Joe Biden, Donald Trump und der deutsche Glaube an einen historischen Betriebsunfall in den USA

In den USA steht noch immer nicht fest, wer die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat. In Deutschland zeigten sich Medien überrascht, dass so viele US-Amerikaner erneut für Donald Trump stimmen. Man hat offensichtlich nicht verstanden, warum er schon 2016 gewählt wurde.

von Zlatko Percinic

Als Donald Trump vor vier Jahren gegen Hillary Clinton gewann und ins Weiße Haus in Washington einzog, strafte er sämtliche professionelle Umfrageinstitute Lügen. Niemand räumte dem unerfahrenen Kandidaten der Republikaner eine Chance gegen eine ehemalige First Lady, Außenministerin und Senatorin für den Bundesstaat New York ein. Nach der Präsidentschaft von Barack Obama, dem ersten afroamerikanischen Präsidenten in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, sollte sie als erste Präsidentin in der US-Geschichte für einen weiteren Superlativ sorgen. Die Unterstützung aus Deutschland wäre ihr sicher gewesen, wo sich seit 2005 in Angela Merkel ebenfalls zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine Frau an der Macht hält. 

Die Bevölkerung der USA und alle anderen Menschen hatten vier Jahre Zeit, Trump in der Position als "POTUS" besser kennenzulernen. Schnell wurde klar, dass der 45. Präsident polarisiert und nicht so sein würde wie seine Vorgänger. Er erklärte den Mainstream-Medien den Krieg, rüttelte an der transatlantischen Allianz und düpierte Obamas Freundin in Berlin. Unter Trump nahm auch die Spaltung innerhalb der USA weiter zu, die ihren Anfang aber lange vor ihm nahm. Er beschleunigte lediglich diesen Prozess und gab insbesondere Menschen am rechten Rand das Gefühl, keine Außenseiter zu sein. 

Außenpolitisch versuchte Trump, sein Wahlversprechen "America First" umzusetzen, und scheute sich nicht davor zurück, einen Wirtschaftskrieg gegen China und die EU zu beginnen, um US-amerikanische Interessen knallhart durchzusetzen. Deutschland ließ er deutlich spüren, dass die Zeit der versteckten Bevormundung zu Ende ging. Entweder tanze die Bundesregierung nach der Pfeife Washingtons, oder sie bekomme Trumps Ärger zu spüren. 

Viele deutsche Politiker, die sich nach Jahrzehnten der Amerikanisierung und Beeinflussung durch eine Vielzahl an Denkfabriken, Netzwerken und nicht zuletzt auch der US-Botschaft gar nicht mehr daran störten, wurden durch Trumps Art unangenehm überrascht. Selbst die "oberste Praktikantin der Amerikanisierung der Berliner Republik", wie Merkel in einem Spiegel-Beitrag genannt wurde, musste aus dieser Illusion erwachen. Noch nie zuvor wurde sie von einem Staatschef öffentlich so gedemütigt wie von Trump. Aber eine erkennbare Reaktion blieb aus.

Stattdessen hofften die Kanzlerin und mit ihr die Medien offensichtlich, dass die Tage des Donald Trump im Weißen Haus gezählt sind. Sie setzten ihre Hoffnungen auf Joe Biden, einen bald 78-jährigen Mann, der im Wahlkampf immer wieder mit Aussetzern und Gedächtnislücken zu kämpfen hatte. Mit ihm sollten die Beziehungen wieder in die gewohnte Komfortzone zurückkehren, in der die Dinge unterhalb des öffentlichen Radars geregelt werden und man wieder so tun könnte, als ob es diese Bevormundung aus Washington nicht gäbe. Es wurde augenscheinlich angenommen, dass auch die US-Bevölkerung nach vier Jahren die Nase voll von Trump habe und man ihn als eine Art Betriebsunfall der Geschichte aus dem Amt wählen werde. Die Umfragen, die rege Teilnahme an der vorzeitigen Briefwahl und schließlich die Corona-Krise wog die Vertreter von Politik und Medien offensichtlich in falscher Sicherheit.

Doch es sollte erneut anders kommen. Statt eines klaren Sieges Bidens stand es nach der ersten Wahlnacht unentschieden. Am Morgen mussten die Radio- und TV-Moderatoren den Menschen in Deutschland erklären, warum das so ist. Warum die Wählerinnen und Wähler in den USA trotzdem millionenfach für Trump stimmen, obwohl man doch wochenlang berichtete, dass er aus unterschiedlichen Gründen höchstwahrscheinlich verlieren werde. Noch ist nichts entschieden, dieser Fall kann natürlich nach wie vor eintreten. Trotzdem ist der Nimbus der qualitativen Berichterstattung erst einmal (wieder?) angekratzt. 

Trump war kein Betriebsunfall

Die Annahme, dass Donald Trump nur ein Zufallsprodukt der US-amerikanischen Geschichte war, dessen man sich nach einer Amtszeit wieder entledigen und so tun kann, als ob es diesen 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nie gegeben hätte, ist bestenfalls naiv. Und schlimmstenfalls gefährlich. Mit einer solchen Herangehensweise werden die Umstände ignoriert, die Trump bereits vor vier Jahren ins Weiße Haus brachten.

Natürlich verfing MAGA (Make America Great Again) bei einem bestimmten Teil der US-Bevölkerung, der sich die vermeintlich guten alten Zeiten des "American way of life" zurückwünschte. Aber das allein griffe zu kurz. Schließlich hatte man 2016 acht Jahre Obama hinter sich, einen mit einem Friedensnobelpreis geehrten afroamerikanischen Demokraten, der insbesondere in Deutschland als eine Art Wiedergeburt John F. Kennedys verehrt wurde. 

