von Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer
Ohne es als massive Einmischung in die Angelegenheiten Weißrusslands zu kennzeichnen, hatte die Redaktion von ARD-aktuell schon vorher erwähnt, Polen, Litauen, Estland und Lettland hätten bereits Neuwahlen verlangt. Gleichermaßen kommentarlos ließ die Redaktion Außenminister Maas giften, man werde "den Druck auf Belarus deutlich erhöhen". Mittels Sanktionen, versteht sich, denn mehr als diese völkerrechtswidrige Drohgebärde hat Deutschlands Spitzendiplomat eh nicht auf der Pfanne. Bedeutsameres als salbungsvolle Phrasen wusste nicht mal Kanzlerin Merkel anzubieten.
Sich auch bei der Propaganda gegen Lukaschenko selbst zu widersprechen, gelang ARD-aktuell natürlich mühelos. Noch am Wahlsonntag, 9. August, hob sie den Vorwurf der weißrussischen Opposition hervor, die Wahl werde manipuliert – und machte ihn sich indirekt zu eigen. Im gleichen Atemzug ließ sie jedoch wissen, "nach den jüngsten Prognosen dürfte Lukaschenko aber im Amt bestätigt sein". Die Tagesschau hat halt mit journalistischer Logik ebenso viel gemein wie der Bayerische Zapfenstreichmarsch mit Beethovens Eroica. Pauken und Trompeten kommen ja in beiden Musikwerken dran.
Es erschließt sich einfach nicht, weshalb ein Autokrat wie Lukaschenko keine sauberen Wahlen gewährleisten sollte, da er sich doch eines Erfolges sicher sein konnte; er hat ja nachweislich Mehrheiten hinter sich. Schon bei seiner Wahl vor fünf Jahren fuhr er offiziell 83,5 Prozent der Stimmen und zugleich massiven Protest der Opposition ein.
Zweierlei Maß, wie üblich
Die OSZE hatte seinerzeit den rechtlichen Rahmen des Wahlvorgangs als nicht den Standards entsprechend kritisiert, die Europäische Union aber ihre bereits anno 2012 verhängten Sanktionen aufgehoben.
Man wolle den "relativ ruhigen Verlauf der Präsidentschaftswahl sowie die Freilassung politischer Häftlinge honorieren", hieß es anno 2015. Der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier nannte das "eine gute Nachricht". Das Trapsen der Nachtigall war nicht zu überhören: Man entschied zugunsten Weißrusslands, weil Lukaschenko auf der Politschaukel zwischen Russland und der EU gerade einen Westschwung nahm. Deutschland schickte sogar Polizistenausbilder nach Minsk. Man tat so, als beträten sie dort die blitzblanke gute Stube der Demokratie. Die Kritik von Menschenrechtlern blieb unbeachtet.
Diesmal ist das Wahlergebnis unwillkommen, die Zeichen stehen auf Sturm. Die OSZE war nicht mit Wahlbeobachter präsent – angeblich, weil sie zu spät eingeladen worden wäre. Fauler Zauber, wie Russlands Außenminister Lawrow klarstellte. OSZE-Wahlbeobachter hätten auch ohne Einladung kommen können. Ihr Wegbleiben war gewollt und darf als Beleg für einen mit ausländischer Hilfe geplanten und koordinierten Staatsstreich-Versuch betrachtet werden.
Schnäppchenjäger und Beutemacher
Lukaschenko wird seit Wochen deutschland- und EU-weit zum Buhmann stilisiert. Sie ist wieder mal da, die "Farbrevolution”. Lukaschenko soll weg, und mit ihm Weißrusslands sozialstaatliche Grundlage. Das Land mit seinem umfangreichen Gemeineigentum wäre ein Eldorado für Investoren und Schnäppchenjäger, wie 1989/1990 die in der Agonie liegende DDR. Wir erinnern uns an den Aufbruch der westdeutschen Beutemacher und daran, dass der seinerzeitige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau vom "größten Raubzug in der deutschen Geschichte" sprach.
In Weißrussland sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 80 Prozent der Produktionsmittel im Gemeineigentum geblieben und bis heute unter staatlicher Kontrolle; sie sind lohnende Objekte für kapitalistische Eroberer. Zugleich erklären sie aber Lukaschenkos starke politische Basis. Was die Bevölkerung im Falle eines "regime change" zu erwarten hätte, ist zumindest einer Mehrheit der weißrussischen Wähler durchaus bewusst: Armut, Massenarbeitslosigkeit, Korruption und die Entwicklung einer Oligarchie. Die Weißrussen haben nicht vergessen, was sich bei ihren russischen Nachbarn nach Gorbatschows Sturz und Jelzins Machtübernahme abspielte.
