Meinung

Sexualisierte Gewalt im US-Militär – Ehemalige kommentiert aus Erfahrung neuesten Mord an Soldatin

Vorwürfe systemischen sexuellen Missbrauchs im US-Militär greifen um sich: Armeeangehörige melden sich nach dem Tod von Vanessa Guillen vermehrt zu Wort. Ich wurde vergewaltigt und kann sagen: Es ist verdammt noch mal Zeit, das Militär gründlich ins Auge zu fassen.
Sexualisierte Gewalt im US-Militär – Ehemalige kommentiert aus Erfahrung neuesten Mord an SoldatinQuelle: AFP © Robyn Beck / AFP

von Sophia Narwitz

Der Mord an einer Soldatin hat gezeigt, wie schlimm sexuelle Gewalt im US-Militär ist. Als Soldatin, die selbst vergewaltigt wurde, weiß ich hier aus erster Hand Bescheid.

Ich war noch keine 20 Jahre alt, als mein Leben ruiniert wurde – so sah ich es als junger Erwachsener. Ich war Soldat, gerade frisch aus der Grundausbildung, als ich während meiner Zeit im AIT (Advanced Individual Training, dt. etwa: fortgeschrittene individuelle Ausbildung) in Fort Meade von einem Gruppenkameraden vergewaltigt wurde. Es geschah außerhalb des Stützpunktes – in einem Hotel, das wir in einer großen Gruppe am Wochenende aufsuchten, um der Enge der Kaserne zu entfliehen.

In einer dieser Nächte war ich in einem Zimmer allein. Ich hatte meine Xbox-360-Videospielkonsole und das Spiel Fallout 3 mitgebracht, und es sollte einfach so eine Art ruhiger Wochenendausflug werden. Andere Dienstkollegen hingen draußen oder in ihren eigenen Zimmern herum, und irgendwann ging ich hinaus, um mich einfach einmal zu melden.

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Dass ich diese Tür öffnete, ist der größte Fehler meines Lebens. Warum habe ich diese verdammte Tür geöffnet? Mein ganzes Ziel bestand darin, allein zu sein und Spiele zu spielen. Ich hätte mich an meinen Plan halten sollen.

Ich will nicht ins Detail gehen, aber in dieser Nacht wurde ich vergewaltigt, und es war brutal, schmerzhaft, und brachte mich auf einen Pfad der Angst und der Scham, der zu einem mehr als einjährigen Krankenhausaufenthalt im Walter Reed führte, wo ich viele Selbstmordversuche verübte. Ein solcher Versuch führte dazu, dass ich fast eine Woche lang auf einer Intensivstation lag, nachdem ich eine ganze Flasche Zyprexa (Olanzapin, ein atypisches Neuroleptikum, eingesetzt vorwiegend gegen schizophrene Psychosen und bipolare Störungen. Anm. d. Red.) geschluckt hatte. Ich trage auch Narben an meinem rechten Handgelenk, wo ich die Haut bis zur Vene durchgeschnitten habe. Das Bild dieses ersten Blutspritzers werde ich nie wieder los. Das Blut spritzte buchstäblich gegen die Decke.

Heute, mit 31 Jahren, geht es mir viel besser, und ich bin viel weiter. Doch die Tatsache, dass mein Vergewaltiger frei herumläuft, lässt mir keine Ruhe. Ich gebe mir selbst die Schuld dafür, wahrscheinlich verdienterweise, doch auch die Armee trägt einen Teil der Schuld. Im Nachhinein betrachtet, wurde ich damals durch eine Kultur der Angst zum Schweigen gebracht.

In der Autorangabe dieses Artikels steht "Sophia", weil das mein standesamtlich dokumentierter Vorname ist. Aber damals lautete er noch etwas anders. Ich bin transsexuell, und das wusste ich schon seit meiner Jugend und lange vor dieser Vergewaltigung. Aber ich hielt es tief verborgen, bis ich Mitte 20 war.

In Ermangelung besserer Formulierungen: Während meiner Zeit in der Armee war ich also ein Mann, und wurde von einem anderen Mann vergewaltigt.

