von Rüdiger Rauls
Rückblick
Am 30. April 1975 endete der Vietnamkrieg mit dem Einmarsch des siegreichen Vietcong in Saigon. Die Amerikaner waren geschlagen und verließen fluchtartig das Land. Damit endete nicht nur der Indochinakrieg. Etwa zur gleichen Zeit zerbrach auch das portugiesische Kolonialreich in Afrika. Sein Zerfall brachte nicht nur sozialistisch orientierte Staaten hervor, sondern mit der Nelkenrevolution im portugiesischen Mutterland drohte erstmals ein westliches Land sozialistisch zu werden.
Der Versuch, den Sozialismus militärisch zu besiegen, war gescheitert. Die Armen der Welt hatten keine Angst vor dem Kommunismus. Sie fürchteten viel mehr die Kriege derer, die vorgaben, sie vor dem Sozialismus schützen zu wollen. Mit diesen Niederlagen endete die westliche Strategie des Antikommunismus, des militärischen Sieges über den Sozialismus. Es musste eine neue Strategie zu seiner Eindämmung gefunden werden.
Ende der 1970er-Jahre entstand unter dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter in einer eigens dafür gegründeten Denkfabrik die Strategie der Menschenrechte. Sie war die Reaktion auf die militärischen Niederlagen gegen die Befreiungsbewegungen, aber auch auf den Friedenswillen der Menschen weltweit. Diese Strategie war erfolgreicher. Sie war einer der Gründe für den Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung.
Die Neuordnung der Welt
Mit der Menschenrechtsstrategie war es dem Westen gelungen, aus einem politischen Konflikt einen moralischen zu machen, in dem er die Deutungshoheit hatte an sich reißen können. Er erklärte, wer zu den Guten gehörte und wer zu den Schurkenstaaten. Interessen verschwanden immer mehr aus der öffentlichen Wahrnehmung. Das Reich des Bösen, als das der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion bezeichnet hatte, war weiterhin Ziel westlicher Vernichtung, nun aber unter moralischen Gesichtspunkten, nicht mehr unter politischen.
Mit dem Untergang der UdSSR war der mächtigste politische Gegner des Westens von der Weltbühne verschwunden. Fortan stellte der Sozialismus stellte keine Gefahr mehr dar.Zwar wurdedie chinesische Gesellschaft weiterhin von einer kommunistischen Partei geführt, weil das Land sich aber gerade im Öffnungsprozess für westliches Kapital befand, war der Westen milde gestimmt. Zudem hoffte man auf eine ähnliche Entwicklung wie im Osten Europas: Wandel durch Annäherung, Zusammenbruch durch Öffnung.
Da sich aber die Menschenrechtsstrategie bewährt hatte, wie das Beispiel der Sowjetunion gezeigt hatte, hielt man auch weiterhin daran fest. Denn die Umstände waren günstig, weitere Neuordnungen im eigenen wirtschaftlichen und politischen Interesse durchzusetzen. Es gab keinen Gegenspieler mehr, der hätte Widerstand leisten können und auf den man hätte Rücksicht nehmen müssen.
Menschenrechte als Kriegsgrund
Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak folgten unter dem Vorwand, dort den Menschenrechten Geltung verschaffen zu wollen, ja zu müssen. Unliebsame Staatsmänner wurden als Diktatoren gestürzt. Dagegen genossen die willfährigen weiterhin den Schutz des Wertewestens – wenn auch unter den kritischen Appellen, die Menschenrechte zu achten.
Besonders in den Staaten des Nahen Ostens und den ehemaligen Sowjetrepubliken wurden gesellschaftliche Konflikte vor Ort genutzt, um im Namen der Menschenrechte jene Kräfte zu unterstützen, die für die westlichen Interessen genutzt werden konnten. In Libyen erhielten die Gegner Gaddafis, in Syrien diejenigen Assads alle erdenkliche Hilfe bis hin zu Waffenlieferungen und Unterstützung in Form von Luftüberwachung und militärischer Ausbildung.
