von Gert Ewen Ungar
Am 1. Juli begann die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union (EU). Bundeskanzlerin Angela Merkel flog aus diesem Anlass extra nach Brüssel. Es war ihre erste Auslandsreise seit Beginn der Pandemie. Und es ist ein beachtenswerter Beitrag zur ökonomischen Diskussion, den sie vor dem EU-Parlament abgeliefert hat. Vielerorts wurde die Hoffnung geäußert, die Corona-Krise würde dem zerstörerischen Neoliberalismus und seiner perfiden Spielart der Austerität ein Ende bereiten.
Merkel machte vor dem EU-Parlament klar: Im Grundsatz wird sich nichts ändern. Das neoliberale Regime wird für die EU und die EURO-Zone erhalten bleiben, der Markt darf die EU weiter spalten, die EU wird auch aus der Corona-Krise erneut geschwächt hervorgehen. Aus den vergangenen Krisen hat die Kanzlerin nichts gelernt. Mit ihrer Rede macht Merkel deutlich, sie wird dem Zerfall der EU und den mit Verträgen festgeschriebenen Zentrifugalkräften, welche die EU auseinander treiben, nichts entgegensetzen. Es wird keine Korrekturen geben, es wird noch nicht einmal eine Diskussion darüber geben. Ein grundlegendes Umdenken – oder auch nur ansatzweisen Lernwillen aus den Fehlern der Vergangenheit zu zeigen – bleibt Merkel schuldig.
Diese trostlose Nachricht bleibt im medialen Mainstream jedoch unerwähnt. Dort ist man voll des Lobes für diese Rede Merkels. Ralph Sina vom WDRspricht von einem leidenschaftlichen Plädoyer für Grundrechte, das Merkel gehalten hätte, der Tagesspiegel weiß gar von einer "emotionalen Rede" einer "ansonsten eher nüchterne(n) Kanzlerin" zu berichten, der deutsche Staatssender Deutsche Welle überschlägt sich geradezu und titelt "Merkel hält flammendes Plädoyer für Europa".
Wer sich die Rede anschaut, nimmt diese Euphorie des Mainstreams verwundert zur Kenntnis. Denn natürlich ist die Rede von Merkel wieder genauso, wie man alle Reden Merkels kennt: etwas lahm, ohne wirkliche Höhepunkte, vorgetragen ohne rhetorische Brillanz. Wenn Merkel davon spricht, dass sie etwas mit großer Leidenschaft tut, treibt das dem Zuhörer ein Schmunzeln ins Gesicht, denn der Widerspruch zwischen dem Gesichtsausdruck und dem Inhalt des Gesagten könnte kaum größer sein. Doch dies nur am Rande.
Was die deutschen Medien tunlichst unterlassen, ist der Hinweis darauf, wie destruktiv zentrale inhaltliche Aspekte der Rede Merkels waren. Wenn Merkel Einblick in ihr wirtschaftliches Denken gewährt, wird deutlich, wie schlecht es um eine EU bestellt ist, in der vornehmlich Deutsch gesprochen wird.
In ihrer Antwort auf eine erste Runde von Statements der Abgeordneten zu ihrem einleitenden Redebeitrag sagt Merkel: "Es ist unbestritten, dass wir alle, jeder einzelne Mitgliedsstaat in einem internationalen Wettbewerb stehen. Und wir können unser Sozialmodell nur dann leben, wenn wir nicht angreifbar werden. Und wenn wir alle über überhohe Schuldenstände verfügen, dann wissen wir, wie angreifbar wir auch in unserem Modell werden."
Da hat sie es deutlich gesagt, die deutsche Kanzlerin, wo die Grenzen der von ihr vielfach geforderten Solidarität liegen: In der wirtschaftlichen Konkurrenz der Nationalstaaten untereinander. Diese ist nach Auffassung der Kanzlerin "unbestritten". Mehr Ideologie, mehr Marktradikalismus ist kaum denkbar. Denn natürlich ist es zu bestreiten, dass Nationalstaaten untereinander in einem ökonomischen Wettbewerb miteinander stehen müssen. Nationalstaaten sind keine Unternehmen. Nationen stellen nichts her, was sie optimieren können, sie können sich über Innovationen keinen Wettbewerbsvorteil verschaffen und so durch die Innovation das ganze System nach vorne bringen.
Länder können lediglich Steuern, Löhne und Sozialstandards senken, um sich so einen Wettbewerbsvorteil zu erschleichen, indem sie die Nachfrage im eigenen Land zurückfahren und die Produkte ihrer heimischen Unternehmen auf dem internationalen Markt günstiger machen und so die Wirtschaft anderer Länder kaputt konkurrieren. Das stellt allerdings eine Kriegserklärung sowohl an die Partnerländer als auch an die eigenen Bürger dar, die von der Entwicklung des allgemeinen Wohlstands zugunsten eines Außenhandelsüberschusses, von dem nur die Konzerne profitieren, abgeschnitten werden. Es stellt insgesamt keine gute Idee dar.