Noch sind ihre sozialen Grundlagen stabil: In Weißrussland gibt es weder Arbeitslosigkeit (2019 durchschnittlich nur 0,3 Prozent) noch einen wirtschaftlichen Notstand. Selbst die olivgrüne Heinrich-Böll-Stiftung musste einräumen, dass ausreichende Gehälter, Renten und Arbeitssicherheit gewährleistet sind und günstige öffentliche Dienstleistungen geboten werden. Es ist nicht erinnerlich, dass die Tagesschau dies jemals berichtet und im Gegenzug versucht hätte, den wahren Motiven und Ursachen der weißrussischen Opposition auf den Grund zu gehen.
Geostrategischer Brennpunkt
Dass es in Minsk um geostrategische Machtverschiebung zugunsten des imperialen Westens geht – wie in unterschiedlichen Formen auch in Syrien, Jemen, Libyen, Hongkong, Venezuela, Bolivien usw. –, ist den weißrussischen Eliten klar. Der Politologe Alexei Dsermant bestätigt: "Es war der siebte und erneut erfolglose Versuch, eine Farbrevolution in Belarus zu organisieren." Das Endziel sei eine langwierige politische Krise, die Umverteilung von Eigentum und die Schaffung eines weiteren geopolitischen Spannungspunkts. Man erlebe "den ernsthaftesten und professionellsten Umsturzversuch der letzten Jahre".
Auf verdeckte, vom Ausland her unterstützte Aktivitäten deutet ein Papier des US-Thinktanks RAND Corporation. Es stammt aus dem vorigen Jahr und enthält Hinweise, dass Weißrussland mittels einer Farbrevolution politisch zu destabilisieren sei. Das wird als strategischer Schlag gegen Russland betrachtet und dieser ausdrücklich als das eigentliche Ziel genannt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es diesmal klappt, ist nicht sehr groß. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat zwar plötzlich 53 Millionen Euro flüssig, die den "schutzbedürftigen Gruppen des weißrussischen Volkes" geschenkt werden sollen, aber diese Investition wird für einen gewaltsamen regime change nicht reichen.
Moment mal: Aus welchem Topf kommt dieses Geld? Wer hat es freigegeben? Welche Rechts- und Beschlussgrundlage hat die Zahlung? Wer hat ihren Zweck und den Empfängerkreis definiert? Mit welcher Begründung? Wer kontrolliert die korrekte Verwendung des Geldes? Darf eine – für ihren nach Korruption riechenden, verschwenderischen Umgang mit öffentlichen Mitteln eh schon berüchtigte – Frau von der Leyen "einfach mal so" irgendwelche namentlich nicht genannten "Opponenten" außerhalb der EU mit 53 Millionen Euro schmieren? Ist in der finsteren EU-Wolke noch ein kritischer Abgeordneter wach und bereit, mal das Maul aufzumachen? Hallo, Tagesschau?
Die Zahlung beweist allerdings, wie umfassend der Aufruhr in Weißrussland vom Westen orchestriert wird – und wie problemlos dafür öffentliche Gelder aus dem Hut gezaubert werden.
Mehr zum Thema - "Pantoffelrevolution": Regime Change in Weißrussland hat begonnen
Das Schlüsselwort "Wahlfäschung"
Skandalöse Fakten wie von der Leyens 53-Millionen-Euro-Zusage haben die ARD-aktuell-Redaktion allerdings noch nie von Manipulationsversuchen und Falschdarstellung abgehalten. Die NATO-affine Mitarbeiterin Silvia Stöber beharrte trotz aller gegenteiligen Evidenz darauf, die (teils extrem gewalttätigen) Demonstranten in Minsk und in anderen weißrussischen Zentren erhielten keine ausländische Unterstützung in farbrevolutionärer Absicht. Mit gleicher Überzeugungskraft hätte sie behaupten können, es gebe Straßenhunde ohne Flöhe. ARD-aktuell selbst leistet ja mit einer Vielzahl solcher Propaganda-Ergüsse immaterielle Beihilfe bis zur versuchten Einmischung.
Schluss mit der medialen Verlogenheit: Den weißrussischen Umstürzlern wird handfeste Hilfe vom Ausland zuteil.