Die Menschenrechtsstrategie war zu einem Mittel der Neuordnung der Welt im kapitalistischen Sinne geworden. Und selbst in den Hochburgen der Länder, die diese Strategie verfolgten, waren viele, die sich für fortschrittlich und kritisch hielten, Teil dieser Ideologie geworden.
Dabei war das Engagement einer breiten Öffentlichkeit für die Einhaltung der Menschenrechte ehrlich. Es war frei von Heuchelei oder Heimtücke. Die meisten Menschen wollen gut sein, und sie wollen, dass es allen anderen auch gutgeht, nicht nur ihnen allein und den eigenen Kindern. Deshalb verfing bei ihnen auch der ehrliche und ernst gemeinte Einsatz für die Menschenrechte, für das Wohlergehen aller.
Nach den großen Weltkriegen, den vielen regionalen Kriegen, angesichts der atomaren Bedrohung zwischen Ost und West schien mit der Ausrufung der Menschenrechtspolitik ein Ende dieser Gefahren und Katastrophen greifbar. Das traf den Nerv der Zeit, denn die Menschen waren der Konflikte überdrüssig. Deshalb ließen sich viele vor einen Karren spannen, dessen Fahrtrichtung sie erst später erkennen sollten, einige auch nie.
Aber die Kriege endeten nicht. Es änderten sich nur die Gründe. Fortan wurden sie im Namen der Menschenrechte geführt, unterstützt von denen, die sich für die Menschenrechte einsetzten. Als ehemalige Antikriegspartei trugen die Grünen in Deutschland den Überfall auf Jugoslawien bzw. Serbien mit. Auch gegen den Afghanistankrieg hatten sie keine Einwände. Der immer häufigere Einsatz deutscher Truppen in Krisengebieten fand ebenfalls ihre Zustimmung. Es ging ja um die gute Sache.
Faschistoide Züge
Später forderten prominente Vertreter der Grünen und sogenannte Menschenrechtsaktivisten gar den Einsatz deutscher Soldaten in Libyen und Syrien zum Schutze von Verfolgten. Die Risiken ihres Idealismus sollten aber nicht sie selbst tragen, sondern diejenigen, die sie in den Kampf schicken wollten. Deren Menschenrechte schienen bei diesen Überlegungen im Kampf für das "Gute" keine Rolle zu spielen. Waren das die Opfer, die für die gute Sache gebracht werden mussten?
Großzügig ging man auch über die Menschenrechte der Bewohner von Belgrad, Tripolis und Mossul hinweg, die im Bombenhagel westlicher Angriffe ihr Leben verloren. Sollten sie überhaupt um Befreiung gebeten haben, dann aber sicherlich nicht in dieser Form. Tausende verloren Leben und Besitz im Stahlgewitter derer, die vorgaben, im Interesse der Menschenrechte zu handeln. Aber galten diese nicht auch für die Opfer auf der Gegenseite? Oder ist deren Schutz nur begrenzt auf diejenigen, die der Westen als schützenswert ansieht?
Im Rahmen der westlichen Menschenrechtspolitik haben diese ihre universelle Geltung als Schutzrechte verloren. Sie sind von einem allgemeingültigen Recht zu einem Auswahlverfahren geworden. Westliche Menschenrechtspolitik unterscheidet in ihrer Umsetzung zwischen schützenswertem Leben und solchem, dem nur unter bestimmten Bedingungen Schutz zusteht.
Damit aber nimmt diese Politik faschistoide Züge an. Sie stellt sich über die Menschenrechte und wertet das Lebensrecht unterschiedlich als höheres Lebensrecht für die eigenen Gefolgsleute und ein untergeordnetes für die anderen. Das universelle Menschenrecht wird dadurch zu einem Recht nach Interessenlage. Damit ist Menschenrechtsorientierung ideologisch nicht mehr weit vom Faschismus entfernt.
Dessen psychologische Grundlage war neben seinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen die Vorstellung, einer Elite anzugehören und dadurch über eine höheres Lebensrecht zu verfügenals andere Menschen. Der Faschismus unterschied dieses Lebensrecht nach der Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion oder Volksgruppe.
Dabei stützte er sich auf angeblich wissenschaftliche Erkenntnisse. Wie so oft zeigte sich auch hier die Fragwürdigkeit der Wissenschaft. Jedes Elitedenken trägt in sich die Gefahr, sich früher oder später ein höheres Lebensrecht anzumaßen.
