American Spring oder amerikanische Intifada?

Ende 2010 zündete sich in Tunesien ein Gemüsehändler aufgrund von Polizeiwillkür und sozialen Missständen selbst an und löste dadurch Proteste aus, die sich auf weitere arabische Länder ausweiteten. Die Unruhen in den USA haben ähnliche Ursachen, aber die westlichen Reaktionen unterscheiden sich.

von Zlatko Percinic

Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht neu. Ebenso wenig der Einsatz des Militärs, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Als in Detroit 1967 selbst die 8.000 Mann der Nationalgarde mit den Protesten nicht fertig wurden, schickte Präsident Lyndon B. Johnson zusätzliche 5.000 Soldaten der US-Army. Er begründete diesen Schritt damit, dass in der Autostadt "extremes Chaos" herrsche und "Recht und Ordnung zusammengebrochen" war. So wurden immer wieder zwar die Unruhen beendet, aber das eigentliche Grundübel, der inhärente Rassismus und soziale Benachteiligung, wurden nie angegangen.

Für die Elite reichte es, dass es auf dem Papier (Verfassung) weder das eine noch das andere gab, sondern dass alle Bürger gleich wären. Statt die realen Probleme anzugehen, konzentrierte sie sich darauf, die eigenen Vorteile auszunutzen und den "amerikanischen Traum" in vollen Zügen auszuleben. Dass dabei die unteren sozialen Schichten auf der Strecke blieben, in denen überdurchschnittlich viele Afroamerikaner und später Hispanics vertreten sind, störte weder sie noch die Regierung in Washington D.C.

Dabei hatte einer der führenden Soziologen des frühen 20. Jahrhunderts, W. E. B. Du Bois, darauf hingewiesen, dass es einer "intelligenten Führung" bedürfe, um ein "richtiges Verständnis der Masse der Negros und ihrer Probleme zu erhalten" (Quelle: "The Talented Tenth" aus dem Jahr 1903). Du Bois wusste genau, wovon er sprach. Er war einer der wenigen Afroamerikaner seiner Zeit, die die Möglichkeit erhielten, durch Bildung einem Leben in Armut und Demütigung zu entkommen. Eine besondere Verantwortung sah er bei jenen, die wie er in den Genuss einer Ausbildung kamen und innerhalb ihrer Gemeinschaft Verantwortung übernehmen sollten:

Würde diese Möglichkeit ausgebreitet, könnten tausendmal so viele Negros den Rängen von Ausgebildeten und Fähigen beitreten, anstatt in Armut, Krankheit und Verbrechen zu versinken.

Einhundertfünf Jahre später gelang es dem ersten Afroamerikaner in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, in das Weiße Haus einzuziehen. Die Hoffnungen in den neuen und jungen Präsidenten waren enorm. Im Ausland hoffte man, dass er eine weniger kriegerische Politik als sein Vorgänger George W. Bush führen werde.

In einer schon fast absurden Erwartungshaltung wurde ihm wenige Monate nach der Amtseinführung sogar der Friedensnobelpreis verliehen. Doch er enttäuschte nicht nur die ausländischen Erwartungen (Kriege wurden nicht beendet, sondern ausgeweitet), sondern auch die der eigenen Bevölkerung. Das gilt ganz besonders für die Afroamerikaner, die die Hoffnung in ihn setzten, ihre Probleme und Beschwerden zu verstehen und entsprechend zu handeln.

Nach acht Jahren mussten sie aber feststellen, dass sich nichts geändert hat. Weder hat sich etwas mit einer gerechteren Verteilung von Vermögen getan, noch wurden Reformen angestoßen, um den systemischen Rassismus auszumerzen. Der Tod von George Floyd, der von einem weißen Polizisten unbarmherzig mit dessen Knie neun Minuten lang gewürgt wurde, war nur der letzte Vorfall, der das Fass zum Überlaufen brachte.  

Die Proteste weiteten sich von Minneapolis in das ganze Land aus, was gegenüber den punktuellen Rassenunruhen der vergangenen Jahrzehnte eine neue Qualität erreicht hat. Dabei geht es den Menschen schon längst nicht mehr nur um den Tod von Floyd, sondern sie prangern das ganze System an, wie die Aktivistin Tamika D. Mallory in einer Millionenfach gesehenen und geteilten Rede überdeutlich klarstellte:

Erzählt uns nichts über Plünderungen. Ihr seid alle Plünderer. Das was ihr tut ist Plünderei, wir haben es von euch gelernt. Wir haben Gewalt von euch gelernt. … Wenn ihr wollt, dass wir es besser machen, dann verdammt nochmal macht es besser.   

Während Amerika im Chaos versinkt und US-Präsident Donald Trump auf Repression durch Nationalgarde und Militär setzt, ist der Funke auch auf europäische Städte übergesprungen. Ob in Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden, überall gingen zehntausende Menschen unter dem Banner von "Black Lives Matter" auf die Straßen. Sie protestierten aber nicht nur aus Solidarität, sondern auch aus Protest gegen die Politik und Polizeigewalt in den eigenen Ländern. Der Frust auf beiden Kontinenten wurde sicherlich auch durch die Folgen der Coronakrise begünstigt.