Die "Don't ask, don't tell"-Richtlinie war noch nicht aufgehoben worden, und mein junger, dummer Verstand sagte mir, ich wäre derjenige, der wegen der Vergewaltigung in Schwierigkeiten kommen würde, oder dass ich entsprechend der Kultur der Armee, wo man – zumindest damals – auf Schwule herabsah, dafür verantwortlich gemacht werden würde. Als ich mich vermeintlich in meine Kameraden hineinversetzte, glaubte ich, dass sie mich als willigen Teilnehmer ansehen würden, der die Tat lediglich aus Scham bereut. Von körperlichen Problemen, mit denen ich zu kämpfen hatte, ganz zu schweigen.

Die Vergewaltigung hinterließ bei mir blaue Flecken und körperliche Narben. Ich blutete aus dem Hinterteil und litt unter enormen inneren Schmerzen. Sogar meine Blase gab ihren Geist auf. Der Beweis für all dies sind Besuche der Notaufnahme, die ich sowohl außerhalb des Stützpunktes als auch im Krankenhaus des Stützpunktes machen musste. Als ich mich mit einem Militärarzt traf, der versuchte herauszufinden, warum ich so viele Probleme hatte, auch mit den Blutungen, fragten sie mich, ob ich Analverkehr gehabt hätte. Ich sagte nein.

Mein Vergewaltiger beschenkte mich sogar mit einer Geschlechtskrankheit. Glücklicherweise waren es nur Chlamydien, und ich konnte sie mit Pillen loswerden. Fragte mich ein Arzt danach, leugnete ich den Sex. Niemand hackte weiter nach.

Alle Anzeichen, dass ich vergewaltigt worden war, waren vorhanden, aber niemand wollte danach fragen. Entweder das, oder sie wussten nur zu genau Bescheid und ließen es einfach sein.

Ehrlich gesagt, hätte ich nie Soldat werden sollen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt als einer betrachtet werden kann. Ich habe nicht einmal meine militärische Ausbildung abgeschlossen. Wenn mich jemand mit der US-typischen Floskel "Danke für Ihren Dienst" anspricht, zucke ich innerlich zusammen. Ich werde von Scham geflutet. Es gab keinen Dienst. Es gab nur mich – ein verwirrtes und gebrochenes Individuum, das von jemandem vergewaltigt wurde, der viel stärker war als ich. Dass ich überhaupt ein "Soldat" werden konnte, unterstreicht ein Kernproblem des Militärs.

Rekrutierer machen Jagd auf die Schwachen. Und auf der Jagd nach immer mehr Rekruten nehmen sie die Schwächsten – jeden, der ja sagt. Sie fluten alle Teilstreitmächte des Militärs mit Menschen, die kein Recht haben, dort zu sein. Sie jagen die Schikanierten und locken sie mit dem Versprechen auf ein besseres Leben. Sie befreien sie von einem zerstörtem Zuhause, einem kaputtem Leben und dem Anpassungskampf. Das machte es ihnen möglich, auch mich anzuwerben.

Also opfern diese jungen Erwachsenen mit einer einzigen Unterschrift Jahre ihres Lebens, und einige bringen es auch zu etwas. Aber andere brechen irgendwann zusammen, oder in Fällen wie dem meinen entdecken die Schänder die Zerbrechlichsten in der Herde, und sie stürzen sich auf sie. Genau das führt zum Fortbestehen einer Kultur des systemischen sexuellen Missbrauchs im Militär.

Ich kann gar nicht genug betonen, wie offensichtlich es war, dass ich vergewaltigt wurde. Doch vielleicht in einem Bemühen, so zu tun, als sei nichts geschehen, akzeptierte das Militär meine alternative Ausrede bereitwillig. Als Kind war ich von meinem Vater sexuell missbraucht worden. Das hatte ich in meinem Gedächtnis tief zurückgedrängt, aber die Vergewaltigung trieb alte Erinnerungen wieder in den Vordergrund. Und als ich mich nach dem damaligen Vorfall gerade einmal über Wasser hielt, sorgte diese weitere Flut dafür, dass ich unterging.

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Die Blasenprobleme, die Blutungen, der Schmerz, die Selbstmordversuche, die posttraumatische Belastungsstörung, die Panik, die Angst: All das wurde auf meine Misshandlung in der Kindheit zurückgeführt – und die Armee machte einfach mit. Nichts wurde jemals ernsthaft in Frage gestellt, nirgendwo wurde nachgehackt. Und so wurde ich aus medizinischen Gründen in den Ruhestand versetzt, mit allen staatlichen Leistungen, und dann so schnell wie möglich aus der Armee herausgedrängt.