Neue Werte – neue Eliten
Auch die heutigen Eliten betrachten gerade die Wissenschaft als eine der Grundlagen, aus denen sich das Bewusstsein ihrer Überlegenheit nährt. Ihre Nähe zur Wissenschaft gibt ihr den Anschein von Moderne. Sie definieren sich nicht über rassische, ethnische oder religiöse Merkmale, sondern über ihre Bildung und vor allem über Werte. Diese verordnen sie nicht sich selbst als Leitlinie für ihr Handeln und Denken, sondern hauptsächlich dem Rest der Gesellschaft.
Klima-Aktivisten kämpfen gegen die schädliche Wirkung des Kohlendioxid, gestützt auf die Erkenntnisse der Wissenschaft. Dabei richtet sich ihr Kampf in erster Linie gegen das vom Menschen erzeugte CO2. Dass die Natur in wesentlich höherem Maße selbst diesen Stoff produziert, wird dabei trotz wissenschaftlicher Erkenntnis weitestgehend unter den Teppich gekehrt.
Der Protest gegen das menschengemachte Kohlendioxid richtet sich aber nur scheinbar gegen das Verhalten der Menschen allgemein. Unausgesprochen richtet er sich gegen jene, die nicht nach den moralisierenden Wertmaßstäben der Klima-Elite leben.
Denn diese stellt hauptsächlich Autofahrer an den Pranger, dabei besonders den Individualverkehr, ferner Fleischesser, dabei besonders die Konsumenten von sogenanntem Billigfleisch. Weitere Zielgruppen ihrer Kritik sind die Nutzer von Flugzeugen und Kreuzfahrtschiffen. Sie machen also all jene gesellschaftlichen Gruppen verantwortlich für den Klimawandel, zu denen sie selbst nicht gehören oder zu denen sie sich selbst nicht zählen.
Auch in der aktuellen Debatte um Corona und die Maßnahmen, die die meisten Regierungen zu seiner Bekämpfung ergriffen haben, berufen sich die Gegner dieser Maßnahmen auf Werte. Sie betrachten sich als die Kämpfer für die demokratischen Grundrechte und damit als ihre eigentlichen Vertreter.
Den Kampf gegen die Maske sehen sie nicht nur als Kampf gegen einen Maulkorb und für Meinungsfreiheit, sondern auch im weiteren Sinne als einen Kampf gegen eine Verschwörung, die von nicht näher bestimmten Kräften ins Leben gerufen worden sein soll. Viele vermuten unterhalb der Ebene des offiziellen Staates das Wirken eines Tiefen Staates, der die bürgerlichen Werte beseitigen und die Menschen ihrer Rechte berauben will.
Dass an dieser Stelle die beiden jüngsten gesellschaftlichen Massenbewegungen hervorgehoben wurden, liegt zum einen daran, dass die Klima- und die Corona-Proteste die neusten Entwicklungen darstellen. Zum anderen werden aber gerade an diesen beiden die Grundzüge der neuen Eliten deutlicher als je zuvor.
Grundlage ihres Denkens und Handelns ist einerseits die Inanspruchnahme der Menschenrechte als ihre Domäne, neuerdings ergänzt durch ihre spezielle Form der Bürgerrechte. Hinzu aber kommt auch ein Bild von sich selbst, dass man zu den Wenigen gehört, die aufgrund der eigenen Bildung, ihrer wissenschaftlichen Orientierung und eines überlegenen Intellekts gesellschaftliche Vorgänge durchschaut, die der großen Masse der Unwissenden und Ahnungslosen verborgen bleiben.
Aus all dem nährt sich ein Gefühl und Bewusstsein von moralischer Überlegenheit. Aber man bezieht sich nicht nur auf Werte, man herrscht auch über sie. Diese Werte-Elite bestimmt Definition und Anwendung der Werte, und sie stellt an den Pranger, wer dagegen verstößt. Die Werteorientierung, die gerade die westlichen Staaten und ihre gesellschaftlichen Führungskräfte zum Maßstab allen Handelns erhoben haben, verleiht ihnen dabei Rückendeckung.