Allerdings macht Merkel in ihrem Beitrag klar: Das ist genau das, was sie der EU verordnet. Weiterhin verordnet, muss man hinzufügen, denn die Konkurrenz der Nationalstaaten ist zentraler Baustein der EU-Verträge und der Verträge der Währungsunion. Solidarität wird dann tatsächlich nur zur entleerten Floskel, denn zueinander in Konkurrenz stehend verbietet sich jede Solidarität als unangebrachte Sentimentalität in einem brutalen Wettbewerb. Es ist keine gute Idee, was Merkel der EU aufzwingt, und es steht auch deutschen Gesetzen entgegen.
So ist das außenwirtschaftliche Gleichgewicht ein festgeschriebenes deutsches Staatsziel, nicht aber das Niederkonkurrieren der Handels- und vor allem Währungspartner durch innere Abwertung in Form von breiten Lohnsenkungen.
Dass man sich, wie Merkel meint, durch Staatsschulden angreifbar macht, fällt auch nicht vom Himmel, sondern liegt an den Regeln, die man sich gegeben hat. Wenn man beispielsweise zulässt, dass die Zinsen für die einzelnen Länder in einer Währungsunion bei der Aufnahme von Krediten auseinanderlaufen können, der Zentralbank zudem untersagt wird, Staatstitel mit einem niedrigen Rating aufzukaufen, um damit die Zinsen wieder auf ein erträgliches Maß zurückzudrücken, dann befindet man sich tatsächlich in einem Wettbewerb um niedrigste Zinsen gegeneinander. Genau das ist in der Griechenland-Krise passiert.
Aber dieser Wettbewerb ist politisch hergestellt, durch die Regeln, die man sich gegeben hat, und eben nicht "unbestreitbar". Man müsste alles daran setzen, diese offensichtlich dem Ziel einer Union nicht angemessenen Regeln zu ändern. Sie sind schädlich, wie man in der Griechenland-Krise gesehen hat, denn sie vernichten Wohlstand, verhindern Stabilität und zerstören die Lebensgrundlage von Menschen.
So mutet es denn auch zynisch an, wenn Merkel fortfährt: "Deshalb war es richtig, dass es in den Mitgliedsstaaten Reformen gegeben hat, im Gegenzug dafür aber auch natürlich sehr viel Solidarität." Durch die "Reformen" sind die Schuldenstände keinen Cent gesunken, im Gegenteil. Denn es gilt der nun tatsächlich unbestreitbare Grundsatz, dass sich Volkswirtschaften nicht aus einer Krise "heraussparen" können.
Wie auch zu Beginn der aktuellen Krise, beschränkte sich in der Euro-Krise die Solidarität zunächst auf Floskeln, deutsche Tipps – man könnte auch sagen penetrante Besserwisserei – an die betroffenen Länder, dann aber gefolgt von der Zerstörung der sozialen Sicherungssystem, verbunden mit dem Ausverkauf von öffentlichen Gütern in den notleidenden Ländern. Wer glaubt, es würde in der aktuellen Krise anders laufen, ist ein Träumer. Es gibt keinen Anlass, das tatsächlich anzunehmen.
Im politischen Handeln war damals und ist auch heute wenig von Solidarität zu spüren. Im Gegenteil, es war dem damaligen deutschen Finanzminister Schäuble (CDU) ein sichtliches Vergnügen, die Griechen möglichst umfassend zu demütigen und in ihrer Machtlosigkeit vorzuführen. Der eigens zur Krisenbewältigung gegründete Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) verspricht zwar Kredite für notleidende Staaten, knüpft die Vergabe aber an "Reformen" wie Senkung der Sozialleistungen, Rückbau der Gesundheitsversorgung usw. usf. Entsprechend war man in Italien und Spanien wenig davon angetan, als man darauf verwies, sie könnten sich zur Bekämpfen der ökonomischen Auswirkungen der Corona-Krise doch an den ESM wenden.
So muss man sich einfach eingestehen, was in dem Wettbewerb der Nationen, der nach Merkel "unbestreitbar" besteht, wirklich passiert ist: Während der große Konkurrent China durch kluge Steuerung der Wirtschaft Millionen von Menschen aus der Armut geholt hat, betreibt die EU ein "Race to the bottom" und schickt ihre Bürger wieder genau dorthin zurück. Getrieben von der Ideologie des Wettbewerbs der Nationen, der "unbestreitbar" sein soll, rennt die EU auf deutsches Geheiß in die falsche Richtung.
