von Wladislaw Sankin
In den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist MDR-Radio der Radiosender Nummer eins: Fast jeder zweite Einwohner schaltet täglich mindestens einmal ein MDR-Programm ein. Damit erreicht der MDR ein Millionenpublikum. Als öffentlich-rechtlicher Sender der ARD-Familie ist der MDR den Grundsätzen der Objektivität und Unparteilichkeit verpflichtet und muss die "demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllen". So steht es in §11 des Staatsvertrages für Rundfunk und Telemedien.
Ein Beitrag der ARD-Hörfunkkorrespondentin Sabine Stöhr lässt an der Treue des Senders zu diesen Prinzipien stark zweifeln. Er ist dem sensiblen Sprachproblem in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gewidmet und heißt "Schwindende Bedeutung der russischen Sprache: viele sowjetische Nachfolgestaaten führen eigene Sprachen als Amtssprache ein". Der Beitrag dauert vier Minuten und wurde am Vormittag des 5. Juni im MDR-Radio zweimal ausgestrahlt.
RT zeigt in einem Faktencheck, dass der MDR-Beitrag extrem tendenziös und faktisch falsch war.
Der Beitrag beginnt mit der folgenden Feststellung:
Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion versuchen, mit ihrem neuen Nationalgefühl die einstigen Herrscher ins Abseits zu drängen.
Dem Wort "Herrscher" kommt im Beitrag entscheidende Bedeutung zu, denn die Journalistin wiederholt es zweimal. So auch bei Minute 2:56:
Diese Sprache der einstigen Herrscher verliert jetzt zunehmend an Bedeutung.
Diese Wortwahl suggeriert, dass Russland die betroffenen Staaten – im Beitrag ist von der Ukraine, Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan die Rede – gewaltsam eroberte und unterjochte. Das geht komplett an der realen Geschichte Eurasiens vorbei.
Die Sprache Nordeurasiens
Georgische Fürsten- und Zarentümer und Khanate auf dem Territorium des heutigen Aserbaidschan lagen im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen dem Russischen und dem Osmanischen bzw. Persischen Reich. Infolge der Russisch-Persischen Kriege wurden die Khanate zu russischen Provinzen. Auf Bitten des georgischen Königs Erekle II. wurde Russland 1784 offizielle Schutzmacht des Königreichs Kartlien-Kachetien, das einen beachtlichen Teil des heutigen Georgiens und auch die Hauptstadt Tiflis umfasste. 1801 wurde es eine russische Provinz. Georgische Adelige und Kaufleute erhielten gleiche Rechte wie die russischen. Einer der berühmtesten Feldherren des ersten Vaterländischen Krieges 1812 gegen Napoleon war der georgische Fürst Pjotr Bagration.
Ähnlich war es mit der Ukraine – die Angliederung der damals oft Kleinrussland genannten ukrainischen Gebiete an das Russische Reich begann infolge mehrerer Kosakenaufstände gegen den polnischen Adel und Russisch-Polnischer Kriege bereits Mitte des 17. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert verdrängte Russland das Khanat der Krim, einen osmanischen Vasallenstaat, aus den riesigen Steppengebieten nördlich des Schwarzmeers und kolonisierte diese. Zur Zeit der Sowjetunion dehnte sich die Ukraine bis zu ihren heutigen Grenzen aus. Die russisch-ukrainische Geschichte ist, wie der Schweizer Historiker Andreas Kappeler einst sagte, die Geschichte einer Verflechtung.
Viele Städte im Norden des heutigen Kasachstan liegen geografisch in Südsibirien und entstanden aus den russischen Festungsanlagen, die Wehrbauern (Kosaken) gebaut hatten, um sich vor den verheerenden Übergriffen der Nomaden aus Zentralasien zu schützen. Später wurden die von Russen und Ukrainern kolonisierten Gebiete der Kasachischen Sowjetrepublik dem Stammgebiet der Kasachen zusätzlich zugeschlagen. Viele Städte wurden zur Sowjetzeit als Industriezentren gegründet und zogen Arbeitskräfte aus dem ganzen Land an. Nun ist Kasachstan ein multiethnisch geprägtes Land. Über 90 Prozent der Einwohner Kasachstans stimmten beim Referendum im März 1991 für den Erhalt der Sowjetunion.