Wachablösung
Lange war es dem Westen gelungen, die Illusion der eigenen Bürger aufrechtzuerhalten, dass dem Einsatz der Meinungsmacher das ehrliche Interesse an den Menschenrechten zugrunde liegt. Das galt sicherlich auch für viele. Aber mit jedem Kriegseinsatz, mit jeder Farbrevolution, mit jeder Unterstützung für zweifelhafte Rebellen wuchsen auch die Zweifel an der Glaubwürdigkeit westlicher Werteorientierung.
Schon bei der Begründung des Afghanistankriegs war die Skepsis in der Weltöffentlichkeit groß. Aber wer wollte sich schon gegen Bush Junior stellen und damit hinter die Taliban? Die Hinweise auf deren Schreckensregiment in Afghanistan erstickten jeden Widerspruch.
Spätestens jedoch mit dem letzten Irakkrieg war der Menschenrechtsorientierung des Westens die Maske heruntergerissen worden. Mit den erlogenen Kriegsgründen war aller Welt deutlich geworden, dass dieser Krieg nicht aus den idealistischen Gründen geführt wurde, mit denen die Bush-Regierung den Überfall auf den Irak zu rechtfertigen versucht hatte. Man wollte den Krieg, und da war jedes Mittel recht. Das war ganz offensichtlich, und übersehen konnte das nur, wer es nicht wahrhaben wollte.
Je mehr jedoch die Führungskräfte der westlichen Welt an Glaubwürdigkeit einbüßten, desto mehr übernahmen gesellschaftliche Gruppen und Initiativen in den westlichen Staaten diese Rolle. Nichtregierungsorganisationen (NGO) und sonstige zivilgesellschaftliche Gruppen setzten sich für die Ideale ein, die der Westen einmal vertreten hatte. Zunehmend verstanden sie sich als die Gralshüter jener Werte, und so treten viele auch in Diskussionen und der Öffentlichkeit auf.
Sie schreiben dem Rest der Gesellschaft Sprachregelungen vor und wollten gar auf den Speiseplan von Kantinen Einfluss nehmen. Sie legen fest, was rassistisch, sexistisch, frauenfeindlich, schwulenfeindlich, ausländerfeindlich und gegen sonstige gesellschaftliche Minderheiten gerichtet sei. Dabei urteilen sie immer mehr nach formalen Gesichtspunkten, nach der Wortwahl.
Ob die beanstandeten Äußerungen auch inhaltlich den Vorwürfen standhalten, die man in der Wortwahl zu erkennen glaubt, ist nebensächlich geworden. An gesellschaftliche Vorgänge und Diskussionen legt diese neue Werte-Elite die Messlatte ihrer Ideale – der eigenen Ideale. Diese bilden die Grundlage ihrer Argumentation, ihrer Forderungen und ihrer Weltsicht, aber nicht die Welt selbst.
Sie untersuchen nicht die Bedingungen, unter denen die Veränderungen in der Welt vonstatten gehen. Sie versuchen nicht, die Vorgänge zu verstehen, die inneren Triebkräfte von Entwicklungen zu erkennen. Stattdessen verurteilen sie, was sie nicht verstehen oder nicht wahrhaben wollen, und übernehmen unkritisch, was das eigene Weltbild bestätigt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen findet kaum statt. Ein Interesse an Erkenntnis ist nicht feststellbar.
Waren ihre Vorgänger in der Verwaltung der westlichen Werte noch getrieben von Interessen, die sie hinter Idealen versteckten, so ist diese neue Elite getrieben von Idealen, die mit missionarischem Eifer und unkritischem Bekennertum einhergehen. Aber ein Bewusstsein über gesellschaftliche Zusammenhänge ist nicht zu erkennen. Trotz der scheinbar politischen Forderungen ist diese Elite weitgehend unpolitisch. Für sie steht moralische Empörung im Vordergrund, verbunden mit emotionaler Aufgeregtheit.
