Antibiotikaresistenzen: Die ignorierte Pandemie und das weltweite Versagen

Wir stehen vor einer dramatischen Herausforderung: Antibiotikaresistenzen nehmen immer mehr zu, und es gibt bisher keine ernsthaften Versuche gegenzusteuern. Denn aus den nötigen Maßnahmen lässt sich kaum Profit schlagen. Die Corona-Krise verschärft die Situation noch.

von Jochen Mitschka

Marianne Koch (Name von der Redaktion geändert) arbeitet in einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen, in einer Region, die immer wieder wegen COVID-19 in die Schlagzeilen geriet. Sie berichtet, dass in ihrer Abteilung nun drei Bereiche eingerichtet wurden: ein roter Bereich für COVID-19 Erkrankte, ein orangener Bereich für Verdachtsfälle und ein grüner Bereich. Laut ihrer Darstellung bleibt der rote Bereich seit Wochen leer. Weiter erklärt sie, dass ihre Sorge nicht dem Coronavirus, sondern einer ganz anderen Art von Mikroorganismus gilt: dem sogenannten "Krankenhauskeim", genauer Methicillin-resistenten Bakterien der Art Staphylococcus aureus (MRSA).

Das ist ein Bakterium, das auf der Haut und den Schleimhäuten vieler gesunder Menschen vorkommt. Werden solche Bakterien übermütig und führen sie zu Entzündungen, können die dann aber wegen ihrer Resistenz gegen Antibiotika nicht oder nur schlecht behandelt werden, was zu lebensbedrohenden Situationen führen kann.

Marianne erklärt, dass solche Keime immer häufiger als Erkrankungsgrund diagnostiziert werden. Der Erkrankte kommt dann in Isolation. Pfleger und Ärzte dürfen nur in Schutzanzügen in das Zimmer. MRSA sind aber nur der Anfang einer Pandemie, die sich in Zeitlupe entwickelt und nach Einschätzung zahlreicher Experten gefährlicher ist als das gerade so im Fokus stehende Coronavirus SARS-CoV-2. Der Grund, warum man dieser Pandemie weniger Aufmerksamkeit in Politik und Medien widmet, dürfte möglicherweise die Tatsache sein, dass keine Impfung dagegen möglich ist. Und während bei COVID-19 die Pharmaindustrie als Retter gefeiert wird und ihr von den Regierenden Milliarden Dollar und Euro geradezu hinterhergeworfen werden, ist es just diese Industrie, die die Verantwortung für die schleichende Antibiotikaresistenz trägt.

Bakterien versus Antibiotika

Bakterien leben seit Milliarden von Jahren auf dem Planeten. Und manche sagen, dass sie die treibende Kraft hinter der Entwicklung des Lebens waren. In vier Milliarden Jahren lernten Bakterien sich anzupassen wie keine andere Spezie auf der Welt. Wenn es die Menschen irgendwann nicht mehr geben wird, werden Bakterien mit großer Sicherheit immer noch existieren.

Interessanterweise sind Antibiotika ursprünglich Waffen, die Mikroorganismen einsetzen, um sich gegenseitig zu bekämpfen. Wir haben sie uns zunutze gemacht und gegen Bakterien eingesetzt. Als das Penizillin in die Massenproduktion ging, dachte man, dass nun ein Mittel gefunden sei, das gegen alle Entzündungskrankheiten eingesetzt werden könnte, ein wahrhaftiges Wundermittel. Und tatsächlich veränderte Penizillin die Welt. Menschen, die zuvor gestorben wären, konnten nun gerettet werden.

Zu glauben, dass man ein Allheilmittel gegen ein Wesen gefunden hatte, das vier Milliarden Jahre durch ständige Anpassung überlebt hatte, war ziemlich arrogant, aber typisch für unseren menschlichen Hochmut. Und natürlich schlugen die Bakterien schon bald zurück, indem sie Resistenzen entwickelten – wovor schon der Entdecker des Penizillins, Alexander Fleming, gewarnt hatte.