Russen und russischsprachige Menschen wurden im Laufe der Jahrhunderte zum verbindenden Element des gesamten nördlichen Eurasiens. In die Führungseliten des Russischen Reiches und der Sowjetunion waren viele Völker integriert. Die Einführung des Russischen als Amtssprache war ein integrativer Akt des Staatswesens auf einem enormen Territorium. Das Erlernen des Russischen bedeutete auch Karriere- und Aufstiegschancen.
Die Autorin misst jedoch mit zweierlei Maß – im Fall des Russischen sieht sie die Entwicklung rückwirkend als Aggression, die Verdrängung des Russischen durch Nationalsprachen, über die sie berichtet, begrüßt Stöhr hingegen. Das wird im Laufe des Beitrages noch deutlicher. Außerdem ignoriert sie vollends, dass ausgerechnet in Moskau – um bei ihrer Wortwahl zu bleiben, dem Stützpunkt der "Herrscher" – im Jahre 1923 die sogenannte Politik der Korenisazija (wörtlich übersetzt: "Einwurzelung") für alle russischen und sowjetischen Teilrepubliken beschlossen wurde, die zu einer nie dagewesenen Entwicklung der Nationalkulturen entscheidend beigetragen hat.
In der Ukraine kam es infolgedessen zur Turbo-Ukrainisierung der russischen Bevölkerung: Innerhalb weniger Jahre mussten Bildung, Medien, Kulturbetrieb, Verwaltung und das öffentliche Leben komplett auf Ukrainisch umgestellt werden. Ohne diese Politik hätte sich die ukrainische Sprache in der Ukraine kaum etablieren können.
Sprachgesetz gekippt
Diese Geschichte spielt für die Autorin keine Rolle. Ihre Zeitrechnung beginnt im März 2014:
Spätestens seit 2014 und der russischen Annexion der Krim ist das ein Zeichen dafür, dass man sich dem Einfluss der russischen Führung entziehen will. Gut zu sehen ist das vor allem in der Ukraine. Der dort weiter schwelende Konflikt im Osten und die Betrachtung Russlands als Aggressor führte hier zum sogenannten Sprachengesetz.
Die Journalistin stellt einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des russischen Staates und der ukrainischen Sprachpolitik her. Gemeint ist damit das Sprachgesetz aus dem Jahr 2019, das eine totale Ukrainisierung durch administrative Zwangsmaßnahmen vorsieht.
Damit vertauscht die Autorin Ursache und Wirkung völlig. Im Februar 2014 ereignete sich in Kiew ein gewaltsamer Staatsstreich, als der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch infolge der Dutzenden unaufgeklärten Morde bei den Kämpfen zwischen den Aktivisten und Polizeikräften sowie der Gewaltandrohungen rechtsradikaler Kräfte zur Flucht gezwungen war. Der erste Staatsakt der Maidan-Revolutionäre war das Kippen des damaligen Sprachgesetzes im durch die Anwesenheit Bewaffneter gefügig gemachten Parlament (Werchowna Rada), dem zufolge Russisch als Regionalsprache in der Verwaltung zugelassen wurde.
Das Gesetz war zu jenem Zeitpunkt erst zwei Jahre in Kraft und galt als wichtiger Kompromiss im jahrzehntelangen politischen Kampf um die Rechte der russischen Sprache. Die russischsprachigen Ukrainer sind die größte Bevölkerungsgruppe in Europa, die in einem Land wohnt, dessen Landessprache nicht ihre Muttersprache ist. Mit ihrer ersten Handlung an der Macht zeigten die Maidan-Kräfte, worum es ihnen vor allem geht, und bestätigten damit die Befürchtungen, dass es sich bei der Maidan-Revolution viel eher um einen nationalistischen Putsch als um einen emanzipatorischen Akt handelte.
Die Außerkraftsetzung des Gesetzes wurde wegen der verheerenden politischen Folgen dieses Vorstoßes für einige Jahre verschoben. Während das Gesetz von 2012 gültig blieb, wurde das neue, oft als "drakonisch" bezeichnete Dokument vorbereitet.