Schwäche als treibende Kraft
Diese moderne Elite der Intellektuellen und Gebildeten schöpft ihre Kraft nicht aus innerer Stärke. Sie gewinnt nicht durch überzeugende Sichtweisen, die die Vorgänge auf der Welt verständlicher machen. Sie besticht nicht durch eine Darstellung, die Entwicklungen deutlicher und nachvollziehbar werden lässt. Ihre Argumente sind nicht geprägt von kühler Sachlichkeit, sondern von hitziger Empörung.
Ihre Vertreter überzeugen nicht, sondern machen unter dem Schwall ihrer Kenntnisse, Theorien und Vermutungen Andersdenkende mundtot, schüchtern ein durch moralische Entrüstung. Sie wollen nicht überzeugen, sie wollen Recht haben. Wissenschaft, auf die sie sich berufen, wird nur anerkannt, wenn sie die eigene Sichtweise bestätigt.
Andere Ansichten werden als Ausdruck von Dummheit angesehen. So kursiert im Netz zur Melodie von Reinhard Meys "Über den Wolken" die Abwandlung: "Hinter dem Masken muss die Dummheit wohl grenzenlos sein." Und der Autor Rüdiger Lenz meint gar, dass die in unserer Gesellschaft festzustellende "Verbildungsdichte nur von einer Minderheit begriffen, enttarnt und dann auch selbst verändert wird". Das bezeichnet treffend das elitäre, ja fast missionarische Bild, das man von sich selbst hat.
Doch trotz ihrer teilweise sehr überheblichen Einstellung hat diese Elite Zulauf. Das ist aber nicht auf die eigene Überzeugungskraft zurück zu führen, sondern hauptsächlich auf die argumentative Schwäche derer, die früher die öffentliche Meinung bestimmten: Medien, Parteien und sonstige richtunggebende Führungskräfte der Gesellschaft.
Diesen ist die ideologische Überzeugungskraft verloren gegangen. Das muss nicht bedauert werden, weil auch sie sich weitgehend auf die Manipulation der Medienkonsumenten gestützt hatten und immer noch zu stützen versuchen. Aber den Medienkonsumenten fehlt die Orientierung eines nachvollziehbaren Weltbildes, das früher von den Führungskräften der Gesellschaft ausging.
Besonders auffällig ist dieser ideologische Verfall bei den Parteien. Sie haben weitgehend ihre meinungsbildende und meinungsstiftende Bedeutung im gesellschaftlichen Rahmen verloren. Ihre Rolle beschränkt sich immer mehr auf das Aufstellen von Forderungen, denen aber die Ableitung fehlt. Den meisten Beobachtern des politischen Geschehens erschließt sich nicht mehr, aus welchen politischen und gesellschaftlichen Erkenntnissen und Einschätzungen die vorgetragenen Forderungen erhoben werden.
Klima und Corona
Dieses Defizit soll an den bedeutenden gesellschaftlichen Bewegungen der letzten Zeit verdeutlicht werden. In der Klimadebatte hatten sich besonders die konservativen Kräfte und Parteien weitgehend der kritischen Auseinandersetzung entzogen. Sie versuchten, die Klima-Aktivisten zu beschwichtigen oder ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie sich grüner gaben als die Klimaschützer selbst.
Damit aber ließen diejenigen ohne Argumente und überzeugende Sichtweisen allein, die die Meinungen der Klima-Aktivisten nicht teilten, Zweifel daran hatten und die Sachlichkeit ihrer Argumente infrage stellten. Ihnen fehlte das argumentative Rüstzeug, das sie gewohnt waren, von den Meinungsmachern zu erhalten und das es ihnen ermöglicht hätte, die inhaltliche Auseinandersetzung mit jenen zu führen. Statt ihre Anhänger zu stärken und diese in der Auseinandersetzung mit den selbst ernannten Klimaschützern zu unterstützen, ließen die Konservativen ihre eigentliche gesellschaftliche Basis im Stich.
Auch in der Corona-Debatte sind die herrschenden Kräfte nicht in der Lage, die Widersprüche zu erklären, die sich aus ihrem heutigen Handeln und früheren Aussagen zur Pandemie ergeben. Das wurde besonders an den Einstellungen zur Maske deutlich, die von den Meinungsmachern erst über Wochen abgelehnt worden war, nun aber als alternativlos gilt.
