Von Daniel Kovalik
Vielleicht ist Ihnen nach dem scheinbaren Sieg Joe Bidens bei den US-Präsidentschaftswahlen etwas Merkwürdiges aufgefallen – ausgerechnet liberale Politiker und Medien schlagen Alarm, dass Trump seine verbleibenden Monate im Amt nutzen könnte, um die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen.
Zum Beispiel brachte die New York Times am 12. November einen Artikel mit der Behauptung, dass "sowohl in Kabul als auch in Washington Regierungsbeamte mit Zugang zu Sicherheitsberichten befürchten, dass Präsident Trump in seinen letzten Tagen im Amt versuchen könnte, einen umfassenden Truppenabzug zu beschleunigen", bevor der "verantwortungsbewusstere" Biden übernimmt, der hingegen versuchen könnte, diesen Truppenabzug aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen. (Indes hat zur Redaktionszeit das Pentagon den Teilabzug der in Afghanistan und im Irak dislozierten US-Truppen verkündet, Anm. d. Red.)
Damit ist jetzt klar, dass es aktuell das liberale Establishment und die Demokratische Partei sind, die dem Krieg mehr verbunden sind als ihre Kollegen auf der anderen Seite des Durchgangs im Kongress. Und das sollte all die Menschen beunruhigen, die sich von einer neuen Regierung einen "progressiven" Wandel erhoffen.
Zunächst einmal müssen wir diese Diskussion mit der unbestrittenen Tatsache beginnen, dass die Staatsführung der USA nicht weiß – und das schon seit einiger Zeit –, was die Ziele und die Strategie der USA in Afghanistan überhaupt sind. Es ist verzeihlich, wenn man selbst als Otto Normalverbraucher um diese Tatsache nicht weiß oder sie vergaß, denn die unumstößlichen Beweise dafür – die sogenannten "Afghanistan Papers" – fanden nur sehr geringe und auch nur vorübergehende Beachtung, als sie im letzten Jahr in der Washington Postaufgedeckt wurden.
Wie diese Dokumente zeigen, die aus Interviews mit Hunderten von für die Führung der Kriegsbemühungen verantwortlichen Insidern bestehen, wurde die US-amerikanische Öffentlichkeit über den angeblichen "Fortschritt" in diesem Krieg absichtlich belogen – obwohl doch nicht einmal unsere Staatsführung wusste, was in diesem Krieg einen "Fortschritt" bedeuten sollte.
Wie man bei der Washington Post treffend bemerkte, hatte die US-Regierung nicht einmal jemals entschieden, gegen wen sie da eigentlich kämpfte: "War nun Al-Qaida der Feind oder die Taliban? War Pakistan ein Freund oder ein Gegner? Und was ist mit dem Islamischen Staat und dem verwirrend großen Aufgebot ausländischer Dschihadisten aus aller Herren Länder, ganz zu schweigen von den Warlords auf der Gehaltsliste der CIA? Diesen Dokumenten zufolge hatte sich die US-Regierung nie auf eine Antwort geeinigt." Nahezu alle, die jemals in diesem Morast steckten, waren sich einig, dass all die Milliarden US-Dollar umsonst ausgegeben wurden und die Tausenden von Toten vergeblich fielen. Es war alles eine kolossale Verschwendung.
Doch nun werden wir zur Panik angehalten – weil Trump diesen katastrophalen Konflikt beenden könnte. So sendete der ziemlich liberale und fast schon unverhohlen Biden-treue Nachrichtensender National Public Radio (NPR) fast die ganze vergangene Woche Beiträge über Frauenfußballmannschaften in Afghanistan. Die Botschaft dieser Sendungen war klar – diese Fußballmannschaften seien (angeblich) ein Beweis für die Fortschritte der Frauen in Afghanistan infolge der US-Intervention seit dem Jahr 2001, und diese Fortschritte sind nun gefährdet, wenn Trump diese Intervention beendet.
Solch manipulative Berichterstattung verschleiert natürlich die harte Tatsache, dass die USA die Frauenrechte in Afghanistan untergraben, und zwar seit sie im Jahre 1979 dort einzugreifen begannen, und dass Afghanistan bei den Frauenrechten von allen Ländern nach wie vor ganz unten rangiert. Aber es besteht kein Zweifel, dass solche Geschichten viele Biden-Anhängerinnen und -Anhänger für eine Fortführung des Kriegs dort erwärmen werden.
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Unterdessen steht nicht nur Afghanistan im Mittelpunkt der liberalen Kriegsbegeisterung. So umriss nach Berichten von Grayzone die demokratische Ko-Vorsitzende der vom Kongress ernannten Syrien-Studiengruppe Dana Stroul kürzlich die Pläne für eine noch tiefergreifende US-Intervention in Syrien – eine Intervention, zu deren Beendigung Trump zumindest ein Lippenbekenntnis abgelegt hatte.
