Von Wladislaw Sankin
Es könnte zu einem der größten PR-Geschenke der letzten Jahre für Deutschland werden: Alexei Nawalny und seine mutmaßliche Vergiftung. Denn nach weniger als zwei Tagen Krankenhausaufenthalt im sibirischen Omsk wurde er mit einem Privatjet in die berühmte Berliner Charité eingeliefert. Nicht nur das deutsche Gesundheitswesen könnte infolge dieser Aktion punkten, sondern auch die deutsche Politik, denn die Einlieferung wurde auf oberster Staatsebene ausgehandelt und umgesetzt.
Vor allem kann die Bundesrepublik sich als humanitärer Akteur und gar als potenzielle Asylheimat profilieren und Russland als ein Land dämonisieren, in dem Oppositionelle angeblich gejagt werden. Nawalny, Politiker und Chef des Anti-Korruptions-Büros, wird geradezu mit Staatsehren als "Gast der Kanzlerin" (ZDF) empfangen, seine Einlieferung unter massivem Polizeischutz wird von den Medien gerne als politisches "Signal" an Moskau gedeutet.
Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Dirk Wiese, hat eine transparente Aufklärung im Fall des möglicherweise vergifteten russischen Regimekritikers Alexei Nawalny gefordert", schrieben deutsche Medien am Sonntag.
"Der Vorwurf der Vergiftung steht im Raum. Die rapide Verschlechterung von Nawalnys Gesundheitszustand muss glaubwürdig, transparent und kooperativ mit den russischen Behörden aufgeklärt werden", sagte Wiese. Es wird schon über diplomatische Folgen diskutiert. Auch Regierungssprecher Steffen Seibert äußerte sich ähnlich: Die Forderung der Bundesregierung nach Aufklärung "in voller Transparenz" bleibe bestehen, da der "schwerwiegende Verdacht eines Giftanschlags im Raum steht". Für eine mögliche Vergiftung gebe es "leider in der jüngeren russischen Geschichte den einen oder anderen Beispielfall".
Deswegen nimmt die Welt diesen Verdacht sehr ernst", so Seibert.
Für viele deutsche Medien scheint der Fall bereits aufgeklärt zu sein. So nennt der Tagesspiegel in Putin direkt den "Täter" und warnt Deutschland davor, bei dem Mord zum "Komplizen" Moskaus zu werden. Der gegenwärtige Machtapparat habe seinen Amtssitz nur von Sodom nach Gomorrha verlegt, schreibt die Welt im Zusammenhang mit dem inzwischen nahezu sicher geglaubten Mordanschlag auf Nawalny:
Sadismus, Demütigung und Einschüchterung sind in Russland bis heute zu Hause.
Und der deutsche Ex-Botschafter Rüdiger von Fritsch nannte dem ZDF bereits am 20. August gleich drei mögliche Erklärungen dafür, dass Putin den Mord an Nawalny in Auftrag gegeben haben könnte.
Da zeigen die deutschen Medien und die Politik einmal mehr ihren Hochmut. Denn ohne ausdrückliche Zustimmung der russischen Führung und womöglich auch eigenes politisches Interesse wäre die Behandlung des "schärfsten Kreml-Kritikers" in einem NATO-Staat nicht möglich gewesen. Hat Russland etwa nicht selbst gute Krankenhäuser und eigene Ärzte? Ein Team aus Omsker sowie extra eingeflogenen Moskauer Fachleuten kämpfte 44 Stunden lang letztlich erfolgreich um sein Leben, bevor Nawalny am Samstag nach Deutschland gebracht wurde.
Der Fall des WikiLeaks-Gründers Julian Assange, der schon mehr als ein Jahr in Ungewissheit über eine Auslieferung an die USA lebt, bietet hierzu eine unschöne Parallele.