Merkels Rede macht deutlich: Die deutsche Ratspräsidentschaft wird der EU nicht gut tun. Die deutsche Übermacht, ja die Übermacht einer einzigen Partei in der EU, wird auch in der Sitzung dieses EU-Parlaments deutlich sichtbar. Nach Merkel (CDU) spricht Kommissionspräsidentin von der Leyen (CDU), danach der Fraktionsvorsitzende der EVP, der größten Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber (CDU), der Merkel gefällig duzt. Ein deutliches Signal. Man kennt sich, ist unter Freunden, spielt sich gegenseitig die Bälle zu.
Im Anschluss an diesen kleinen CDU-Parteitag spricht die Spanierin Iratxe García Pérez als Vorsitzende der Fraktion der progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten. Und zum ersten Mal spricht jemand über Löhne und Gehälter in der EU. Und in diesem Moment wird dem Zuhörer klar, bisher ist das Wort "sozial" nicht ein einziges Mal gefallen. Die drei Deutschen haben lange und viel über Digitalisierung, über Grundrechte, und ganz, ganz viel über Solidarität und Klimawandel gesprochen. Sie haben auch über die angebliche Notwendigkeit gesprochen, die jetzt angekündigten Hilfen möglichst frühzeitig wieder zurückzuzahlen.
Über soziale Standards, soziale Sicherung haben sie kein Wort gesagt. Da weiß man, was auf die Bürger der EU zukommt. Die Sicherung sozialer Standard angesichts der größten ökonomische Krise seit einhundert Jahren kommt bei Merkel und den Ihren schlicht nicht vor. Damit deutet sich auch an, auf wessen Rücken die möglichst frühe Rückzahlung der Kredite ausgetragen werden wird.
Dabei gibt es für die Forderung nach einer möglichst frühen Rückzahlung nicht den Hauch eines rationalen Grundes. Staatsschulden müssen generell nicht zurückgezahlt werden. Und gar mitten in einer Wirtschaftskrise davon zu sprechen, wir müssten nun den Gürtel enger schnallen, um unsere Schulden zu bedienen, damit wir uns das Wohlwollen der "Märkte" verdienen, ist darüber hinaus verantwortungslos. Merkel tut es dennoch. Dabei ist auch die EU-Kommission, die jetzt Geld für den Corona-Wiederaufbaufonds aufnehmen soll, ein quasi-staatlicher Akteur. Auch sie könnte die Schuldenrückzahlung problemlos immer wieder aufschieben. Es war in brüsker Weise ernüchternd, was hier im EU-Parlament aufgeführt wurde.
Das Recht, die Debatte abzuschließen, blieb Merkel als Ratsvorsitzender vorbehalten und so setzt sie mit ihren letzten Sätzen den finalen Punkt unter ihre marktradikale Agenda, wenn sie sagt:
Wir können einen Wiederaufbauplan machen, wir müssen aber die Rückzahlung dann organisieren und gleich bindend mit vereinbaren. Und ob man da erst in der nächsten Periode (des mittleren Finanzrahmens, Anm. GEU) beginnt oder nicht besser nochmal die Glaubhaftigkeit der Rückzahlung dadurch unterstreicht, dass wir es innerhalb dieser kommenden sieben Jahre beginnen mit der Rückzahlung, das finde ich schon wichtig. Denn die permanente Verschuldung kann nicht die Antwort Europas auf den internationalen globalen Wettbewerb sein.
Hier zeigt sich der ganze geistige Bankrott der Ideologie der schwäbischen Hausfrau. Der künstlich erzeugte Druck "der Märkte" auf die in der EU versammelten Nationalstaaten soll aufrechterhalten bleiben. Dabei sollen die Länder die Krise nutzen, um ihre "Wettbewerbsfähigkeit" zu verbessern. Gegenüber wem eigentlich? Die Welt wird dauerhaft keine Überschuss-EU dulden, die sich auf Kosten anderer Länder wirtschaftlich über Wasser hält. Und die Bürger der EU werden nicht dulden, dass sie für eine Wirtschaftsideologie, die sich in ihrer Irrationalität nahe am Wahnsinn aufhält, auf Wohlstand, soziale Sicherheit und Planbarkeit der eigenen Existenz verzichten sollen.
Die deutsche Ratspräsidentschaft führt in die falsche Richtung – sie treibt die EU weiter auseinander. Der anfangs mal aufkeimenden Hoffnung, mit der Corona-Krise kämen Austerität und Neoliberalismus ans Ende und es zöge endlich wirtschaftspolitische Vernunft in die EU ein, hat Merkel eine deutliche Absage erteilt.
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