von Gert Ewen Ungar
Bundeskanzlerin Merkel gab am 18. Juni eine Regierungserklärung zur am 1. Juli beginnenden Ratspräsidentschaft Deutschlands in der EU ab.
Das Bundeskabinett hat kurz zuvor den zweiten Nachtragshaushalt beschlossen, mit dem die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise aufgefangen werden sollen. Er wurde am 29. Juni im Bundestag und noch am selben Tag in einer eigens anberaumten Sondersitzung auch im Bundesrat verabschiedet.
Die Diskussionen, die um diese beiden Ereignisse geführt werden, deuten an, in welche Richtung sich Deutschland und die EU künftig bewegen werden.
Zunächst geht es um die Auswirkungen in Deutschland. Mit dem Nachtragshaushalt steigt die Verschuldung Deutschlands deutlich an und überspringt die im Maastricht-Vertrag fixierte Schuldenquote von maximal 60 Prozent. All jenen, die meinen, an Schuldenständen die Zukunftsfähigkeit eines Landes ablesen zu können, ist das ein gravierendes Alarmsignal. Die Warnungen der Mainstream-Ökonomen und der ihnen hörigen Politiker vor Verschwendung und die Forderung nach zügigem Rückbau der Verschuldung nehmen bereits breiten Raum ein. Vermutlich wird es genauso kommen, denn die Spar-Lobby in Deutschland ist stark. Nachdem große Konzerne gerettet worden sind, werden die Bürger zur Kasse gebeten. Staatsgeld in großem Stil, so lässt sich aus den vergangenen Krisen ableiten, gibt es immer nur für Einzelinteressen großer Akteure, nicht aber fürs Gemeinwohl. Für die Großen gibt es Keynes, für die Kleinen von Hayek.
So löblich es ist, jetzt als Antwort auf die Krise auf eine keynesianische, antizyklische Wirtschaftspolitik zu setzen, so gefährlich ist es, sie gleichzeitig mit der Forderung nach unmittelbarer Sparanstrengung zu verbinden. Wenn, wie etwa CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak das im Handelsblatt fordert, die durch die Corona-Krise entstandenen Staatsschulden bereits bis 2030 wieder getilgt sein sollen, dann kann man es eigentlich auch ganz sein lassen. Ziemiak fordert nichts anderes, als dass – noch während die Krise ihre volkswirtschaftlichen Auswirkungen zeigt – Sparanstrengungen unternommen werden. Damit macht der CDU-Mann deutlich, wie wenig aus der Griechenland-Krise gelernt wurde. Länder können sich nicht aus einer Krise heraussparen. So müsste die Forderung eigentlich lauten, die Corona-Schulden erst in ferner Zukunft oder gar nicht zurückzuzahlen, sie sich durch Inflation selbst entwerten zu lassen. Staatsschulden, das wird in der Diskussion um hohe Schuldenstände meist völlig übersehen, sind nicht zwangsläufig zurückzuzahlen, da Schuldner, Gläubiger und Emittent der Währung staatliche Akteure sind, die eine Einheit bilden. Wichtiger als der absolute Schuldenstand ist der Faktor der Schuldentragfähigkeit. Hier spielen noch andere Größen wie Wachstumsraten und Zinssätze mit hinein. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet das für Deutschland, aber auch die Währungsunion: kein Grund zur Panik. Ihr könnt Geld ausgeben.
Mit derart beruhigender Rationalität lassen sich allerdings keine Zeitungen verkaufen. Entsprechend warnt auch die Süddeutsche vor ausufernden Schuldenständen und ruft nach fiskalischer Disziplin, schürt ein bisschen Panik und schüttet ein bisschen Öl ins Feuer einer sich in Auflösung befindenden EU. Der Hinweis auf Generationengerechtigkeit bleibt nicht aus. Allerdings macht ihn die Wiederholung auch nicht wahrer oder verleiht ihm plötzlich ökonomische Weisheit. Vererbt werden mit den Schulden auch immer die Forderungen daran. Volkswirtschaftlich wird immer genau 0 vererbt. Man kann das mit intakter Infrastruktur, mit einem guten Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen tun oder eben ohne. Die Autoren der Süddeutschen und anderer Gazetten des Mainstreams entscheiden regelmäßig, für Deutschland und die EU wäre es besser, es ohne diese zu tun. Sie schreiben gegen die Interessen ihrer heutigen und auch ihrer künftigen Leser. Generationengerecht ist das nämlich nicht.