"Wahlfälschung" ist das Schlüsselwort aller Farbrevolutionen. Die bloße Behauptung taugt selbst in Corona-Zeiten schon als Initialzünder für Kundgebungen und Demonstrationen. Voraussetzung des Agitationserfolgs sind diffuse Unzufriedenheit der jüngeren Generation und deren Mobilisierbarkeit mittels Internet-Diensten. Vorrangiges Ziel: den "Tipping Point" erreichen, die Spaltung der Eliten und des Staatsapparats in gegnerische Lager. (Anm. der Autoren: Der "Tipping Point” wurde z.B. weder 2012 in Russland noch 2019 in Venezuela erreicht, weil die jeweiligen Eliten sich einem Umsturz verweigerten.) Damit wird in aller Regel sichergestellt, dass die Proteste nicht sofort gewaltsam niedergeschlagen werden.
Weitere wichtige Merkmale der Farbrevolutionen sind der massive mediale Zuspruch des Westens, wirtschaftlicher und diplomatischer Druck aus dieser Richtung sowie die Diffamierung wichtiger Politiker als Unpersonen und damit verantwortlich für Amtsmissbrauch und alle Unzulänglichkeiten des Alltags. Das Internet-Portal von ARD-aktuell, tagesschau.de, ist Beleg: Am 17. August beispielsweise wurden da 27 Beiträge zu Weißrussland publiziert, allesamt negativ konnotiert. Effektive Agitation, genauer: miese Stimmungsmache durch einseitige Nachrichtenauswahl, tendenziöse Sprache und Verschweigen wichtiger Details.
Der Balken im eigenen Auge
Ein Paradebeispiel für gewollt missratenen Journalismus:
"Das ist ein schlimmer Diktator", "Wer auf diese Art und Weise mit seinem Volk umgeht, hat jede Legitimation für die Regierung des Landes verloren", zitiertARD-aktuell den SPD-Kanzleramtsbewerber Olaf Scholz, ohne solche Stammtisch-Sprüche erst mal infrage zu stellen. Die Tagesschau unterstützt damit das populistische Bemühen des SPD-Politikers, Lukaschenko zu dämonisieren. Dass "Diktatur" und "Wahl" sich im Grunde ausschließen, Lukaschenko sich aber mehrmals und mit Erfolg zur Wahl gestellt hat, fällt weder für Scholz noch die Tagesschau ins Gewicht. Logisches Denken und Anstandsregeln haben längst Feierabend.
Lukaschenko trägt fraglos die politische Verantwortung für indiskutable Übergriffe und exzessive Gewaltanwendung der weißrussischen Polizei. Ob es ausreicht, dass er sich dafür jetzt öffentlich entschuldigt hat, haben die Weißrussen zu beurteilen. Für darüber hinausgehende Bewertungen ist die Tagesschau nicht zuständig. Mindestens so lange nicht, wie sie nicht andererseits den Olaf Scholz als vormaligen "Polizeiterror-Bürgermeister" entlarvt, der Demonstranten gegen den G20-Gipfel in Hamburg zusammenschlagen und wahllos einbuchten ließ – und bis heute behauptet, das sei total in Ordnung, gerechtfertigt und unumgänglich gewesen. Jeder kehre zuerst vor der eigenen Tür …
ARD-aktuell tituliert Lukaschenko normalerweise als "Präsidenten", verwendet aber auch immer wieder abfällige, meinungsmachende Floskeln wie "der angespannte Autokrat", (ironisch) "Väterchen" oder der "letzte europäische Diktator". Zur Vorbereitung einer Farbrevolution gehört die Behauptung, der gesamte staatliche Verwaltungsapparat sei nur ein Spielball in der Hand des Präsidenten: Lukaschenko "sorgt dafür, dass alle wichtigen Entscheidungen durch staatliche Hände gehen, politische Gegner inhaftiert und Protestbewegungen diffamiert und zerschlagen werden". In politischen Magazinen mögen solche Sätze vertretbar sein. In einer dem Objektivitätsgebot verpflichteten Nachrichtensendung haben sie nichts zu suchen.
Kakerlaken-Vergleiche
Wie bei den Gewaltexzessen in Hongkong oder seinerzeit im syrischen Daraa werden auch die "Aktivisten" in Minsk als bewundernswerte Freiheitskämpfer dargestellt. Übergriffe werden dagegen verharmlost oder gänzlich ignoriert, Brandstiftung und mordlustiger Schusswaffengebrauch inklusive. Dass Oppositionelle den Staatspräsidenten sogar als Ungeziefer bezeichneten – Joseph Goebbels lässt schön grüßen –, übergeht die Tagesschau ganz schlicht. Sergei Tichanowski, Ehemann der in Litauen exilierten Wahlverliererin Swetlana Tichachnowskaja, hatte bereits im Vorfeld der Wahlen gegen Lukaschenko agitiert und ihn mit einer Kakerlake verglichen, die mit dem Pantoffel zu bekämpfen (gemeint: zu erschlagen) sei. Obwohl die Tagesthemen über den zeitweise inhaftierten und von der Kandidatur fürs Präsidentenamt ausgeschlossenen Blogger Tichanowski berichteten, erwähnten sie seine "Kakerlaken-Kampagne" mit keinem Wort.