Es gibt deshalb durchaus Parallelen zum sogenannten "Arabischen Frühling", der als Folge von Willkür, sozialer Ungleichheit und Polizeigewalt Ende 2010 in Tunesien ausbrach und sich in Windeseile auf weitere arabische Länder ausbreitete. Der Begriff "Amerikanischer Frühling" wird in sozialen Netzwerken bereits verwendet, um den Unruhen einen Namen zu geben, unter anderem auch von der Hackerorganisation Anonymous.

Interessant in diesem Zusammenhang sind die Reaktionen der Regierungen in Europa. Als es im Sommer 2019 zu nicht genehmigten Demonstrationen mit entsprechenden Reaktionen der Polizei kam, verurteilte die EU die Polizeimaßnahmen als "unangemessene Gewalt". Dirk Wiese (SPD), Russlandbeauftragter der Bundesregierung, zeigte sich besorgt über den "unverhältnismäßigen Polizeieinsatz gegenüber friedlichen Demonstranten". Und das Auswärtige Amt erklärte:

Erneut sind bei Demonstrationen in Moskau hunderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer verhaftet worden. Die Festnahmen standen in keinem Verhältnis zum friedlichen Charakter der Proteste, die sich gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidatinnen und Kandidaten von der Stadtduma-Wahl in Moskau richteten. Die wiederholten Eingriffe in das verbürgte Recht auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung verstoßen gegen Russlands internationale Verpflichtungen und stellen das Recht auf freie, faire Wahlen nachdrücklich in Frage. Russland muss die Grundrechte seiner Bürgerinnen und Bürger wirksam schützen. Daher erwarten wir die rasche Freilassung aller friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten.

Es brauchte hingegen eine geschlagene Woche, bis sich Außenminister Heiko Maas (SPD) dazu durchringen konnte, überhaupt irgendetwas zu den Geschehnissen in den USA zu sagen. Allerdings hätte das kaum in einem krasseren Gegensatz zu der Formulierung vor einem Jahr stehen könnten:     

Keine Forderungen, keine Verurteilungen, gar nichts. Das ist aber nichts Neues und auch nicht auf die USA beschränkt. Auch zu dem brutalen Vorgehen der französischen Polizei gegen die sogenannten Gelbwesten äußerte sich die deutsche Regierung nicht. Dieses selektive Eintreten für Menschenrechte und Demokratie schadet aber der Reputation der Bundesregierung. Wenn die ganze Welt mit Live-Feeds, Bildern und Videos in sozialen Netzwerken fast in Echtzeit zuschauen kann, wie genau jene Werte mit Füßen getreten werden, die man doch eigentlich anderen Ländern notfalls mit Gewalt aufzuzwingen versucht, gibt man sich der Lächerlichkeit preis. Wer soll Deutschland – und die USA – so ernst nehmen können, wenn doch offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird?

Selbst bei der Bundespressekonferenz, wo Journalisten wenigstens die Möglichkeit hätten kritische Fragen zu stellen, blieb es bis zum 3. Juni ruhig. Das Eis brach bezeichnenderweise auch kein Journalist des deutschen Mainstreams, sondern Vertreter von RT und Al Jazeera. Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte schließlich die Diskrepanz zwischen der deutschen Haltung zu den USA und anderen Länder folgendermaßen:

Ich glaube, es macht einen Unterschied aus, ob es zu Vorkommnissen in einem Land kommt, in dem es keinen Rechtsstaat und keine Demokratie gibt und Menschen ihre Meinung nicht frei äußern können. Da mag es notwendig sein und ist es de facto auch oft notwendig, dass Regierungen von außen Missstände öffentlich machen und auf sie hinweisen. All das, was wir hier besprechen, die Ereignisse um den Tod von George Floyd, diesen entsetzlichen und vermeidbaren Tod, und das, was seitdem geschieht , geschieht in einer großen und starken Demokratie, in der alles auf den Tisch kommt, in der alles besprochen wird und in der alles in der lebhaftesten Weise diskutiert wird. Deswegen braucht es nicht irgendwelche Hinweise durch die Bundesregierung oder andere demokratische, befreundete Regierungen. 

Für Hunderttausende Menschen, die nicht nur in den USA, sondern auch in verschiedenen europäischen Städten protestieren, ist diese Aussage ein Schlag ins Gesicht. Statt sich mit ihnen zu solidarisieren, wie man es in Ländern tut mit denen man nicht "befreundet" ist, wird den Behörden befreundeter Regierungen im Grunde genommen ein Freischein erteilt, mit äußerster Brutalität gegen Demonstranten vorzugehen. Schließlich kommt ja "alles auf den Tisch", und das muss reichen.   

Eine willkommene Ausnahme bildete EU-Chefdiplomat Josep Borrell, der – zwar ebenfalls mit Verspätung, aber immerhin – die "Gewalt und Rassismus jeglicher Art" verurteilte. 

Ganz im Gegensatz zu Seibert vertritt er die Auffassung, dass eine "exzessive Gewaltanwendung" überall angesprochen werden müsse. Das gelte "ganz besonders in Gesellschaften, die auf Rechtsstaatlichkeit, demokratischer Repräsentation und Respekt für Freiheiten basieren". Was in den USA im Zusammenhang mit dem Tod von George Floyd geschehen ist, sei ein "Machtmissbrauch", der in den "Staaten und überall bekämpft" werden müsse, sagte Borrell. Steffen Seibert hingegen stimmte lieber ein Hohelied auf die "enge Verbindung der Werte mit den USA" ein. 

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