Am gesamten Maßnahmenpaket der Bundesregierung lässt sich aber auch gut ablesen, wie entwertet der Faktor Arbeit inzwischen ist. Während die Lufthansa mit einem Börsenwert von 4 Milliarden Euro mit 9 Milliarden Euro Staatsgeld gerettet wird und der Staat als stiller Teilhaber ohne jeden Anspruch auf Mitsprache einsteigt, verlangt man dem Unternehmen noch nicht einmal eine Beschäftigungsgarantie ab.
Die Höhe der von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angekündigten Bonuszahlung für Beschäftigte in der Pflege ist jetzt auch festgelegt. Sie beträgt exakt 0 (in Worten: null) Euro. Der allgemeine Applaus für die Branche, das Lob der Kanzlerin und des zuständigen Ministers muss reichen.
Auch dass das Kurzarbeitergeld nicht auf 80, 90 oder 100 Prozent aufgestockt wird, ist angesichts des zu erwartenden massiven Nachfrageeinbruchs rational nur dann erklärbar, wenn der Bundesregierung die Inlandsnachfrage weitgehend egal ist, sie weiter auf Export setzt und dabei eine weitere breite Lohnsenkung in Kauf nimmt. Womit wir beim Thema EU wären, denn es scheint, dass die Bundesregierung den Euroländern einen strengen Sparkurs aufzwingen will. Zur geplanten Verschuldung teilt sie auf ihrer Webseite nämlich mit:
Dank der verantwortungsvollen Finanzpolitik und der Rückführung der Schuldenstandsquote auf unter 60 % im Jahr 2019 hat Deutschland die notwendige Finanzkraft, entschlossen zu reagieren.
Diesen Satz sollten alle anderen Euroländer ganz aufmerksam lesen, denn er birgt einiges an Sprengkraft. Im Umkehrschluss heißt das nämlich nichts anderes als: Länder, die nicht "verantwortungsvoll" gewirtschaftet haben, können sich eine Schuldenaufnahme zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise nicht leisten. Eine Analyse, ob Deutschland anderen Ländern in der Währungsunion überhaupt die strukturelle Möglichkeit eingeräumt hat, deutsche Maßstäbe des "verantwortungsvollen Wirtschaftens" zu erfüllen, nimmt die Bundesregierung nicht vor – wie immer, möchte man hinzufügen. Auch wird die völlig willkürlich gesetzte Zahl von 60 Prozent nicht hinterfragt und zum eigentlich viel wichtigeren Begriff der Schuldentragfähigkeit kein Wort. Dabei ist die Schuldentragfähigkeit eine wichtige Größe, und angesichts der Nullzinspolitik der EZB sind bei wieder ansteigendem Wachstum die Schulden in allen Euroländern tragbar. Immerhin reifte nach massivem Druck aus Frankreich, Italien und Spanien die Einsicht, dass man den im Euro zusammengeschlossenen Ländern im Hinblick auf das deutsche Austeritätsdiktat zumindest ein bisschen entgegenkommen sollte. Schließlich ist die deutsche Wirtschaft extrem abhängig vom Export. Die wichtigsten Handelspartner dem Konkurs auszusetzen käme wirtschaftlichem Selbstmord über Bande gleich.
So befürwortet Deutschland inzwischen die Idee, die EU-Kommission könnte einen Kredit in Höhe von 750 Milliarden Euro mit einer langen Laufzeit aufnehmen, um mit diesem Geld Kredite, aber auch nicht zurück zu zahlende Zuwendungen an einzelne EU-Staaten zu vergeben. Ein wackerer Plan, für den die Kommission zurecht viel Lob bekommen hat. Allein das Lob war verfrüht.