Der Vietnamkrieg und die Folgen für weltweite Resistenzbildung

Aber offensichtlich hatte niemand zugehört, als er seine Warnung formulierte. Denn als im Vietnamkrieg zahlreiche US-Soldaten mit Tripper, genauer gesagt der Geschlechtskrankheit Gonorrhoe, angesteckt wurden, behandelten die Ärzte sie mit zwei Formen von Penizillin, machten sie dadurch wieder kampffähig und dachten nicht daran, welche Folgen daraus für die Welt resultieren würden.

Und so kam es, dass 1976 die ersten Meldungen über das Versagen von Penizillin auftraten. 1980 konnte man es gegen Tripper praktisch nicht mehr einsetzen. Nach 20 Jahren wurde auch das Nachfolgeprodukt Ciprofloxacin ineffektiv. Dass dieses Antibiotikum so relativ lange wirksam war, führt man auf die drastische Reduzierung von Partnerwechseln aufgrund der gleichzeitig grassierenden HIV-Epidemie zurück.

Inzwischen gibt es die ersten Fälle unheilbarer Trippererkrankungen, wobei damit zu rechnen ist, dass es eine riesige Dunkelziffer in Teilen Asiens gibt. In zwei bis drei Jahren, so die Schätzung von Ärzten, werden Resistenzen gegen Antibiotika, die bei Gonorrhoe zum Einsatz kommen, auch in Europa zum Alltag gehören. Nur dass bis dahin niemand ein wirksames Medikament entwickelt haben wird.

Aber der falsche Einsatz Leben rettender Antibiotika beim Menschen ist nicht der einzige Fehler, der in einer auf Profitmaximierung ausgelegten Gesellschaft sehenden Auges gemacht wurde.

Der Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft

In der Massentierzucht wird Antibiotika an Tiere verabreicht, die gesund sind und diese eigentlich nicht benötigen. Im Jahr 2016 kamen 80 Prozent der produzierten Antibiotika in der Aufzucht bzw. der Mast von Tieren zum Einsatz. Das bedeutet, dass 15 Millionen Kilogramm Antibiotika eingesetzt wurden. In der Werbung für Terramycin wurde behauptet, dass der Einsatz zu einer Gewichtszunahme von 15 Prozent im Vergleich zu einem Tier ohne Antibiotikum im gleichen Zeitraum führe.

In Deutschland wurde das Problem auch lange verdrängt, bis es im Laufe der letzten Jahre zu Maßnahmen der Regierung kam, um den Einsatz zu verringern. Auf der Seite Landwirtschaft.de kann man lesen:

Die wichtigste Säule der Minimierungsstrategie der Bundesregierung ist das am 1. April 2014 in Kraft getretene Antibiotika-Minimierungskonzept der 16. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG). Damit soll der Verbrauch von Antibiotika in der Nutztierhaltung auf das therapeutisch unverzichtbare Mindestmaß verringert werden. Jeder landwirtschaftliche Betrieb, der Rinder, Schweine, Hühner oder Puten mästet, muss halbjährlich melden, wie häufig er Antibiotika bei seinen Tieren einsetzt. Diese Daten werden in der zentralen staatlichen HIT-Datenbank gesammelt.

Den Angaben der Seite zufolge sank durch die Maßnahmen der Gesamtverbrauch von Antibiotika in der Tiermast zwischen Juli 2014 und Ende 2017 um 31,6 Prozent. Der stärkste Rückgang sei bei der Schweineaufzucht zu beobachten gewesen. Wenn man aber davon ausgeht, dass Antibiotika davor als Masthilfsmittel und nicht als Tierarzneimittel eingesetzt wurde, erscheint der Rückgang eher unbefriedigend.

Was außerdem berücksichtigt werden muss, ist, dass die neuen, jetzt in der Tiermast eingesetzten Antibiotika sogenannte "Reserveantibiotika" sind, die um den Faktor 60 intensiver sind als die herkömmlichen Antibiotika. Mit einem Kilogramm Tetracyclin kann man heute 39.000 Schweine behandeln. Mit neueren Antibiotika, die auch in der Transplantationsmedizin benötigt werden, kann man mit der gleichen Menge circa zwei Millionen Schweine behandeln.

Außerdem sollte man bedenken, dass viele Erkrankungen, die mit Antibiotika in der Tierhaltung auftreten und, durchaus gerechtfertigt, mit Antibiotika behandelt werden, erst durch die Massentierhaltung entstehen. D.h. eine ernsthafte Bekämpfung des Antibiotikaeinsatzes, beschränkt auf Erkrankungen, müsste zunächst die Tierhaltungsvorschriften ändern.

