.
Einige Stimmen behaupten sogar, dass auch die Fußballweltmeisterschaft, die in einem Jahr in Katar stattfinden soll, ebenso eine Rolle bei der Entstehung dieses Risses spielt. Waren die beiden Kronprinzen bin Salman und bin Zayid neidisch auf Emir Tamim, da er dieses Fußballereignis ausführen kann? Das könnte die Analysten gewundert haben, die nach grundlegenden geopolitischen und wirtschaftlichen Daten suchen, um bestimmte Entscheidungen zu erklären. Aber oft beugt sich die Politik den ganz banalen menschlichen Emotionen wie Eifersucht – sicherlich nicht nur im arabischen Nahen Osten.
Könnte sich Saudi-Arabien von den Vereinigten Arabischen Emiraten distanzieren?
Der aktuelle diplomatische Waffenstillstand ist in erster Linie und hauptsächlich im Einvernehmen des Emirs von Katar und des saudischen Kronprinzen bin Salman erreicht worden. Verschiedene Quellen berichten, dass die Vereinigten Arabischen Emirate nicht erfreut sind. Der häufig launische bin Salman folgte der Meinung des erfahreneren Kollegen und Mentors aus Abu Dhabi, des Kronprinzen bin Zayid, eventuell auf zu vielen Gebieten und bereute einige seine Entscheidungen möglicherweise, nachdem er dem älteren arabischen Bruder blind gefolgt war.
Der Boykott Katars war vielleicht eine solche Entscheidung. Im Königreich Saudi-Arabien finden zunehmend Unruhen statt, da Riad Abu Dhabi in so vielen Fragen folgt. Eigentlich sollte es angesichts der Größe und der Rolle des wahhabitischen Königreichs genau umgekehrt sein.
In der vergangenen Woche begann das Kaffeesatzlesen, ob Saudi-Arabien wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und verschiedene andere arabischen Staaten ebenfalls diplomatische Beziehungen zu Israel aufnimmt. Vor Kurzem traf sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit bin Salman, um auf einem solchen Entgegenkommen zu beharren. Saudi-Arabien ist jedoch eine andere Kategorie. Dieses Land hat seinen Namen von seiner regierenden Familie; überhaupt ist Liechtenstein das weltweit einzige weitere Land, in dem dies der Fall ist. Und das Haus Saud, das mit Unterstützung von Briten und US-Amerikanern die alte Dynastie der Haschemiten vertrieb, welche ihre Abstammung und Legitimität bis zum Propheten Mohammed zurückverfolgte, hat als Wächter der heiligen Moscheen von Mekka und Medina eine besondere Verantwortung in der islamischen Welt. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind eher eine Art multinationales Unternehmen ohne eine solche Verantwortung. Es erscheint mir als unwahrscheinlich, dass Saudi-Arabien diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen wird, trotz aller anderen Elemente der Wiederannäherung auf militärischem und wissenschaftlichem Niveau. Der gemeinsame Nenner bleibt aber immer noch ihr gemeinsamer Hass auf die Islamische Republik Iran.
Regionale Spannungen gehen weiter
Katar wird seine besonderen Beziehungen zum Iran sicherlich aus mehreren Gründen weiterführen, unter anderem aufgrund der Geografie und Geologie, jedoch auch im Zusammenhang mit den vor Kurzem stattgefundenen Ereignissen. Ohne die Versorgung aus dem Iran wäre Katar eventuell nicht in der Lage, die umfassende Blockade auf dem Weg einzurichten, den sie gegangen sind. Ich möchte noch ergänzen, dass der Persische Golf neuerdings den Namen "Chalidsch al Arabi" (Arabischer Golf) nur in der arabischen Sprache trägt. Dieses Binnenmeer ist reich an Erdöl- und Erdgasvorräten und wird vom Iran als Hoheitsgebiet des alten Persiens angesehen.
Der GCC würde den Anschein der arabischen Einigkeit zurückerlangen. Doch unter dieser Oberfläche köcheln verschiedene andere Absichten weiter. Der GCC wurde 1981 als politische und wirtschaftliche Union gegründet. Ich erinnere mich aus Debatten jener Jahre an ihre Ambitionen, dem Beispiel der Europäischen Integration zu folgen, einschließlich einer gemeinsamen Währung. In den letzten drei Jahren wurde diese regionale Organisation komplett gelähmt, sehr zum Bedauern anderer Mitglieder, wie etwa Kuwait, das sein Bestes gab, um den GCC zu erhalten.
Vertrauensbildende Maßnahmen wurden getroffen. Die Gesichtswahrung ist ein wichtiger Aspekt bei der Lösung eines Dilemmas wie diesem. Es ist nur ein Anfang, jedoch ein wichtiger. Die Krise begleitete Trumps Regierung von Anfang an und bis zum anstehenden Ende. Einer der wahrscheinlichsten Gründe für die Entlassung von US-Außenminister Rex Tillerson im März 2018 war wohl sein Widerstand gegen Trumps Kurs in Sachen Katar. Als Zeuge einiger Kapitel dieser Krise würde ich sagen, dass der aktuelle Spielstand 1:0 für Katar lautet. Und das könnte sich auf die Bildung von Bündnissen innerhalb und außerhalb des "Arabischen" Persischen Golfs auswirken.
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Dr. Karin Kneissl lebt und arbeitet derzeit in Frankreich. Sie ist Nahostexpertin und ehemalige parteilose Außenministerin von Österreich.
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