von Gert Ewen Ungar
Es vergeht kaum eine Stunde ohne neue Wendungen in Weißrussland. Hat Präsident Lukaschenko Neuwahlen bisher vehement abgelehnt, bietet er jetzt Neuwahlen nach einem Verfassungsreferendum an und er hat gegenüber der Opposition seine Bereitschaft signalisiert, die Wahlauszählung zu wiederholen. Die Opposition fordert hingegen die Übergabe der Macht und bietet im Gegenzug Sicherheitsgarantien für Lukaschenko an. Der kompromisslose Ton, den die Sprecherin der Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja in diesem Video anschlägt wirkt sehr vertraut. Er weist auf ähnliche westliche Einflusskanäle hin, die auch in der Ukraine wirksam waren.
Die jetzt nach Litauen geflohene Swetlana Tichanowskaja beansprucht das Präsidentenamt für sich. Erwähnenswert an der Personalie Tichanowskaja ist das Fehlen jeder politische Erfahrung. Sie bleibt in ihrem politischen Profil relativ blass. Wie der Journalist Ulrich Heyden auf den Nachdenkseiten ausführt, will sie höhere Renten und höhere Löhne, eine Privatisierung der Bildung und Unterstützung von Geschäftsleuten. Ihre zentrale und wichtigste politische Forderung bildet daher lediglich die Ablösung von Lukaschenko als Präsident. Für was sie selbst steht, bleibt unscharf. Dass sich hinter der politisch unerfahrenen Tichanowskaja ein westlicher Beraterstab sammelt, der sie unterstützt und führt, kann angenommen werden. Der Ton ihrer Sprecherin Olga Kowalkowa lässt auf eine Schulung in westlichen NGOs schließen.
Die Christdemokratin hat im Vorfeld der Wahl auf ihrem Facebook-Account wesentlich moderatere Töne angeschlagen als sie das jetzt in ihrer Videobotschaft tut. Für eine Unterstützung aus dem Westen spricht zudem ihre Ausbildung. Sie hat an der East European School of Political Studies mit Sitz in der Ukraine Politologie studiert. Die Schule rühmt sich, junge Führungskräfte in Weißrussland zu fördern und zu unterstützen und wird unter anderem vom US-amerikanischen Freedom House, der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Open-Society-Foundations gefördert.
Angenommen werden kann auch, dass Tichanowskaja, sollte der Umsturz in Weißrussland tatsächlich gelingen, vom Westen bald fallengelassen wird. Sie selbst hat für den Fall ihrer Wahl ins Präsidentenamt nach sechs Monaten Neuwahlen angekündigt. Tichanowskaja und ihr Stab scheinen bereit, das Bauernopfer geben zu wollen.
Was auch angenommen werden kann, ist: Um freie Wahlen, Demokratie und Bürgerbeteiligung mag es den Weißrussen gehen, die jetzt demonstrieren, ihren ausländischen Unterstützern geht es darum nicht. Weißrussland ist geopolitisch und strategisch zu wichtig, um es einer demokratischen Bürgerbewegung zu überlassen. Westliche NGOs stehen seit langem bereit und warten auf eine Chance, dort ihren Einfluss vermehrt geltend zu machen. So sucht beispielsweise der rechtsliberale Thinktank Liberale Moderne in Weißrussland nach Einflussmöglichkeiten. Der von den beiden Grünen Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründete Think Tank hat eine dezidiert antirussische Ausrichtung. Er fördert aktiv den Kulturnationalismus in der Ukraine und verfolgt das Ziel, mögliche Annäherungen zwischen der Ukraine und Russlands zu verhindern.
Jetzt scheint die Gelegenheit günstig für eine tiefere Einmischung in Weißrussland. LibMod feuert entsprechend aus allen Rohren.
Neu ist die Nachwahlsituation in Weißrussland nicht, auch wenn sie dieses Mal deutlich zugespitzter erscheint.