Und die Autorin "vergisst" das Wichtigste: Russisch ist die Sprache von Millionen von Menschen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, die seit Generationen in der Ukraine leben. Zu diesen gehören auch prowestlich gesinnte Menschen, wie zum Beispiel der ausgerechnet für den MDR schreibende "Ostblogger" Denis Trubetskoy. In seinem Beitrag "Ukraine: Russisch ist auch unsere Sprache" heißt es: "Das Russische [ist] aus dem Land nicht wegzudenken. Und man sollte Russisch nicht alleine Moskau überlassen."
Russisch soll untergeordnet sein
Dann zitiert die Autorin den früheren ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, der in einer Rede auf eine bekannte Äußerung einer ukrainischen Dichterin verwies.
Nationen sterben nicht an einem Herzinfarkt, sondern man nimmt ihnen zuerst die Sprache weg. Wir haben es seit 2014 geschafft, den Beinahe-Infarkt zu überleben. Und jetzt sind unsere Informationsmedien alle auf Ukrainisch: Filme, Bücher, Radio und Fernsehen.
Der Verweis auf eine moralische Autorität – die 90-jährige Dichterin Lina Kostenko – soll Poroschenko aufwerten und die folgende Feststellung begründen:
Russisch soll in der Ukraine zur untergeordneten Sprache werden.
Das ist eine richtige Feststellung, genau so ist es. Russisch ist sogar mehrfach untergeordnet, denn es hat einen niedrigeren Status als zum Beispiel Sprachen aus dem EU-Raum wie Polnisch, Rumänisch und Ungarisch, die in einigen Gebieten der Westukraine von insgesamt wenigen Hunderttausend Menschen gesprochen werden. Doch die MDR-Autorin bedauert diese künstliche Herabsetzung einer der Weltsprachen und eines Kulturguts keineswegs. Im Gegenteil, sie verbindet dies mit dem europäischen Weg der Ukraine. Nebenbei lobt sie den Ex-Präsidenten für seinen Fleiß:
Schon zuvor hob Poroschenko, der übrigens auch erst später Ukrainisch lernte, hervor: "die starke und erfolgreiche Ukraine zum zweifellosen Teil Europas zu machen, ohne jede Perspektive der Rückkehr in die Zone des russischen Einflusses".
Und dann gibt es wieder Fakten:
Ukrainisch soll die einzige öffentliche Sprache werden: im Parlament, auf Ämtern, im Kulturleben und bei den Bedienungen in Restaurants.
Poroschenko übernahm in seinem Wahlkampf Anfang 2019 die antirussische Rhetorik radikaler ukrainischer Nationalisten und schrieb die "Befreiung" vom russischen Einfluss und der russischen Sprache auf seine Fahne: Sein Wahlkampfmotto lautete "Armee, Sprache, Glaube". Damit hatte der damalige Staatschef jedoch keinen Erfolg, sodass er die Wahl gegen den Schauspieler und Komiker Wladimir Selenskij haushoch verlor. Darauf weist die Autorin nicht hin, denn aus ihrer Sicht habe Poroschenko als angeblicher "Retter" der ukrainischen Sprache richtig gehandelt.
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Stöhr beschreibt Ukrainisch als bedrohte Sprache, die mit Zwangsmaßnahmen gegen eine andere Sprache geschützt werden muss. Doch hier muss man klarstellen: Seit dem Jahr 1991 ist Ukrainisch die einzige Landessprache, deren Durchsetzung mit allen Mitteln gefördert wurde. Russisch hat Ukrainisch nur im freien Wettbewerb "bedroht", obwohl die Zahl der russischen Schulen in all den Jahren der Unabhängigkeit kontinuierlich sank und die Quoten für Ukrainisch in Medien und Kulturbetrieb stiegen.
Dann wird das neue Bildungsgesetz beschrieben:
Ein neues Bildungsgesetz macht Ukrainisch auch für den Schulunterricht ab der 5. Klasse verbindlich.