Statt zu diesen Fehleinschätzungen zu stehen, weichen die Verantwortlichen aus, verstecken sich hinter Dementis oder leugnen die Ereignisse der Vergangenheit. Sie stellen sich nicht kraftvoll der inhaltlichen Diskussion. Damit machen sie diejenigen stark, die diese Widersprüche als Teil eines Planes deuten, mit dem andere Absichten verfolgt werden.
Diese alten Eliten haben keine Kraft mehr, von ihnen geht keine Frische mehr aus. Sie sind ausgelaugt. Es fehlt ihnen das Personal, das Zuversicht ausstrahlt und Begeisterung verbreiten könnte durch die Sichtweisen, die es vertritt. Die alten Eliten verkörpern keinen Aufbruch mehr. Sie verwalten das Bestehende, dafür stehen sie in der Augen der Öffentlichkeit. Aber das genügt nicht für eine gesellschaftliche Erneuerung.
In der Vermeidung gesellschaftlicher Diskussionen und Auseinandersetzungen, im Besänftigen von Konflikten haben sie Profil und Argumentationskraft verloren. Statt sich sachlich mit den Andersdenkenden zu messen und tapfer die Klingen der Argumente zu kreuzen, verkriechen sie sich hinter Beschwichtigungen und Beschimpfungen, wenn Beschwichtigungen nicht mehr helfen.
Es war ein Zeichen von ideologischer Schwäche, sich seinerzeit nicht den Anhängern von Pegida zu stellen, ihre Argumente zu hören, diese abzuwägen und ihnen mit überzeugenden Sichtweisen die Stirn zu bieten. Sie aus dem Hintergrund als Nazis in Nadelstreifen oder als Pack zu bezeichnen, hat an Ansehen und Glaubwürdigkeit gekostet, vermittelte den Eindruck von Feigheit.
Dieses unsachliche Auftreten hatte jene nicht überzeugt, die die politischen Auseinandersetzung in der Gesellschaft interessiert verfolgen. So hat auch die inflationäre Verwendung des Nazi- oder Antisemitismusvorwurfs eine Zunahme des Antisemitismus in der Gesellschaft nicht verhindern können. Hierin offenbart sich nur die Hilflosigkeit derer, die damit um sich schlagen.
Ausblick
Die alten Wertmaßstäbe verlieren ihre Aussagekraft und Gültigkeit. Der Westen stellt sich in seinen Handlungen immer weniger als eine Gemeinschaft dar, die tatsächlich von Werten getragen ist. Das erleben diejenigen immer öfter, die einmal daran glaubten und davon überzeugt waren. Sie bleiben ratlos zurück und wenden sich enttäuscht ab.
Andererseits kollidieren die Weltbilder der neuen Eliten zu oft mit der alltäglichen Wirklichkeit der meisten Gesellschaftsmitglieder. Denn die Weltsicht der Ersteren ist geprägt von rigorosem Moralismus und idealistischen Wertmaßstäben, die mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen wenig zu tun haben. Diesen erscheinen deren Ideale als weltfremd und gegen sie gerichtet. Sie bieten keinen Ausblick auf eine freundliche Zukunft, auch wenn sie sich zukunftsweisend geben.
Im Spannungsfeld dieser Extreme löst sich der Zusammenhalt der westlichen Gesellschaften immer mehr auf, wie die zunehmenden Konflikte und Auseinandersetzungen zeigen. Die Werte, die diese Gesellschaften jahrzehntelang zusammenhielten, werden nun zum Spaltpilz. Sie befördern den Fäulnisprozess, der sich aus der Auflösung der Werte zu entwickeln scheint. Tatsächlich aber sind es nicht die Werte, die sich auflösen, sondern die Täuschung. Der Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit jedoch wird klarer.
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Rüdiger Rauls ist Autor mehrerer Bücher, darunter etwa "Wie funktioniert Geld?", "Krieg um Syrien" sowie "Zukunft Sozialismus: oder die Grenzen des Kapitalismus". Zudem ist er Herausgeber der Politkrimis "Die Hintermänner" und "Die Unsichtbaren" von Imre Szabo.
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