Jemand musste gewusst haben, dass da mehr dahinter steckt. Jemand musste gewusst haben, dass die Erinnerungen an Kindesmisshandlungen eben nicht nur durch den Stress der Ausbildung verschlimmert wurden, sondern dass da noch etwas anderes passiert sein musste. Aber sie wollten wohl nicht, dass noch ein Name – mein Name – in die entsprechenden Statistiken wandert. Denn die Statistiken sind erschütternd.

Laut Bericht des Verteidigungsministeriums für das Jahr 2019 über sexuelle Übergriffe im Militär nehmen diese Übergriffe zu, mit 7.825 gemeldeten Fällen allein im Jahr 2018. Und in diesen Zahlen noch in keiner Weise berücksichtigt sind Menschen wie ich – oder andere, die ebenfalls aus verschiedenen Gründen schweigen. Ich komme nicht umhin, zu fragen, wie viele Militärangehörige offensichtliche Anzeichen von Vergewaltigung aufweisen, aber zum Schweigen gedrängt werden oder sich ignoriert fühlen.

Allein in meiner kurzen Zeit in Fort Meade hörte ich von mehreren anderen Vergewaltigungsfällen. Bei einem dieser Vorfälle war sogar eine Frau beteiligt, die einen betrunkenen Mann in einer Toilettenkabine vergewaltigte. Soweit ich weiß, wurde in diesem Fall zumindest ermittelt. Doch man denke nur an die unzähligen anderen Vorfälle, die nicht untersucht wurden.

Zum Glück für mich bin ich heute viel weiter und es geht mir viel besser. Nachdem ich den Großteil meiner 20er Jahre in einem Abgrund der Verzweiflung vergeudet hatte, weil ich im zuständigen Veteranenkrankenhaus bei mir vor Ort keine angemessene psychiatrische Therapie erhalten konnte (was schon an und für sich eine eigene, verkorkste Geschichte ist), zwang ich mich selbst schließlich dazu, mit dem Schreiben anzufangen und erneut meinen Leidenschaften nachzugehen.

Heute, ein paar Jahre später, bin ich wohl widerstandsfähiger als ich je gewesen bin. Kürzlich bin ich einfach mitten in  Straßenkrawalle hineingelaufen, um einer guten Story nachzujagen. Ich zerbreche auch nicht daran, dem Ansturm von Hasses gegenüberzustehen, den ich mir selbst zu verdanken habe – durch das Ausleben meiner höhnischen und hochgradig begeisterungsfähigen Persönlichkeit im Internet. Ich kann über meine Vergewaltigung sprechen, ohne mich völlig aufzulösen. Und ich bin ein gestandener Mensch, der erfolgreichste, der ich je war. Aber mein Weg zur Heilung war alles andere als leicht und nahm Jahre voller Ankämpfen gegen Selbstmordversuche und Selbstmordphantasien in Anspruch. Ich sollte wohl dankbar sein, dass ich ihn schließlich hinter mich bringen konnte.

Ich bin nicht mehr von meinem Trauma definiert, aber dass es so viele Jahre meines Lebens gedauert hat, ist und bleibt dennoch ein Problem. Dass Armeeangehörige im Dienst vergewaltigt werden und ihr oberstes Kommando damit falsch umgeht, ist ein Problem. Dass Armeeangehörige missbraucht und danach manchmal getötet werden, wie im Fall von Vanessa Guillen, ist ein Problem.

Das US-Militär ist voll von systemischem sexuellem Missbrauch, und das ist ein Problem. Es ist an der Zeit, dass die Welt ein Licht auf dieses Problem wirft.

Übersetzt aus dem Englischen

Sophia Narwitz

ist Schriftstellerin und Journalistin aus den USA. Neben ihrer Arbeit bei RT ist sie Hauptautorin des Computerspiel-Vlogs Colin Moriarty‘s Side Quest, und betreibt ihren eigenen Youtube-Kanal. Folgen Sie ihr auf Twitter.

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