Assanges gesundheitlicher Zustand, der sich während seiner langjährigen Einsperrung – zunächst notgedrungen in der ecuadorianischen Botschaft, danach im Londoner Gefängnis – immer mehr verschlechterte, zeigt, wie wählerisch die Humanität der deutschen Politik in Wirklichkeit ist. Auch wenn es im Grunde nur Zufall ist, dass Nawalny für seine Behandlung nach Deutschland fliegen musste, denn die Einlieferung in die Charité wurde über persönliche Kontakte in der internationalen Aktivisten-Szene eingefädelt.
Wenn die russische Führung der Auslieferung so schnell zustimmte, dann war sie sich offenbar sicher, dass Nawalnys Krankheit nicht mit russischen staatlichen Stellen in Verbindung gebracht werden kann. Die Hysterie um Nawalny würde sich schneller legen, wenn er genesen ist, als wenn er in Russland geblieben wäre. So oder ähnlich könnte das Motiv für diesen Schritt aussehen. Es zeigt auch das Vertrauen der russischen Regierung in die deutsche Medizin.
Seit über einem Jahrzehnt wird Nawalny von den deutschen Medien zu "Putins schärfsten Kritiker" erklärt. Zwar haben er und sein Büro regelmäßig Probleme mit der Justiz und ist er selbst sogar zweimal vorbestraft, können er und seine Anhänger in Russland ihre investigative und politische Arbeit in der einen oder anderen Form machen und sich erbitterte Kämpfe mit den staatlichen Medien liefern. Auch wenn sich über seinen tatsächlichen Einfluss streiten lässt, ist Nawalny Teil der russischen Politszene. Muss er auf so eine abenteuerliche Weise wie eine Vergiftung durch Geheimdienste ausgerechnet jetzt beseitigt werden? Diese rhetorische Frage stellen sich viele.
Angst vor Nawalny?
Dabei ist auch eine weitere Frage berechtigt: Wie kann es dazu kommen, dass ein deutscher Außenpolitiker wie Dirk Wiese sich ohne Einsicht in die Krankenakten derlei Spekulationen erlauben und den russischen Staat beinahe einer Tötungsabsicht beschuldigen kann? Dies wäre ohne mediale Vorarbeit nicht möglich gewesen. Über die Rolle der deutschen Medien sprachen wir mit dem Publizisten und Autor des Medienblogs Anti-Spiegel Thomas Röper.
Die Berichterstattung der deutschen Medien und die Kreml-Verbindung – das war ja vorherzusehen. Jedes Mal, wenn in Russland irgendetwas Böses passiert, ist es der Kreml gewesen, das wissen die deutschen Medien sofort", sagte Röper.
"Und wenn in Russland irgendwem irgendwas passiert, der Putin nicht mag, dann ist Putin schuld. Das ist Standardprogramm der deutschen Medien oder der westlichen Medien allgemein. Da ist jetzt nichts, was einen verwundern sollte." Die russischen Medien seien da sachlicher, denn sie stützen auf von den Ärzten durchgeführte Testergebnisse und erlaubten sich keine Spekulationen.
Dabei werde Nawalny im Westen gerne als demokratischer Hoffnungsträger gesehen, seine Äußerungen wie "Man müsste die Kaukasier mit Kalaschnikows plattmachen" werden nicht thematisiert – in Deutschland wäre das jedoch Volksverhetzung.
"Und dass Putin jetzt vor ihm Angst haben müsste, das ist ziemlicher Unsinn", so Röper weiter. "Seine Anhängerschaft ist relativ gering, das sagen Umfragen auch, aber er wird vom Westen gehypt. Die westlichen Medien brauchen so ein Gesicht, das sie vorzeigen können. Und da ist Nawalny im Moment die Person der Wahl. Früher war es mal Pussy Riot, die in Russland ja überhaupt keine Anhänger haben … Das ist eine Sache, die wir seit Jahren beobachten."
