Ein Meinungsbeitrag von Michael Rectenwald
Die USA sind so tief gespalten, dass einige vorlaute Stimmen eine formale Aufspaltung fordern – entweder zugunsten einer Lösung, die den Bundesstaaten mehr Autonomie zur Selbstverwaltung einräumt, oder aber gleich zugunsten einer Zweistaatenlösung. Keine der beiden Lösungen wird sich jedoch durchsetzen – dafür ist das "Zusammenbleiben" noch nicht schmerzhaft genug.
In der jüngsten Ausgabe seiner Publikation The American Mind veröffentlichte das Claremont Institute eine Artikelreihe mit dem Titel "A House Divided" – ein Thema, das laut der konservativen Denkfabrik von US-Amerikanern auf beiden Seiten des politischen Spaltgrabens heiß diskutiert wird. In der Einleitung argumentiert Matthew J. Peterson, dass eine Debatte über mögliche Lösungsansätze öffentlich geführt werden müsse, damit die Nation "ernsthafte und unerwartete Schocks für unser politisches und kulturelles Leben" vermeiden könne. Welche Maßnahmen soll man diskutieren, fragen Sie? Eben getrennte Wege zu gehen – und ob dies möglich oder überhaupt wünschenswert ist.
Unvereinbare Staaten von Amerika
Die Spaltung in den USA scheint eine unüberwindbare Sackgasse erreicht zu haben. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind geteilt – kulturell, wirtschaftlich und politisch – in zwei getrennte Stämme. Die Beschreibung der USA als einer zerstrittenen Nation bitter entfremdeter Menschen ist mittlerweile ein Klischee.
Demnach setzt sich das sogenannte "rote Amerika" – die eingefleischten Republikaner – aus den meist auf dem Land oder in den Vorstädten beheimateten, religiösen, bis an die Zähne bewaffneten Mitgliedern des "U! S! A!"-Stammes zusammen. Dieser Stamm ist stolz auf die Geschichte der USA und schätzt sein Erbe an Kultur und Tradition. Seine Mitglieder schätzen und verfechten die US-Verfassung – insbesondere die ersten zehn Zusatzartikel, die Bill of Rights.
Sie genießen Highschool-Football und die Jagd und hissen stolz die US-Flagge. Sie hassen das, was auch immer sie unter "Sozialismus" und "Kommunismus" verstehen, und schätzen die individuelle Freiheit und das System des freien Unternehmertums über alles. Im Zusammenhang mit dem gerade grassierenden Coronavirus nimmt diese Gruppe das Risiko in Kauf, schwört auf größtmögliche Autonomie und verachtet jegliche Anweisungen von Gouverneuren und Bürgermeistern zum Maskentragen, sozialer Distanzierung und Abschottung. Dies sind Trumps Staaten von Amerika: die "Schandhaften".
Der andere Stamm, das "blaue Amerika" – eingefleischte Demokraten – setzt sich aus Mitgliedern der "progressiven", städtischen, säkularen, hochentwickelten Küsteneliten zusammen, zuzüglich derer, die sich mit den genannten Werten identifizieren und das kulturelle Kapital schätzen, das mit der Befürwortung dieser Werte einhergeht. Viele in diesem Stamm glauben, dass die US-Geschichte nicht einen einzigen Lichtblick bietet und mit lauter Flecken besudelt ist – Flecken, die es wutentbrannt aufzudecken und dann mit allen notwendigen Mitteln zu entfernen sucht.
Dieser Stamm bleibt einer technokratischen Elite und einer Gesellschaft treu, die von einer Klasse akademischer, bürokratischer und medizinischer Experten verwaltet wird. Dieser Stamm verherrlicht das Konzept der kollektiven Verantwortung und verachtet den Individualismus der Rednecks. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie heißen Mitglieder dieses Stammes die universelle Maskenpflicht, soziale Distanzierung und Isolation willkommen. Dies werden jetzt Bidens Staaten von Amerika.
Zum jetzigen Zeitpunkt, so das Argument, haben die beiden Stämme wenig gemeinsam – und nichts als Verachtung füreinander übrig. Die erbitterte Feindschaft zwischen Blau und Rot ist so intensiv und tiefgreifend, dass etwas getan werden muss, argumentieren zumindest zwei der Mitwirkenden des Claremont-Instituts. (Ein dritter stellt zur Diskussion, dass der in der US-Verfassung festgeschriebene Föderalismus bereits ausreiche, um mit solcherlei Fraktionalismus zurechtzukommen.)
Diese beiden Schreibenden aber, unter den Pseudonymen "Rebecca" und "Tom Trenchard", legen nahe, dass die Differenzen zwischen den beiden Stämmen unvereinbar seien. Erstere fordert eine formale "Trennung" im Rahmen eines verstärkten Föderalismus (oder mehr Autonomie für die Bundesstaaten). Der zweite legt nahe, dass eine "Scheidung" und eine Zweistaatenlösung allein Abhilfe schaffen könne. In jedem Fall müsse ein zweiter Bürgerkrieg um jeden Preis vermieden werden. Er würde nicht, wie der erste, zur Wiedervereinigung des Landes führen, sondern nur unnötige Gewalt und noch mehr und tiefere Feindschaft mitbringen.