Beim letzten Gipfeltreffen im Juni zeigten sich dann bereits tiefe Gräben. Einige Länder, namentlich die Niederlande, Dänemark, Schweden und Österreich, lehnen Zuwendungen strikt ab und pochen auch für schwer getroffene Länder wie Spanien und Italien auf rückzahlungspflichtige Kredite. In Deutschland stößt diese Ablehnung auf wohlwollende Zustimmung und viel Verständnis. Die Visegrád-Staaten wiederum fühlen sich insgesamt nicht ausreichend berücksichtigt und fordern Nachbesserungen.
Der nächste Gipfel ist für Ende Juli anberaumt. Eine Einigung ist dort nicht zu erwarten, im Anschluss ist Sommerpause. Das ohnehin schon sehr ferne Ziel, die Hilfen ab Januar 2021 auszahlen zu können, wird vermutlich verfehlt. Dabei ist Januar 2021 bereits recht spät angesetzt, denn die ökonomischen Auswirkungen des Lockdowns werden spätestens im Herbst ihre volle Wucht entfalten. Dann werden die Hilfen gebraucht, dann wird es sie jedoch nicht geben. Die EU zeigt hier ganz deutlich, wie ungeeignet sie als Institution ist, um auf Krisen schnell und angemessen zu reagieren.
Generell muss sich die EU-Kommission den Vorwurf gefallen lassen, zu spät und viel zu verhalten reagiert zu haben. Noch am 23. März, die Zahlen der testpositiven Corona-Fälle in Italien erklommen gerade ihren Höhepunkt und Deutschland ging in den Lockdown, war es Kommissionspräsidentin von der Leyen ein zentrales Anliegen, die Bürger der EU darin zu unterweisen, wie man sich richtig die Hände wäscht. Ansonsten beschränkten sich die Aktivitäten der Kommission darauf, vor Falschinformationen und Destablisierungsversuchen von außen zu warnen, während sich die mit der EU assoziierten Länder untereinander die Schutzausrüstung weg konfiszierten – man war nicht vorbereitet. Länder des Schengenraums schlossen unabgesprochen Grenzen, und jeder wurstelte für sich vor sich hin. Solidarität in der EU – völlige Fehlanzeige. Es war ein tragikomisches Schauspiel, das hier aufgeführt wurde, das allerdings viel über den Zustand der EU und das Verhältnis ihrer Mitgliedsstaaten zueinander aussagt. Krisen werden nicht dazu genutzt, weiter zusammenzuwachsen, sondern werden zu Machtspielen genutzt, durch die die EU gespalten wird. Deutschland geht hier als Beispiel allen voran.
So mutete es merkwürdig realitätsfern an, wenn Merkel im Bundestag angesichts der im Juli beginnenden Ratspräsidentschaft Deutschlands anmerkt:
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Coronavirus-Pandemie hat unser gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Leben völlig auf den Kopf gestellt. Wir leben in der Pandemie. Doch so, wie Europa die letzten Krisen überwunden hat, bin ich zuversichtlich, dass wir auch diese Krise jetzt gemeinsam bestehen werden, indem wir uns frühzeitig fragen, welche Lehren wir für Europa aus ihr ziehen können und was Deutschland dazu beitragen kann. (Zitiert nach Stenografischem Bericht)
Es ist gerade die Bundesregierung, die sich vehement weigert, die Lehren aus der vorletzten und letzten Krise der EU zu ziehen. Seit der Finanzkrise nach 2008 bleibt insbesondere die Währungsunion hinter der weltweiten ökonomischen Entwicklung zurück. Das hat strukturelle Gründe, die in der Konstruktion des Euro zu finden sind und in der Weigerung vor allem Deutschlands, diese strukturellen Fehlstellungen zu korrigieren.
