von Dr. Karin Kneissl
Nord Stream hatte immer die richtigen Zutaten, um die besonnenen Deutschen in Emotionen zu versetzen. Ich erinnere mich an Energiekonferenzen in Deutschland im Jahr 2006, als bereits die Idee einer solchen Gaspipeline als direkte Verbindung von Russland nach Deutschland tiefe Risse nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern auch innerhalb Deutschlands hervorrief. Den Konservativen gefiel die Idee aus dem einfachen Grund nicht, dass es ein "Schröder-Ding" war – ein Erbe des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der die Wahl im September 2005 gegen Angela Merkel verlor. Schröder hatte das Projekt mit Präsident Wladimir Putin besprochen und dann den Vorsitz des für die Umsetzung zuständigen Unternehmens geführt.
Parteipolitik und Pipelines
Damals wurde ich von der konservativen Denkfabrik Hanns-Seidel-Stiftung eingeladen, die von der bayerischen CSU geleitet wird. In München fiel das Fazit der Debatte über dieses Energieprojekt als Möglichkeit, die Verkehrswege zu diversifizieren, negativ aus: "Diese deutsch-russische Pipeline würde eine gemeinsame europäischen Außenpolitik und alle EU-Energieambitionen sprengen." Ich habe mir alle Argumente genau angehört, nachdem ich die Gelegenheit hatte, bei verschiedenen energiebezogenen Veranstaltungen zu sprechen – vom Parlament bis zu den Universitäten. Bei Treffen unter der Schirmherrschaft der SPD, z.B. bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, wurde Nord Stream viel freundlicher wahrgenommen. Doch im Laufe der Jahre wurde die Kluft zwischen den verschiedenen politischen Strömungen immer kleiner. Es kam anscheinend zu einem Konsens, eine verstärkte Energiezusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau zu unterstützen. Kabinettsmitglieder jeder Herkunft (erinnern Sie sich an die liberale FDP) verteidigten die im Jahr 2012 in Betrieb genommene Pipeline. Im Jahr 2017 wurden zusätzlich zu den beiden bestehenden Linien zwei weitere Stränge beschlossen. Nord Stream 2, besser bekannt unter der Abkürzung NS2, war nun das neue große Projekt. Hunderte Unternehmen, darunter Gazprom, Royal Dutch Shell und Wintershall, entwarfen die Verträge. Den einzelnen Bauphasen wurden Milliarden von Investitionsvolumina zugeordnet.
Und jetzt, Anfang September 2020, in der allerletzten Bauphase der rund 1.200 Kilometer langen Pipeline, ist alles ungewiss. Dieser Grad an Unsicherheit ist aber nichts Neues. Die US-Sanktionen verzögern seit Anfang 2020 die Verlegung der Rohre auf dem Meeresboden. Ein Spezialschiff einer mit Sanktionen bedrohten Schweizer Firma musste ersetzt werden. Zuvor hatte die Europäische Kommission verschiedene Rechtsvorschriften vorgelegt, die von den Unternehmen im Nachhinein erfüllt wurden.
Nun stellen die Berichte aus Deutschland über die Gesundheit des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny wieder alles auf den Kopf. Der Gesundheitszustand Nawalnys, der derzeit in der Berliner Klinik Charité aus einem medizinisch bedingten Koma zurückgeholt wird, hat eine politische Kakofonie über die Grundlagen der Beziehungen zwischen Deutschland, der EU und Russland ausgelöst – mit der Pipeline im Vordergrund. Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen forderte als Erster, die Pipeline aus geopolitischen Gründen zu stoppen. Röttgen gehört zu den Konservativen, die für den CDU-Vorsitz kandidieren.
Parallel dazu versucht Bundeskanzlerin Merkel immer noch, eine Balance zwischen den rechtlichen Verpflichtungen – ihrem bekannten Mantra, wonach NS2 ein "rein kommerzielles Projekt" sei – und einer großen außenpolitischen Krise herzustellen. Die Kanzlerin hatte sich immer auf die geschäftliche Dimension konzentriert. Die meisten Energieprojekte, abgesehen von Windparks vielleicht, haben stets auch eine geopolitische Dimension. Dies trifft sicherlich auch auf Nord Stream zu. Auch wenn es ausschließlich auf Verträgen zwischen Unternehmen basiert, ist der politische Einfluss immer noch groß. Bei meinen Treffen als Außenministerin wurde ich mit der wiederkehrenden und sehr harten Kritik von US-Vertretern konfrontiert. Ich erinnere mich, dass sich US-Außenminister Mike Pompeo bei einer Tischrede bei der UN-Generalversammlung im September 2018 auf nur ein Thema fokussierte: Nord Stream 2. Ich reagierte darauf mit dem Hinweis, dass Pipelines nicht gebaut werden, um andere zu ärgern, sondern weil Nachfrage besteht. Doch eines war klar: Die US-Opposition gegen Nord Stream würde nicht nachlassen. Und wir sehen es erneut, denn die Anzahl der Tweets und Interviews zu diesem Thema nimmt auf beiden Seiten des Atlantiks weiter zu. Was wir heutzutage erleben, ist eine enorme Politisierung der Pipeline, bei der eine eine große Zahl von Personen das Wort ergreift.