Im Jahr 1845 veröffentlichte der britische Staatsmann von der Tory-Partei und Teilzeit-Schriftsteller Benjamin Disraeli den Roman "Sybil oder die beiden Nationen". Darin beschreibt er mit den Ausdrucksmitteln der Fiktion die große Polarität, die damals im frisch industrialisierten England herrschte: die Arbeiterklasse auf der einen Seite und die industriellen neureichen Emporkömmlinge sowie die alte Aristokratie auf der anderen.
Der Zustand der vollends verarmten Arbeiterklasse, oder die "Condition of England Question" (der Frage zur "Lage Englands"), wie man sie auch nannte, wurde von Schriftstellern mit so unterschiedlichen politischen Überzeugungen behandelt wie dem Kommunisten Friedrich Engels, dem Liberalen John Stuart Mill, dem großen Romancier und gemäßigten Reformer Charles Dickens, dem wehmütigen Feudalisten Thomas Carlyle – und Disraeli selbst, für seinen Teil ein Konservativer. Die angebotenen Empfehlungen beinhalteten, je nach Autor, eine neue "Adelspflicht" für die Reichen, erweiterte politische Reformen oder die Einführung des Sozialismus.
In der Umarmung der Hassliebe gefangen
Es gibt einige Parallelen zu den heutigen USA. In den modernen Vereinigten Staaten von Amerika sind "die arbeitenden Klassen" nicht alle arm, obwohl sie über weniger kulturelles Kapital verfügen. Viele besitzen oder besaßen früher kleine Unternehmen. Sie arbeiten auch in einer Vielzahl von Berufen. Doch sie werden von den althergebrachten Medien genauso bekämpft und zum Schweigen gebracht wie von der Internet-Technokratie, und sie werden nicht die Kraft haben, sich den landesweiten COVID-Maßnahmen zu widersetzen, die höchstwahrscheinlich von der neuen Biden-Regierung auferlegt werden.
Wiederum sind Mitglieder der "Küsteneliten" ihrerseits nicht alle reich. Zu diesen "Eliten" gehören Studenten und ehemalige Studenten, die enorme Studienkredite angehäuft haben, Aktivisten, die meist unbequem in Gruppen in Familien- oder Nichtfamilienunterkünften leben, und die Laptop-Klasse, die unter heutigen Bedingungen der totalen Auslagerung aller und jeglicher Arbeitskräfte sich freiberuflich nur mit sporadischen und unsystematischen Aufträgen über Wasser hält.
Trotz ihres Hasses auf die "Küsteneliten" nutzen die vermeintlichen "Landeier" die Technologie, die Bildungssysteme und sogar die Medien und Plattformen der sozialen Medien, obwohl ihnen von diesen Institutionen nicht einmal der Wert von Abfall zugestanden wird.
Das "blaue Amerika" verlässt sich seinerseits auf "wesentliche Dienstleistungen" des "roten Amerikas", einschließlich Nahrung, Wohnen, Industrie, und auf den Markt, den das "rote Amerika" darstellt. Auch brauchen die "Blauen" das "rote Amerika", um ihr Gefühl der intellektuellen Überlegenheit zu stärken. Ohne den vermeintlichen Kontrast, den das "rote Amerika" bietet, müssten die "blauen Amerikaner" ihr Selbstwertgefühl auf tatsächliche Leistungen gründen – und diese sind in vielen Fällen recht spärlich.
Zudem heißt "Rot" und "Blau" nicht strikt "Landmitte" und "Küstengebiete". Rot und Blau leben untereinander, wobei die Ersteren mehr als nur ein wenig Angst haben, ihre Meinung zu äußern – aus Angst, von den Letzteren gemobbt zu werden. Einige Blaue arbeiten als Professoren – und leben dabei in ansonsten "roten" Universitätsstädten. Rote wiederum leben auch in städtischen Zentren, und einige sind genauso gebildet wie ihre blauen Altersgenossen.
Könnten sich die USA also unwiderruflich in ein rotes und ein blaues Kernland spalten? Meiner Ansicht nach ist das unwahrscheinlich. Das vorherrschende Bild von "zwei Amerikas" hat zwar einigen Wert – aber es ist eben nur eine Karikatur, die nicht wiedergibt, wie sehr sich die beiden "Nationen" vermischen und voneinander abhängig sind.
Schauen Sie sich auf der Karte an, wie in den einzelnen Bezirken bei den Präsidentschaftswahlen abgestimmt wurde. Während Trump in etwa 2.500 allgemein dünn besiedelten Bezirken gewann und Biden in nur etwa 500, aber dafür größtenteils bevölkerungsreichen, gibt dies immer noch keine leichte Spaltung her. Selbst innerhalb der Bezirke gibt es meist bedeutende rote oder blaue Minderheitsfraktionen. Der Schmerz der Trennung wäre größer als das Unbehagen, zusammenbleiben zu müssen. Daher werden diese verfeindeten Zwillinge in einer lieblosen, bitteren und unerträglichen Ehe eingesperrt bleiben – zumindest auf absehbare Zeit.
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Übersetzt aus dem Englischen. Michael Rectenwald ist Autor von zehn Büchern, das jüngste davon "Beyond Woke". In den Jahren 2008 bis 2019 war er Professor für Freie Künste an der New York University. Folgen Sie ihm auf Twitter unter @TheAntiPCProf.