"Vornehme", einseitig praktizierte Verschwiegenheit ist Manipulation pur. Wäre jemals ein deutscher Oppositionspolitiker darauf verfallen, Bundeskanzlerin Merkel während der "Flüchtlingskrise" anno 2015 als "Kakerlake" zu beleidigen, die man unterm Pantoffel zerquetschen müsse, wären die Redaktionsmitglieder kollektiv in Schreikrämpfe gefallen. Der zuständige NDR-Rundfunkrat bemerkt jedoch die Doppelstandards und die vielen anderen journalistischen Fehlgriffe längst nicht mehr. Dabei genügte schon der IQ eines Blumenkohls, um die Verstöße der Tagesschau gegen die Programmrichtlinien zu erkennen. Die bräsige Mehrheit der Rundfunkratsmitglieder ist jedoch zufrieden, fürs Sesselpupsen Honorar einzustreichen, das Geld stinkt ja nicht.
Putschistensender
Der aktuelle Erfolgsgarant bei der weißrussischen Demonstranten-Mobilisierung nach der für sie unbefriedigenden Wahl war das Internet. Hierüber berichtet ARD-aktuell kaum und lässt so den Eindruck entstehen, die Wut über das mutmaßlich geschönte und jedenfalls unbequeme Wahlergebnis sei urwüchsig und der wahre Auslöser für den beträchtlichen Zulauf zu den Demonstrationen. In Tagesschau und Tagesthemen blieben Internet-Kanäle wie NEXTA und NEXTA LIVE ungenannt. Lediglich die Internetseite tagesschau.de informierte ihren kleinen Leserkreis, aber erst am 20. August. Wohlgemerkt: zehn Tage nach Beginn der Proteste.
Unter dem Titel "Wir müssen extrem vorsichtig sein" machen schon die ersten Sätze der fraglichen Meldung klar, dass hinter NEXTA ein im Ausland ansässiger Putschistensender steckt, den ARD-aktuell nur nicht so nennt: "Wer sich in Belarus über Demonstrationen informieren will, benutzt den Telegram-Kanal NEXTA. Er wird von Oppositionellen in Polen betrieben." Genauer: NEXTA residiert in Warschau. Wer die Hintermänner sind und wer den Sender finanziert, bleibt unklar. Die Repräsentanten des Kanals machen dazu widersprüchliche Angaben. Und ARD-aktuell lässt auch nicht in Warschau recherchieren. Recherchen? Igitt!
Bevorzugt gesendet werden Amateurfilme über Polizisten, die Demonstranten misshandeln. Authentizität und Aktualität der Bilder sind allerdings nicht überprüfbar, und selbst einige Oppositionelle kritisieren das. NEXTA übermittelt Karten mit Angaben zu Standorten von Polizeieinheiten, Sammelpunkte für Demonstranten und Kontakte zu Anwälten und anderen "Menschenrechtsaktivisten". Darüber hinaus gibt es detaillierte Anleitungen, wie die Sicherheitsbehörden auf der Straße wirksam zu bekämpfen sind.
ARD-aktuell bewährt sich selbst als fleißiger Agitator – neudeutsch: Influencer –, indem es nicht den kleinsten Hinweis darauf gibt, dass das Vorgehen der Bundesregierung grundgesetzwidrig ist, weil ihre und die EU-Pläne gegen das Völkerrecht verstoßen. Brächten die westlichen Regierungen ihre Kritik im Weltsicherheitsrat vor oder ließen sie die internationale Gerichtsbarkeit sich mit der Wahlveranstaltung in Weißrussland befassen, dann wäre dagegen nichts einzuwenden. Doch davon ist keine Rede, auch nicht in der Tagesschau. Gröber kann ein öffentlich-rechtlicher Nachrichtenanbieter seine gesetzliche Verpflichtung zu umfassender, vollständiger Information nicht missachten. Typische Schlagzeilen: "EU bereitet Sanktionen gegen Belarus vor", "Die EU will den Sieg von Lukaschenko bei der Präsidentenwahl nicht akzeptieren". Fragen nach der Zuständigkeit der EU werden erst gar nicht gestellt.