Obama war tatsächlich ein brillanter Rhetoriker, der es verstand, genau das zu sagen, was das Zielpublikum im In- und Ausland hören wollte. Es war aber auch Obama, der den Drohnenkrieg in verschiedenen Ländern massiv ausweitete, der die Verantwortlichen der Finanzkrise schützte und ungestraft davonkommen ließ, obwohl Millionen US-Amerikaner deswegen ihr Hab und Gut verloren hatten. Und was gerade für den ersten afroamerikanischen Präsidenten möglicherweise am schwersten wiegt: Er enttäuschte die Afroamerikaner. Vielleicht waren die Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaft zu hoch, vielleicht waren die Erwartungen auf ein besseres Leben nicht realistisch. Am Ende war zumindest die Enttäuschung groß. 

Als Trump auf der Bildfläche auftauchte und versprach, den "Sumpf" der Korruption "auszutrocknen", sprach er Millionen Menschen aus dem Herzen. Die Regierung und alle, die mit dem Idiom "Inside the Beltway" in Verbindung gebracht werden, gelten schon lange als losgelöst von den Interessen der Bevölkerung. Trumps Kampfansage an das Establishment kam deshalb bei Gegnern dieses Systems gut an. 

Den Sumpf konnte er zwar nicht trockenlegen, aber offensichtlich nehmen ihm das die Wählerinnen und Wähler nicht übel. Bei den sogenannten Exit-Polls gaben viele Menschen an, dass ihnen wirtschaftliche Themen ganz besonders am Herzen liegen. Angesichts der schrumpfenden Mittelschicht und der grotesken Schere zwischen Arm und Reich – zu der Trump ebenfalls beitrug! –, ist das wenig überraschend.

Interessant ist aber eine weitere Umfrage von Wählern nach der Stimmenabgabe: 75 Prozent, die für Trump stimmten, taten das aus Überzeugung von ihm. Nur 22 Prozent sagten, dass ihre Wahl gegen Biden gerichtet war. Ganz anders sah das bei den Wählerinnen und Wählern Bidens aus: Hier sagte zwar immer noch eine Mehrheit von 54 Prozent, dass sie Biden aus Überzeugung wählten, aber bei 44 Prozent war es eine Protestwahl gegen Trump. Mit anderen Worten bedeutet das, dass also viel mehr Menschen dem amtierenden Präsidenten aus Überzeugung wählen, als das bei seinem Herausforderer der Fall ist. 

Das System muss geändert werden

Selbst wenn Trump die Wahl doch noch verlieren sollte, wonach es momentan (Stand 5. November) aussieht, so zeigt das äußerst knappe Kopf-an-Kopf-Rennen dennoch, dass der Präsident für Millionen von US-Amerikanern seine absolute Berechtigung hat und eben kein Betriebsunfall der Geschichte ist. Die politische und gesellschaftliche Entwicklung in den (Un-)Vereinigten Staaten von Amerika war es erst, die den Boden für Trumps Wahl 2016 ebnete, und daran änderte sich bis heute nichts. Diejenigen, die vor vier Jahren genau aus diesen Gründen gegen Clinton stimmten, indem sie Trump wählten, tun das auch jetzt wieder, weil sich am System nichts geändert hat. 

Auch wenn Biden mithilfe dieser von Trump enttäuschten Wähler gewänne, gibt es keine Anzeichen dafür, dass er irgendetwas am System ändern würde. Ganz im Gegenteil. Bei einem Wahlkampfauftritt mit Obama am 31. Oktober in Flint, Michigan pries Biden die gemeinsamen acht Jahre mit dem Ex-Präsidenten als eine Art goldene Zeit an:

Wir sind durch diese acht Jahre ohne eine einzige Spur eines Skandals durchgegangen. Nicht eine einzige Spur eines Skandals. Es wäre schön, dahin zurückzukehren.

Es gab vielleicht tatsächlich nicht solche Skandale, wie sie Trump zuhauf provozierte, aber die Obama-Administration hatte alles andere als eine weiße Weste, wie weiter oben schon erwähnt wurde. Nicht umsonst wurde auch die Demokratische Partei 2016 abgewählt, weil man sie und ihre Abgeordneten im Kongress eben nicht als Volksvertreter betrachtete, die die Interessen der Bevölkerung vertreten, sondern als Vertreter des Establishments. Alexandria Ocasio-Cortez, eine aufstrebende junge Abgeordnete der Demokraten im Repräsentantenhaus, zog die Lehren aus den  vergangenen Jahren und erkannte, dass sich etwas Grundlegendes in dem Land ändern muss. Deshalb warnte sie ihre Parteifreunde:

Wir müssen eine komplett neue Welt aufbauen. Wir können nicht akzeptieren, dass wir so weitermachen wie früher, und das schließt die Demokratische Partei mit ein.

Dass Biden diese Warnung erst nimmt, ist unwahrscheinlich. Er machte wiederholt klar, dass er an dem System nichts ändern würde. Seinen größten Spendern versprach Biden, dass er nichts unternehmen würde, das ihren Reichtum gefährden könnte, oder dass er sich nicht mit Konzernen anlegen würde. Das könnte dann allerdings den Weg für einen neuen Trump ebnen, der die Gesellschaft noch weiter radikalisiert. 

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