"Freiheit" den Ölfeldern – Krieg ihren Besitzern
Stroul betonte insbesondere, dass "sich ein Drittel des syrischen Territoriums im Besitz des US-Militärs befindet, zusammen mit seinem Partner vor Ort, den Syrischen Demokratischen Streitkräften", dass dieses Territorium in Bezug auf Öl und Landwirtschaft zufällig das reichste in Syrien sei und dass die USA ihre Intervention in und gegen Syrien intensivieren würden, um die Kontrolle über dieses Territorium und seine Ressourcen zu behalten.
Natürlich ist die Übernahme der Ressourcen anderer Nationen eine Verletzung des Völkerrechts, einschließlich des Verbots der "Plünderung" gemäß der Genfer Konvention, aber das kümmert anscheinend niemanden.
Viel Feind, viel Freud'?
Ebenfalls erfreut sind die liberalen Medien über die Aussicht, dass das Weiße Haus von Biden eine aggressivere Außenpolitik sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber China verfolgen werde.
So erklärt zum Beispiel CNBC:
Jetzt dürfte sich in den Beziehungen zwischen den USA und Russland der Wind drehen. Zumindest erklärten Analytiker vor der [Verkündung der Wahl-] Ergebnisse CNBC, dass sie von einem Biden-Sieg eine Verschärfung der Spannungen zwischen Washington und Moskau und eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit neuer Sanktionen gegen Russland erwarteten. (...) Experten des Risikoberatungsunternehmens Teneo Intelligence gaben an, sie erwarteten mehr Zusammenarbeit zwischen Biden und Europa in globalen Fragen wie 'dem Vorgehen gegen China und Russland'.
Obwohl man ja normalerweise denken würde, dass verstärkte Spannungen zwischen zwei großen Atommächten keine willkommene Entwicklung sind, machte die jahrelange Verbreitung des erlogenen "Russiagate"-Narrativs die Liberalen für solche Spannungen empfänglich.
Unglaublicherweise wurde ausgerechnet Trump als nachgiebig gegenüber Russland dargestellt – und zwar selbst dann, als er aus einem wichtigen Rüstungskontrollvertrag (dem Vertrag über Nuklearstreitkräfte mittlerer Reichweite) ausstieg, der 1987 mit dem Kreml unterzeichnet worden war, und sogar dann noch, als er das größte Kontingent an US-Truppen (20.000) seit einem Vierteljahrhundert zu gemeinsamen Übungen mit europäischen Soldaten an der russischen Grenze entsandte.
Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass das direkte Gegenstück – die Entsendung Zehntausender russischer Truppen an die Grenze zu den USA – einfach unvorstellbar ist und in Washington tatsächlich als Kriegsgrund angesehen würde. Ich für meinen Teil bin ziemlich beunruhigt, wenn ich nur daran denke, mir eine Biden-Politik des "härteren Vorgehens" gegen Russland ausmalen zu müssen – und welche Art von Katastrophe sie auslösen könnte.
Bedauerlicherweise lebe ich jetzt in einem Land, in dem die Liberalen die Konservativen in ihrer Toleranz, ja, sogar ihrem Eifer für Aggression und Krieg überholt haben – insbesondere dann, wenn diese Aggression und dieser Krieg von weiblichen oder schwarzen Regierungsbeamten geführt werden, was wir in der neuen Biden-Administration sicher häufiger sehen werden. Zum ersten Mal in letzter Zeit habe ich die Nutzung des Begriffs "intersektioneller Imperialismus" zur Beschreibung dieser Situation beobachtet. Und ich bin der Ansicht, dass dies ein sehr reales Phänomen ist – nämlich noch ein weiteres Mittel, mit dem der Krieg breiten Schichten der US-amerikanischen Öffentlichkeit hinreichend versüßt werden soll.
Die Ironie liegt natürlich darin, dass die von den USA im Krieg abgeworfenen Bomben – ganz gleich, wer zu diesem Zeitpunkt zufällig an der Spitze der US-Regierung steht – stets unverhältnismäßig stark auf Frauen und Kinder mit dunklerer Hautfarbe herabfallen. Und so werden auch diese Bomben genauso viele verstümmeln und töten wie die von alten weißen männlichen Republikanern abgeworfenen Bomben. Leider scheinen nur wenige dies zu verstehen – oder sich darum zu scheren.
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Übersetzt aus dem Englischen. Daniel Kovalik lehrt Internationales Menschenrecht an der University of Pittsburgh School of Law und ist Autor des kürzlich erschienenen Buches "No More War: How the West Violates International Law by Using 'Humanitarian' Intervention to Advance Economic and Strategic Interests".
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