Dieser Satz ist bewusst diffus formuliert, denn darunter kann man sowohl die komplette Umstellung des Unterrichts auf Ukrainisch als auch das Erlernen der ukrainischen Sprache verstehen. Das Ukrainische ab dem ersten Schuljahr in der Ukraine ist seit 1989 ein Pflichtfach. Ein Zitat aus einem Auftritt der Bildungsministerin Anna Nowosad hätte die Situation viel treffender beschrieben:
"Es gibt immer noch russischsprachige Schulen in der Ukraine, aber ab September 2020 werden diese Schulen auf die ukrainische Unterrichtssprache umgestellt. Schulen für Minderheitensprachen, die zu den Sprachen der Europäischen Union gehören, ab September 2023."
Umfragen: "Russische Schulen sollen bleiben"
Ein paar Zahlen zum Vergleich: Nach einer Studie des Ukrainischen Instituts für Politik hatten im Jahr 2020 noch 281.000 Kinder in 125 Schulen zumindest Teilunterricht auf Russisch. Das sind fast sieben Prozent aller Kinder. Mindestens die Hälfte der ukrainischen Bürger nutzt dabei täglich Russisch, die Zahl der russischen Muttersprachler dürfte nach Angaben des Gallup-Instituts sogar bei 83 Prozent liegen (Angaben fürs Jahr 2008).
Wie eine aktuelle Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KMIS) ergab, sprechen 52 Prozent der Ukrainer mit Freunden und Bekannten überwiegend Russisch, im Internet sind es 56 Prozent. Zu Hause und bei der Arbeit nutzen je 49 Prozent der Befragten eine der beiden Sprachen. Regelmäßig geführte wissenschaftliche Studien zeigten stets, dass die Zweisprachigkeit von der ukrainischen Bevölkerung als Bereicherung und nicht als Problem wahrgenommen wird. Doch der MDR bekommt das nicht mit:
Das (die Ukrainisierung) kommt überwiegend gut an in dem seit 1991 unabhängigen Land.
Statistiken, Umfragen, zahlreiche kritische Beiträge im Internet widersprechen dieser Einschätzung. Die Ukrainisierungspolitik im Bildungssektor stützt sich nicht auf Mehrheit, im Gegenteil: Wie eine KMIS-Umfrage im Februar dieses Jahres ergab, sprechen sich 73 Prozent der Bürger dafür aus, dass der Staat die Möglichkeit der Bildung in russischer Sprache entweder im ganzen Land oder zumindest in den russischsprachigen Regionen gewährleisten muss. Und 68 Prozent sind der Meinung, dass Russisch in der Verwaltung entweder regional (37 Prozent) oder im ganzen Land (31 Prozent) verwendet werden darf.
Dabei wird die Sprache nicht als wichtiger Indikator für Patriotismus wahrgenommen. Laut einer anderen Umfrage halten nur 34 Prozent der Bürger die Identifikation mit dem Ukrainischen für ein Zeichen von Patriotismus.
Die aktuellste KMIS-Umfrage zeigte, dass fast 49 Prozent der Ukrainer Russisch für einen Teil des ukrainischen historischen Nationalerbes halten, nur 27 Prozent halten es für eine Bedrohung der nationalen Sicherheit, wobei es bei dieser Einschätzung klare regionale Unterschiede gibt.
"Sprache ist unsere stärkste Waffe"
Doch diese falsche Behauptung ist kein Fehler, sondern Teil des Konstruktes, das die Korrespondentin in ihrem Beitrag entwickelt. Nach diesem Konstrukt ist die ukrainische Sprache ein Opfer, das ein weitsichtiger Präsident vor dem nahen Tod gerettet hat. Die Bevölkerung, und mit ihr auch die ARD-Journalistin, jubeln ihm dafür zu. Eine Störung, ein Konflikt, ein Krieg wird in Verbindung mit der russischen Seite gebracht:
Was wie ein Kampf zwischen Sprachen klingt, ist auch einer. Der russische Präsident Wladimir Putin spricht sogar von Krieg, vor einem Jahr bei der Sitzung des Sprachenrates.
Wer greift an, wer verteidigt sich in diesem Krieg? Was meint der Präsident genau? Das wird im Zitat ausgelassen. Doch, und das ist wichtig:
"Jeder Angriff auf sie (die russische Sprache) ist eine Verletzung der Menschenrechte auf Sprache und Kultur. Es sind Steinzeitrussophobe, die der russischen Sprache den Krieg erklären", sagte Putin.