Auch die Belastungen durch die Flüchtlingskrise, in der die deutsche Kanzlerin im Alleingang und ohne Absprache eine Entscheidung für alle Länder der EU getroffen hat, ist längst nicht vergessen, die dadurch entstandenen Verwerfungen sind längst nicht geglättet. Gerade die Flüchtlingskrise zeigt die Widersprüchlichkeit der Handlungen und die Doppelzüngigkeit der Kanzlerin. Während es "ein Gebot der Menschlichkeit" war, die Grenzen zu öffnen, hält die Bundesregierung die Sanktionen gegen Syrien aufrecht, verstärkt sie aktuell sogar noch und hofft, nachdem der militärische Teil des versuchten Regime Changes gescheitert ist, durch einschneidende und vor allem völkerrechtswidrige Sanktionen Hungerrevolten auszulösen, um doch noch zum geopolitischen Ziel eines Machtwechsels in Syrien zu kommen. Menschlichkeit sieht anders aus. Darüber kann auch die kürzlich abgehaltene Geberkonferenz nicht hinwegtäuschen. Das Schweigen der Medien zum Thema Sanktionen auch nicht.
Generell blendet der Diskurs in Deutschland das faktisch völkerrechtswidrige Handeln der Bundesregierung gegenüber Syrien und anderen Ländern regelmäßig aus. Der Korridor der zulässigen Meinungen ist in Deutschland sehr eng gehalten.
Dieser enge Korridor der Diskussion gilt allerdings nur für das Inland. Im Ausland ist man über das Wirken Deutschlands in all den genannten Krisen und in Bezug auf dessen unilaterales, egoistisches Handeln bestens informiert. Entsprechend groß und wachsend ist auch das Misstrauen gegenüber Deutschland. Auf die deutsche Ratspräsidentschaft wird man in der EU daher sehr kritisch blicken.
Dass die EU in der Corona-Krise komplett versagt hat, ist kein Geheimnis. In einer Umfrage ist die Mehrheit der Bürger der EU von der EU enttäuscht. Noch deutlicher zeigt es eine Umfrage, die bereits im April in Italien durchgeführt wurde. Wie das Portal German Foreign Policy schreibt, sind die Ergebnisse eindeutig. Gefragt wurde danach, welche Länder Italien freundlich und welche feindlich gesonnen sind. Auf Platz eins der nach Empfinden der Italiener Italien feindlich gesonnenen Länder liegt Deutschland. Auf Platz eins der Italien freundlich gesonnen Länder findet sich die Volksrepublik China. Während der deutsche Mainstream behauptet, Deutschland gelte vielen Ländern als Vorbild in der Bewältigung der Corona-Krise, lehrt der Blick in die ausländische Presse etwas anderes. Von Vorbild ist da wenig bis gar nicht die Rede, von Egoismus und einer einseitigen ideologischen Wirtschaftspolitik zum eigenen Vorteil umso mehr.
Dass die AfD nach der erfolgreichen Klage von Gauweiler und Lucke vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt hat, nun ihrerseits gegen das Aufkaufprogramm der EZB zu klagen, dass die Zentralbank zur Bekämpfung der Corona-Krise aufgelegt hat, passt da nur ins Bild. Wie schon Lucke und Gauweiler wittert die AfD eine Überschreitung des Mandats der EZB und sieht eine direkte Staatsfinanzierung, die der EZB verboten ist. Nun fällt Karlsruhe das Fehlurteil früher auf die Füße als gedacht. So wirkt die Corona-Krise auch hier wie ein Katalysator, der zeigt, mit Deutschland ist ein friedliches, zusammenwachsendes Europa nicht zu haben. Statt die Verträge der Realität anzupassen, versucht der deutsche Geist, die Realität an Verträge anzupassen, und scheitert daran seit Jahren grandios.
Dieser deutsche Irrsinn bleibt allerdings nur den Deutschen verborgen. Er wird hierzulande hinter Floskeln versteckt. So will Merkel auch diese Krise als Chance sehen, aus der die EU gestärkt hervorgehen wird. Nur hat das dank kräftiger deutscher Mithilfe schon bei den vergangenen Krisen nicht funktioniert. Und auch diese Krise wird absehbar dazu führen, dass EU und Deutschland im internationalen Vergleich weiter zurückfallen.
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