von Thomas Fasbender
Seit über hundert Jahren ist Blasphemie in Frankreich keine Straftat mehr – das Land, seit den Merowingern die "älteste Tochter der katholischen Kirche", ist den Weg der Trennung von Staat und Kirche früher und konsequenter gegangen als das übrige Europa. Gotteslästerung als Freiheitsakt beschreibt eine verbreitete Haltung. Die schwindende Zahl gläubiger Christen hat gelernt, mit der Ausgrenzung zu leben. Doch seit einem halben Jahrhundert wächst auch in Frankreich der Islam. Viele Muslime sind so liberal und laizistisch wie ihre post-christlichen Mitbürger – viele andere nicht. Die Letzteren sehen in der Duldsamkeit der französischen Katholiken kein Vorbild. Sie denken und argumentieren so: Wenn die Christen ihren Gott verhöhnen lassen, bitte sehr. Doch Allah verhöhnen, das geht nicht.
Damit erodiert das Gleichgewicht, das Frankreich eine lange Zeit des Religionsfriedens beschert hat: Die Atheisten durften lästern, die Christen durften beten. Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit waren ausgesöhnt. Die Mordanschläge seit den Charlie-Hebdo-Karikaturen beweisen, dass dieser Religionsfriede für einen Teil der Muslime nicht gilt. Der Mord in Conflans-Sainte-Honorine am Freitag verdeutlicht: Auch verbriefte Rechte sind wirkungslos, wenn kein gesellschaftlicher Grundkonsens sie stützt. Welcher Lehrer wird noch die Meinungsfreiheit anhand von Mohammed-Karikaturen illustrieren, wenn ihm dafür der Kopf abgeschnitten wird?
Für französische Intellektuelle ist es eine Errungenschaft, jedweden Gott und Gottesglauben zu karikieren. Ein Ehrenrecht, der Geschichte abgetrotzt. Da wirkt es wie die Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ein junger Tschetschene in Conflans-Sainte-Honorine der Täter war. Das kaukasische Bergvolk pflegt einen der strengsten Ehrenkodexe in ganz Europa, vielleicht in der ganzen Welt. Und beider Ehrvorstellungen, die der französischen Intellektuellen und die der gottesfürchtigen Kaukasier, liegen direkt auf Kollisionskurs.
Der erschossene 18-Jährige wird nicht wenigen seiner Glaubensgenossen als Märtyrer gelten. Vielleicht nur stillschweigend, insgeheim. Egal wie laut die Befürworter einer "islamischen Reformation" eine "Europäisierung" der jüngsten der drei Buchreligionen fordern – die Kraft, das zu bewerkstelligen, besitzt der Kontinent nicht mehr. Zu ihrer Hochzeit konnte die europäische Aufklärung das Christentum einhegen – aber heute den Islam? Im Übrigen wurde nur das europäische Christentum eingehegt. Die Evangelikalen und andere außereuropäische Strömungen sind dem Fundamentalismus durchaus zugeneigt.
Anschläge wie der in Conflans-Sainte-Honorine spiegeln die Zwiespältigkeit der europäischen Werte. Was ist denn Gotteslästerung? Ein Recht, meinetwegen. Aber ein Wert? Eine geschlossene Gesellschaft, sagen wir Frankreich um 1970, kann sich darauf einigen: die Freiheit zu glauben und die Freiheit zu lästern unter einem Dach. Aber eine multikulturelle Gesellschaft? Die Zukunft hat einen Preis. Der Luxus, den Frankreich sich lange Zeit geleistet hat, das Nebeneinander von Verehrung und Verachtung, von Glaube und Spott, wird nicht länger möglich sein. Jedenfalls nicht friedlich.
Der Osten hat schon reagiert. Russland, seit jeher multikulturell und multikonfessionell, hat das Strafmaß für Blasphemie schon vor Jahren nach oben gesetzt. Auch Mittelosteuropa steckt die Grenzen enger. Das französische Experiment konnte funktionieren, als der europäische Westen weiß und lauwarm christlich war. Im 21. Jahrhundert ist das Vergangenheit.
Die Vorgänge in Frankreich markieren den Epochenwechsel, in denen wir hineingeraten sind. Europa gehört seinen Eingeborenen nicht mehr allein, und die europäische Vernunft wird den Islam nicht in dem Ausmaß bändigen, wie sie den Katholizismus gebändigt hat. Vom Protestantismus ganz zu schweigen. Ob Gotteslästerung im Namen der Meinungsfreiheit eine große Zukunft hat, darf bezweifelt werden.
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