Diplomatische Konfrontation statt Lösung
Verschiedene deutsche Stellen, darunter die Labors der Bundeswehr, haben den Vorwurf erhoben, Nawalny sei mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden. Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärte in einem am Sonntag veröffentlichten Bild-Interview: "Ich hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern. Wir haben hohe Erwartungen an die russische Regierung, dass sie dieses schwere Verbrechen aufklärt." Er behauptete, "viele Indizien" dafür gesehen zu haben, dass der russische Staat hinter dem Giftanschlag stecke. "Die tödliche Chemiewaffe, mit der Nawalny vergiftet wurde, befand sich in der Vergangenheit im Besitz russischer Stellen", betonte er. Er räumte ein, dass der Baustopp der fast fertiggestellten Pipeline auch deutschen und europäischen Geschäftsinteressen schaden würde, und wies darauf hin, dass am Bau "über 100 Unternehmen aus zwölf europäischen Ländern beteiligt sind, von denen etwa die Hälfte aus Deutschland stammt". Der Minister drohte dem Kreml außerdem mit umfassenderen EU-Sanktionen, sollte dieser "in den nächsten Tagen" keine Beiträge zur Aufklärung leisten. Das russische Außenministerium stellte daraufhin wiederholt Fragen zu der Vergiftung.
Wir stecken also in einer sehr vergifteten Atmosphäre, in der es schwierig sein könnte, Positionen zu überarbeiten, ohne das Gesicht zu verlieren. Der Sozialdemokrat Maas hat ebenso wie der Konservative Röttgen und viele andere dieses Infrastrukturprojekt aus verschiedenen Gründen in die Medien gebracht. Meiner Beobachtung aus der Ferne nach könnte dies mit ihren jeweiligen persönlichen Ambitionen, nämlich auch sich vom vom politischen Riesen Merkel zu emanzipieren, zu tun haben. Aufgrund ihres professionellen und einfühlsamen Umgangs mit der Pandemie ist die Kanzlerin heute viel beliebter als vor der Krise. Das ist für einen Juniorpartner, vertreten durch Außenminister Maas, schwierig – genauso wie für alle anderen, die sie innerhalb der Partei herausfordern wollen.
Es wäre hilfreich, das Thema aus den Medien und der Tagespolitik herauszunehmen. Lautstarke Aussagen mögen zwar für gewisse Interessen von Vorteil sein, doch bestimmt nicht dienen sie dem allgemeinen Interesse. Und davon steht eine Menge auf dem Spiel. Es geht nicht nur um die Energiesicherheit in Zeiten der Energiewende, des Atomausstiegs, den Merkel im Frühjahr 2011 beschlossen hat. Falls die Pipeline gestoppt wird, halte ich als Rechtswissenschaftlerin den Verlust des Vertrauens in die Vertragstreue für den größten Kollateralschaden. Dieses Grundprinzip jeder Zivilisation wurde von den Römern als "Pacta Sunt Servanda" geprägt. Unser Rechtssystem basiert auf dem römischen Recht. Wer wird künftig noch Verträge solcher Größenordnungen mit deutschen Unternehmen abschließen, wenn die Politik die Handelsbedingungen über Nacht ändert?
Erinnerungen an South Stream werden wach
Im Juni 2014 war man an den Küsten des Schwarzen Meeres in Russland und Bulgarien für den Baustart der Gaspipeline South Stream bereit. Auf Druck der Europäischen Kommission begannen die Arbeiten aber nie. Ursache dafür war der Streit rund um die Ukraine, vor allem die Annexion der Krim. Das rechtliche Argument war jedoch, dass die Ausschreibungen für die Verträge im Widerspruch zu den EU-Wettbewerbsregeln standen. Man zog Zehntausende von Arbeitserlaubnissen zurück, die von Bulgarien bis Serbien usw. ausgestellt worden waren. Die wirtschaftliche Folge war der zunehmende Einfluss Chinas in der Region. South Stream wurde über die Türkei umgeleitet.
Wir befinden uns also mitten in einer diplomatischen Pattsituation. Es ist ein echtes Dilemma, aber es könnte auch ein Wendepunkt sein. Werden die Verträge eingehalten, oder werden wir auf allen Ebenen in einen weiteren Kreislauf der Unsicherheit geraten? Deutschland ist auf Verträgen und Normen (eventuell auf viel zu vielen) und nicht auf Willkür aufgebaut.
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