Es ist klar, dass resistente Keime, die durch diese Art der Massentierhaltung und Tierbehandlung entstehen, nicht in den Ställen bleiben. Sie werden mit der Gülle und dem Mist auf die Felder gebracht. Und wenn die Tiere geschlachtet werden und Magen und Darm entfernt werden, dann gelangen natürlich auch Bakterien in das Endprodukt Fleisch. So konnten zwei Verbreitungswege resistenter Keime nachvollzogen werden.

Interessant ist, dass Bakterien Gensequenzen von anderen Bakterien übernehmen konnten, also Gen-Schnipsel, wodurch gleich gegen mehrere Antibiotika resistent werden konnten. Bei Bakterien fand man heraus, dass sie auch Genteile übertragen können, die nicht Teil ihrer eigenen chromosomalen DNA sind. Oft enthalten solche Gen-Schnipsel nicht nur den genetischen Code für eine Resistenz, sondern verschiedene Codes.

Interessant erscheint das insbesondere im Hinblick auf die neuartigen Impfstoffe gegen Coronaviren, die ja vermutlich auf der neuen RNA-Technologie beruhen werden. Diese gentechnischen Produkte sollen ja auch Gen-Schnipsel in das menschliche Genom einbauen können.

Zurück zur Antibiotikaresistenz von Bakterien. Die Verbreitung solcher Resistenzen ist praktisch nicht berechenbar, und es reicht eine Quelle der Resistenz, um sich dann auf der ganzen Welt zu verbreiten. Das ist eine Pandemie in Zeitlupe. Weshalb sich die Menschen die Gefährlichkeit nicht wirklich vorstellen können.

Den Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung zu beschränken, hatte Jahrzehnte gedauert. Pharmaindustrie und Fleischindustrie agierten gemeinsam, um ein Verbot zu verhindern oder mindestens zu verzögern. In den USA hatte Präsident Carter versucht, die 25-jährige Nutzung von Antibiotika als Hilfsmittel in der Tiermast zu unterbinden. Damals noch vergeblich. Es dauerte über 40 Jahre, bis der Umsatz von Antibiotika in Höhe von 13 Milliarden Dollar in der Tiermast endlich zu schrumpfen begann.

Laut Deutscher VDI-Norm produziert ein Stall mit 30.000 Masthühnern 2,1 Millionen keimbildende Einheiten Staphylokokken pro Sekunde in der Abluft. Behördliche Untersuchungen, wie groß die Keimbelastung um entsprechende Anlagen herum ist und wie groß eventuell der Anteil an resistenten Keimen ist, werden nicht durchgeführt. Aber es gibt noch viel mehr Möglichkeiten, wie Resistenzen sich verbreiten. Da sind zum Beispiel die Fliegen, die von dem Kot der Tiere Bakterien aufnehmen und diese in die Städte bringen.

Fazit

Bakterien sind nicht grundsätzlich unsere Feinde. Bakterien sind für den menschlichen Körper lebensnotwendig. Ohne sie könnten wir nicht verdauen, ohne sie könnten wir kaum atmen, ohne sie würde unser Körper vermutlich längst von feindlichen Keimen zerstört worden sein. Die "guten" Bakterien können in Zusammenarbeit mit unserem körpereigenen Immunsystem dafür sorgen, dass wir auch gegen unbekannte oder antibiotikaresistente Keime Sieger bleiben.

"Die Basis ihrer Untersuchung bildet ein 20 bis 30 Jahre alter 'Durchschnittsmann' mit einem Gewicht von 70 Kilogramm, der 1,70 Meter groß ist. Dieser besteht nach Schätzungen der Wissenschaftler aus 30 Billionen Körperzellen, die von etwa genau so vielen oder etwas mehr Bakterien besiedelt werden (39 Billionen/etwa 2 kg unseres Körpergewichts)."

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Anmerkung des Autors:

Inspiration zu dem Artikel war nicht nur die Erfahrung von Marianne Koch, sondern auch die Arte-Dokumentation "Resistence Fighters", eine Perle im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.