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Es war auffällig, wie schnell die westlichen Medien trotz des Fehlens jeglicher Belege für einen Giftanschlag auf Nawalny ihren Verdacht durch eine Aneinanderreihung anderer, in der Regel nicht oder nicht hinreichend bewiesenen Fällen von Vergiftungen angeblicher Feinde Putins durch den russischen Staat schürten. Die Einlieferung Nawalnys in die Charité ist nichts anderes als die Wiederholung eines ähnlichen Falls, der sich im September 2018 ereignete. Damals wurde ein russischer Politaktivist, der Mitbegründer von Pussy Riot Pjotr Wersilow, dort mit ähnlichen Symptomen behandelt. Auch Wersilow wurde mit einem Privatjet der PR-Agentur "Cinema for Peace" nach Berlin gebracht, und es waren seine Kontakte, über die Nawalnys Einlieferung in die Charité eingefädelt wurde. Nun hat er sich selbst beim Chef der Agentur Jaka Bizilj für Nawalny eingesetzt.
Wersilow wurde gesund und kehrte nach Russland zurück, ist aber trotzdem der Meinung, dass der russische Staat oder zumindest staatsnahe Kräfte in Russland ihn beseitigen wollten. Seine persönliche Einschätzung wird auch von den deutschen Medien wie der Deutschen Welle übernommen. Wie berechtigt solche Vergleiche sind, wollten wir vom Medienexperten Röper wissen.
Es ist ja so, dass verschiedene Fälle ihre eigene Geschichte haben. Und nicht jeder, der jetzt da vergiftet wurde, war ein ausgesprochener Putin- oder Kreml-Kritiker, es gibt ja genug Leute, die sich andere Feinde gemacht haben. (…) Die Vergiftungen gibt es nun mal leider Gottes, und nicht nur in Russland, das bedeutet aber nicht, dass daran immer die Regierung schuld ist. Und man sollte sich wirklich die Fälle genau anschauen: Zum Beispiel Skripal, da ist nun überhaupt nichts bekannt, wenn man die offiziellen Unterlagen sieht und nicht die Meldungen der Medien – für die Medien ist alles klar, alles bewiesen –, aber wenn man da reinguckt, ist überhaupt nichts bewiesen. Es ist nicht mal bewiesen, dass es Nowitschok war. Die Internationale Überwachungskommission für Chemiewaffen durfte erst Wochen später die Proben anschauen, was da manipuliert wurde, weiß keiner. Und der Bericht ist auch nicht allzu eindeutig. Also es wird immer viel in einen Topf geworfen, was böse auf Russland zeigt, aber wenn es Details gibt, bleibt davon meistens nicht viel über. Aber die westlichen Medien wissen immer sofort, was passiert ist, und dieses Narrativ verbreiten sie. Fakten spielen dabei keine Rolle.
Ein anderer Kniff, mit dem die deutschen Medien dieses Narrativ aufrechterhalten, ist laut Röper die Übertreibung der tatsächlichen Gefahr für die russische Regierung durch ihre Kritiker.
Über einen Oppositionellen in Russland wird groß berichtet, der ist eine Gefahr für den Kreml, wenn der 2.000 Leute auf die Straße kriegt, aber wenn in Paris Zehntausende Gelbwesten demonstrieren, dann ist es keine Gefahr für Macron. Dann sind das Chaoten. Es wird ein Protest in einem dem westlichen System nicht wohlgesonnenen Land aufgeblasen und dramatisiert, und Proteste gegen Regierungen in westlichen Ländern werden runtergespielt, als Chaoten bezeichnet. Das ist Arbeit mit Narrativen wieder, also das ist jetzt nichts, was sich nur auf Russland und Russlands Oppositionelle beschränkt. Wir sehen das gleiche Spiel in Weißrussland, wir haben es beim Maidan in der Ukraine gesehen, wir können es in Venezuela live und in Farbe beobachten. Das ist ein eingespieltes Spiel. Das läuft nach einem Drehbuch ab", schloss der Experte und Buchautor.
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Nachtrag: Die Charité teilte kurz nach 16 Uhr mit, dass die klinischen Befunde Nawalnys auf "eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterasehemmer hinweisen". Die konkrete Substanz sei aber bislang nicht bekannt. Damit wurde der Verdacht auf eine Vergiftung bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt war dieser Artikel bereits fertiggestellt. Auf eine mögliche Täterschaft oder ein Motiv gibt es nach wie vor keine Hinweise.