Menschenrechte … Dieses Thema sollte eigentlich nicht Putin, sondern die ARD-Korrespondentin ansprechen. Soll nicht das Verständnis für Menschenrechte, Demokratie und Kultur laut Staatsvertrag vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk vermittelt werden? Zumal die rechtliche Venedig-Kommission des Europarates das Sprachgesetz mehrfach kritisierte.
Dieser Krieg ist kein Hirngespinst des russischen Präsidenten. Ukrainische Politiker sprechen offen davon. "Die ukrainische Sprache ist unsere Waffe, die stärkste überhaupt. (…) Wo die Sprache ist, da liegt der Sieg", verkündete der damalige Rada-Sprecher, der nationalistische Politiker Andrei Parubij, vor der Abstimmung über das Sprachgesetz im April 2019.
In diesem Abschnitt "punktet" die Autorin durch Auslassung, die ihre Zuhörer auf die "richtige" Spur bringen soll.
Kasachstan: Und was ist mit dem Präsidenten?
Im zweiten Teil des Beitrages geht es um die Sprachsituation in Georgien, Aserbaidschan und ausführlicher in Kasachstan. Diesmal wird ein "unabhängiger Experte" zitiert:
Auch in der kasachischen Gesellschaft werde nach der Annexion der Krim und einer Außenpolitik, die als aggressiv wahrgenommen wird, Russland weniger als ideologischer Partner als (sic!) Gegner gesehen, erklärt der unabhängige kasachische Politologe Dosym Satpajew. Es habe einen Bedarf an sprachlicher Entkolonialisierung gegeben.
Recherchen zeigen, dass Satpajew für Forbes schreibt und auch von der BBC zitiert wird. Überall sagt er das Gleiche – Kasachstan solle sich von Russland distanzieren. Doch vertritt er etwa die Staatspolitik? Keineswegs. Gerade zuvor aber zitierte Stöhr als Ausdruck staatlicher Politik einen ehemaligen ukrainischen Präsidenten. Kritische Gegenmeinungen, etwa von Experten oder einfachen Bürgern, die im Internet zuhauf zu finden ist, kamen nicht zu Wort.
Nach dem Paritätsprinzip sollte aber auch hier der Präsident zitiert werden. Doch die Journalistin stellt eine tendenziöse Experteneinschätzung in den Vordergrund und lässt Vertreter des kasachischen Staates nicht zu Wort kommen. Und was sagt Präsident Qassym‑Schomart Toqajew über die Sprachsituation?
"Dies ist ein sehr komplexes und wichtiges Thema. Meine Position: Als Erstes muss es die kasachische Sprache und die russische Sprache geben. Sie sind sehr wichtig für unsere Kinder. Und erst dann müssen wir Englisch unterrichten", sagte er über das Konzept der Dreisprachigkeit seines Vorgängers Nursultan Nasarbajew.
Im Februar 2020 sagte er in einem Interview: "Ich schmälere nicht die historische Bedeutung der russischen Sprache, die uns den Weg zum Wissen in der Weltwissenschaft und -kultur eröffnet hat. Die Einwohner Kasachstans sollten sie auf hohem Niveau beherrschen."
Man sieht also, seine Stimme passt nicht ins Konzept. Die Autorin bemüht daher ein weiteres Zeichen, dass sich die Kasachen, in deren Verfassung Russisch offiziell als internationale Verkehrssprache (Lingua franca) festgeschrieben ist, angeblich von der russischen Sprache distanzieren wollen – die Umstellung des Alphabets von der kyrillischen auf die lateinische Schrift.
Was die Autorin nicht erwähnt, ist, dass dies bereits die vierte Umstellung in den letzten 100 Jahren ist – möglicherweise ein Rekord unter den Sprachen. Die Kasachen verwendeten bereits das arabische, das lateinische und erst dann das kyrillische Alphabet.