Natürlich stimmt es: Die Wahlen in Weißrussland entsprechen seit Jahren nicht den Standards an freie und faire Wahlen. Die Wahlabläufe werden zwar regelmäßig nicht beanstandet. So bescheinigen Wahlbeobachter der GUS auch dieses Jahr, dass es keine Verletzungen der Wahlgesetze gegeben habe. Auch in den Wahljahren, in denen die OSZE Wahlbeobachter entsandt hat, werden keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Allerdings sind die Abläufe im Vorfeld der Wahlen nicht fair. Kandidaten werden nicht zugelassen und es gibt für die Opposition keinen gleichwertigen Zugang zu staatlichen Medien. Kritik an den Abläufen in Weißrussland ist daher berechtigt.
So ist es bereits eine kleine Tradition, dass die EU im Anschluss an Wahlen in Weißrussland Sanktionen gegen das Land verhängt. Auch das ist nicht neu und entspricht mehr einem Akt der Routine als einem Novum. Schon 2006 und 2010 wurden nach den Wahlen Sanktionen gegen das Land verhängt. Es gilt ein Waffenembargo für Weißrussland und die personenbezogene Sanktionen von 2006 wurden 2011 ausgeweitet.
Allerdings müssen sich jene Vertreter im Westen, die jetzt freie und faire Wahlen in Weißrussland anmahnen, den Vorwurf gefallen lassen, es ginge ihnen nur vorgeblich um demokratische Standards. Das Beispiel an dem das deutlich ausgeführt werden kann ist das Nachbarland Weißrusslands, die Ukraine. Sie kann als warnendes Beispiel gelten, denn seit der “Revolution der Würde” im Jahr 2014, in der nach westlicher Lesart ein korrupter Despot von einer demokratischen Graswurzelbewegung, die sich nach westlicher Freiheit und EU-Anbindung sehnte, aus dem Amt getrieben wurde, ist das Land im freien Fall. Es tobt ein Bürgerkrieg, die Wirtschaft ist ruiniert, der Lebensstandard der Mehrheit ist weit abgesunken und so ziemlich alles, was nach Demokratie und Freiheit aussehen könnte, ist aus der Ukraine verschwunden. Es herrscht Zensur, es gibt Pogrome und Ausschreitungen, das Internet ist streng reguliert. Die Friedensbemühungen im Rahmen des Minsker Abkommens hintertreibt die Ukraine inzwischen ganz offen, ohne dass der Westen auf Einhaltung der Absprachen drängen würde. Er scheint mehr Interesse an einem eingefrorenen Konflikt dort zu haben.
Es steht außer Frage, dass im Falle eines Umsturzes in Weißrussland dort ganz ähnliches passieren wird. Die jetzt stattfindenden Streiks schaden der Wirtschaft Weißrusslands massiv. Genau das ist das Ziel. Sollte eine neue Regierung im Anschluss beim Internationalen Währungsfond (IWF) um Kredite nachfragen, wird der diese an die üblichen Bedingungen knüpfen: Privatisierungen, sozialer Rückbau, freier Marktzugang für ausländische Unternehmen. Die Weißrussen werden statt Freiheit und Demokratie Arbeits- und Obdachlosigkeit kennenlernen. Für nicht anderes nämlich steht die breite Allianz westlicher Länder, die jetzt den weißrussischen Demonstranten ihre Solidarität versichert.
Zudem befeuern westliche Medien den Konflikt aktiv. Während russische Medien neutral und ausgewogen berichten, ist der russischsprachige Kanal der deutschen Welle deutlich parteiisch, befeuert die Demonstranten und die Opposition und macht die russischsprachige Zuschauerschaft gleich mit einer deutschen Auslegung der Proteste vertraut. Der Deutschen Welle zur Folge unterschätzte Lukaschenko die Kraft weiblichen Protestes. Sie verziert die Berichterstattung so gleichsam mit dem politisch korrekten Gendersternchen. Aufklärung allerdings, was eine vertiefte Westanbindung für das Land bedeuten würde, sucht man auf der russischsprachigen Seite der Deutschen Welle vergebens. Das gilt natürlich ebenso für den US-amerikanischen Staatssender Radio Svododa, der eine aktive Rolle innehat und der Opposition als Sprachrohr dient.