Beschuldigungen, keine Beweisen
Eine Mehrheit der Weißrussen (ob 51 Prozent oder 80,9 Prozent, ist hier im Grunde ohne Belang) hat tatsächlich nicht gemäß dem Wunsch der EU und der USA gewählt, nämlich antirussisch. Was bleibt deren selbst ernannten Vorkämpfern für Demokratie und Menschenrechte nun anderes übrig, als die Wahl für illegitim zu erklären und Neuwahlen zu verlangen? Destruktion ist die Parole, in allen denkbaren Varianten.
Die "angedachten" Sanktionen sind allerdings nur eine böse Lachnummer, vergleichbar dem Griff zum Rohrstock an den Schulen zu Kaiser Willems Zeiten; für den europäischen "Wertewesten” ebenso kennzeichnend wie beschämend. Der Vorwurf, die Wahlen in Weißrussland seien gefälscht worden, liegt nahe, ist allerdings bisher nicht mehr als eine bloße Behauptung. Erwiesen ist er eben nicht. Selbst der ARD-aktuell-Faktenfinder musste einräumen: "So war es schwierig nachzuvollziehen, ob und in welchem Ausmaß übliche Fälschungsmethoden angewandt wurden."
Dessen ungeachtet durfte Kanzlerin Merkel zum Abschluss des EU-"Sondergipfels zu Belarus" in der Tagesschausäuseln: "Weißrussland muss seinen Weg für sich alleine finden. Es muss über Dialog gehen innerhalb des Landes, und es darf keine Einmischung von außen geben." Aus dem Studio-Off wurde ihre Stillosigkeit um die Erläuterung bereichert: "Eine Botschaft, die auch an Belarus' großen östlichen Nachbarn gerichtet war, an Russland und Präsident Putin." Der an sich überfällige Hinweis, dass der EU-Sondergipfel ebenfalls eine unverfrorene Einmischung war, ein Affront gegen Minsk und Moskau, unterblieb selbstverständlich. Dito, dass sich die Kanzlerin bei ihrer Mahnung an die eigene Nase hätte greifen sollen.
Im Vorfeld zu dem Sondergipfel hatte Außenminister Maas über eine Konferenz mit seinen Kollegen getwittert: "Wir haben als EU zu Belarus Geschlossenheit demonstriert und deutlich klargestellt, dass wir das Wahlergebnis dort so nicht anerkennen. (…) Wir verteidigen unsere Werte auch jenseits unserer Außengrenze." Der Allerwerteste unseres Wertewestens nutzte wieder mal eine Gelegenheit, seine außenpolitische Inkompetenz und strategische Einfallslosigkeit als "Vorneverteidigung" auszuleben. Die Tagesschau steht ihm als Tröte immer zur Verfügung. Sie ist weit davon entfernt, der Regierung kritisch auf die Finger zu schauen und nötigenfalls draufzuklopfen.
Lunte am Pulverfass
Der Maidan liegt in Kiew, nicht in Minsk. Maas kann heute nicht in Weißrussland genauso intrigieren wie sein Amtsvorgänger Steinmeier einst in der Ukraine. Um (nicht nur) Maas die Konsequenzen einer "Werteverteidigung jenseits unserer Außengrenzen" aufzuzeigen, hat Verteidigungsminister Sergei Schoigu einen Verband mit taktischen "Iskander"-Atomraketen an die Westgrenze Russlands verlegen lassen.
Die Alarmglocken müssten also schrillen, aber in der Tagesschau bimmelt es nicht mal. Sie übt sich im Verschweigen solcher Informationen, dumpf und beflissen regierungsfromm, wie sie nun mal ist; ein Staatsfunker, verkleidet mit öffentlich-rechtlichem Mantel. Seine Redaktionsaktivisten trauen sich ohne ausdrückliche Erlaubnis ja nicht mal, ein Alka-Seltzer einzunehmen, wenn ihnen vom Dope der transatlantischen Nachrichtenagenturen der Schädel brummt.
P.S. Weshalb hier regelmäßig von "Weißrussland" die Rede war und nicht mainstream-konform von "Belarus"? Weil wir auch nicht "Zhong-guo" sagen, wenn wir China meinen und nicht "France", wenn von Frankreich zu sprechen ist. Und "Belarus" bedeutet wortgetreu "Weißrussland". Darum.
Literatur: Zbigniew Brzeziński. Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Kopp Verlag, Rottenburg 2015, ISBN 3-86445-249-X). The Choice: Global Domination or Global Leadership. Basic Books, New York 2004, ISBN 0-465-00801-1. Second Chance. Three Presidents and the Crisis of American Superpower. Basic Books, New York 2007, ISBN 978-0-465-00355-6. Strategic Vision: America and the Crisis of Global Power. Basic Books, New York 2012, ISBN 978-0-465-02954-9.
Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
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