Aserbaidschan: Russisch ist gefragt
Das gleiche Argument für Distanz zu Moskau und zum Russischen hat die Autorin auch für Aserbaidschan parat – das südkaukasische Land, "wo das Alphabet wieder lateinisch ist und in Schulen auf Aserbaidschanisch unterrichtet wird".
Hier müsste man die Frage stellen, wie alt eine Information sein muss, um beim MDR noch als aktuelle Meldung zu gelten. Während sich die Umstellung auf die lateinische Schrift in Kasachstan jetzt noch in den Anfängen befindet, wurde diese in Aserbaidschan bereits im Jahr 2001 beschlossen. Es stimmt, dass in den 1990er-Jahren in Aserbaidschan eine nationalistische Stimmung herrschte und es Versuche gab, den Einfluss des Russischen zu minimieren.
Doch derzeit befindet sich Russisch im Aufwind, und die Zahl der russischen Schulen wächst. 15 Prozent der Schulen in Aserbaidschan unterrichten auf Russisch – in einem Land, in dem ethnische Russen nur zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen. Umfragen auf den Straßen Bakus zeigen gute Russischkenntnisse der Einwohner und eine positive Einstellung zu dieser Sprache.
Die Stärkung der Position des Russischen liegt im Sinne der staatlichen Nachbarschaftspolitik. Präsident Ilcham Alijew, der selbst in Moskau studierte, betont, dass im Land großer Bedarf an Russischkenntnissen besteht. "Die russische Sprache ist in der Gesellschaft gefragt, und dies bleibt darüber hinaus eine gute Tradition und ein Zeugnis des Respekts vor historischen Bindungen", sagte er in einem Interview.
"Grobe Versuche, den Raum für russische Sprache künstlich zu verkleinern" – die im Beitrag zitierte Klage des russischen Präsidenten trifft damit auf Aserbaidschan keineswegs zu. Im Gegenteil, Putin betont: "Wir schätzen die Unterstützung der russischen Sprache in Aserbaidschan sehr."
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Zuhörer: "Lüge und Hetze"
Wie wir in unserem Faktencheck gesehen haben, erzählt die ARD-Autorin Stöhr in ihrem MDR-Beitrag eine Geschichte, die sie vom Anfang bis zum Schluss komplett erfunden hat. Ihr "Narrativ" lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die Russen sind selbst schuld, dass keiner ihre Sprache sprechen will. Das macht es ihr möglich, Diskriminierung in der Ukraine "nicht zu bemerken". Der Autorin hörten an einem Juni-Vormittag Zehntausende Menschen zu, wohl im Glauben, es handele sich um Information. Der Propaganda-Charakter ihrer Ausführungen blieb jedoch nicht unbemerkt und erntete scharfe Kritik im Netz.
"Mach die, deren Rechte mit Füßen getreten werden, zum 'früheren Herrscher und Unterdrücker' und schon ist niemand empört über die Diskriminierung", schrieb der Rechtsanwalt Alexej Danckwardt auf Facebook.
Andere Nutzer warfen dem öffentlich-rechtlichen Sender "Hetze" (Margrit Siewert), "Russlandbashing" (der Liedermacher Tino Eisbrenner) "Verdrehung der Tatsachen" (Wolfgang Mueller) und "profaschistische Propaganda" (Holger Förster) vor.
Die Tatsache, dass dieses "Werk" einer einzelnen Journalistin bei der ARD offenbar nicht einmal den Verdacht auf Unstimmigkeit geweckt hat und ausgestrahlt wurde, spricht dafür, dass bei der Russland-Berichterstattung journalistische Prinzipien in besonders eklatanter Weise außer Kraft gesetzt werden.
Nachtrag vom 15. Juni: Den Beitrag der ARD-Hörfunkkorrespondentin Sabine Stöhr hat auch der Radiosender Bayern 2 des BR in der Sendung "Russisch auf dem Rückzug" am 5. Juni ausgestrahlt – in einer längeren Version (hier in der ARD-Mediathek abrufbar). Am Ende des BR-Beitrages (ab 5:48) lässt die Korrespondentin noch einmal Wladimir Putin zitieren und spricht vom Russischen als Instrument der Soft Power. Der Propaganda-Vorwurf gegen den MDR trifft damit für den BR nur teilweise zu.
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