Koordiniert finden in zahlreichen europäischen Metropolen Proteste statt. So berichtet auch der RBB über eine Demonstration von Weißrussen in Berlin, an der siebzig Teilnehmer gezählt wurden. Trotz der überschaubaren Anzahl wurde im Fernsehen berichtet. Bei diesen Events geben sich deutsche Politiker ein Stelldichein, feuerten die Opposition an und bestärken sie in ihrem Gefühl, das Richtige zu tun. Inzwischen fordern außer der AfD alle im Bundestag vertretenen Parteien weitere Sanktionen gegen Weißrussland. Ganz vorne mit dabei sind selbstverständlich die Grünen. Aber auch die Linke hat in diesem Zusammenhang ihre friedenspolitische Position aufgegeben und schließt sich der Forderung nach Einmischung in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands an.
Dass die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands dieses Mal so deutlich vehementer ausfällt als in den vergangenen Jahren, hat vermutlich auch mit dem schwindenden Einfluss des Westens zu tun. Es ist ein Aufbäumen, um den eigenen Niedergang noch ein bisschen hinauszuzögern und einen Status Quo festzuzurren. Sollte der Machtwechsel in Weißrussland gelingen, wird als eins der ersten Themen der Ausstieg Weißrusslands aus der Eurasischen Wirtschaftsunion auf der Tagesordnung stehen. Das würde zwar Weißrussland ökonomisch großen Schaden zufügen, aber damit ließe sich der Aufstieg Russlands ein bisschen abbremsen. Auch mit dem Putsch in der Ukraine gelang es, die Ukraine dauerhaft vom Beitritt in die wachsende und an Einfluss gewinnende Wirtschaftsunion abzuhalten. Die Ukraine hat sich wirtschaftlich völlig auf die EU ausgerichtet und ist dabei alle ökonomischen Verbindungen zu Russland zu kappen. Das Ergebnis ist deutlich sichtbar - die Ukraine liegt wirtschaftlich am Boden, ist faktisch bankrott und hängt am Finanztropf ausländischer Geldgeber und damit erpressbar.
Die Hinwendung zum Westen werden die Weißrussen mit der Preisgabe ihrer Souveränität und ihrem vollständigen wirtschaftlichen Niedergang bezahlen, der ihr Land der Armut preisgibt. Aus der eigentlich reichen Ukraine hat deren westliches Abenteuer in wenigen Jahren eins der ärmsten Länder Europas gemacht. Wer glaubt, in Weißrussland wäre das anders, wird sich getäuscht sehen. Selbst die Kernländer der Europäischen Union sind aufgrund ihrer ökonomischen Ausrichtung nicht in der Lage und auch politisch nicht gewillt, wachsende Armut und Ungleichheit bei sich zu Hause zu verhindern.
Umso weniger ist das ihr Interesse in der Peripherie. Die EU errichtet in ihrem Osten einen Armutsgürtel bestehend aus der Ukraine, den baltischen Staaten und jetzt eben Weißrussland, um sich einen Zugang zu billiger Arbeitskraft und zu Absatzmärkten zu sichern. Es ist seit Jahren das wirtschaftliche Überlebensmodell der baltischen Staaten, Arbeitskraft im Niedriglohnbereich in andere EU-Länder zu exportieren, es wurde das Geschäftsmodell der Ukraine und es wird das Modell von Weißrussland werden.
So wird das kommen, was Weißrussland im Gegensatz zu Russland in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts weitgehend erspart geblieben ist, wenn sich Weißrussland der EU und dem Westen zuwendet - die völlige Ausbeutung des Landes, eine Pleitewelle der Industrie, der Verfall der Infrastruktur, kurz: der völlige wirtschaftliche Niedergang. Lukaschenko hat diese reale Gefahr in einer Rede geradezu beschworen und er hat damit völlig recht.
Demokratie und Freiheit werden dagegen auf sich warten lassen, denn die westlichen Werte sind nirgendwo so sehr in der Krise wie im Westen selbst. Für die Weißrussen wäre daher ein nationaler Dialog zwischen den unterschiedlichen Parteien und das Aushandeln von Änderungen und Reformen die deutlich bessere Lösung als das Vertrauen auf Unterstützung aus der EU. Gegen solch eine Lösung des Konflikts, gegen die Marginalisierung ihres Einflusses werden sich die EU und die entsprechenden NGOS jedoch unmittelbar zur Wehr setzen. Sie sind an einer Beilegung des Konflikts nicht interessiert.
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