von Felix Duček
Solche Chuzpe – oder gespielte Naivität, gar Unwissenheit? – muss man erst einmal aufbringen, als SPD-Spitzenpersonal in Deutschland und seit bald einem Jahr sogar Vizepräsidentin im EU-Parlament zu twittern:
Marxisten? Das waren doch die, die keinen Widerspruch duldeten und alle verfolgten, die anderer Meinung waren? Wo die Partei immer recht hat? Genau wie PiS und Fidesz heutzutage …
Da werden sich die Oberen in Polen und Ungarn aber geschmeichelt fühlen, bei so viel Übereinstimmung mit ihren Vorgängern im "Ostblock". Zu viel der Ehre, Frau Barley!
Wie kommt eine Spitzenfrau der SPD zu solch kruden Behauptungen und Gedanken? Nun ja, als Jahrgang 1968 aus Köln … da war der Kölner Kommunistenverbund nach dem Abwürgen der Revolution von 1848 schon 120 Jahre lang zerschlagen. Und auch die Sternstunde eines später bekannten Teilnehmers dieser Revolution und damaligen Weggefährten von Karl Marx und Friedrich Engels im Rheinland lag im Jahr ihrer Geburt schon über 100 Jahre zurück. Jener Ferdinand Lassalle gründete 1863 den ADAV, auch wenn er nur ein Jahr – bis zu seinem Ableben – infolge eines nachteilig verlaufenen Duells dessen Präsident bleiben konnte. Achtung, Frau Barley: Der ADAV ist gemeint, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, gegründet am 23. Mai 1863 in Leipzig/Königreich Sachsen, nicht der ADAC. Dieser wurde erst 40 Jahre später als die Deutsche Motorradfahrer-Vereinigung, seinerzeit eine Art Motorradclub, gegründet und heißt dank wohlmeinender Unterstützung durch Wilhelm II. erst seit 1911 ADAC.
Die verflixte Umtriebigkeit von Marx und Engels wollte es, dass diese mit beiden Vorläuferorganisationen der SPD viel (zu viel?) zu tun hatten. Karl Marx mit einer Gruppe von Arbeitern auf der Weltausstellung 1862 in London, von denen danach die Gründung des ADAV mitbetrieben wurde. August Bebel zog sich davon allerdings zurück, weil er – im Gegensatz zu Lassalle – für eine solche zu gründende Arbeiterpartei ein Bündnis mit demokratisch gesinnten bürgerlichen Kräften für sinnvoller hielt.
Und so betrieb Bebel zusammen mit Wilhelm Liebknecht – dem Vater von Karl Liebknecht – vielmehr Vorbereitungen für die Gründung der SDAP. Die SDAP (Achtung, Frau Barley: die mit dem bösartigen "N" davor stammt aus einer ganz anderen Zeit, schlechte fünfzig Jahre später), also die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Deutschland), wurde am 8. August 1869 auf wesentliche Initiative von Bebel und Liebknecht – beide überzeugte Anhänger von Marx – aus einem Zusammenschluss vormaliger Mitglieder des ADAV, der seit 1866 bestehenden Sächsischen Volkspartei sowie dem Vereinstag Deutscher Arbeitervereine in Eisenach gegründet und beschloss dort sogleich das Eisenacher Programm.
Dieses Programm von 1869 vertrat nun sogar bereits eine ganz klar am Marxismus orientierte politische Ausrichtung, nämlich den Kampf für die Befreiung aller arbeitenden Klassen, nicht um Klassenprivilegien, sondern letztlich für die Abschaffung jeglicher Klassenherrschaft. Und dieses Eisenacher Programm Marxscher Prägung wird auch von der heutigen SPD noch stolz als das erste Grundsatzprogramm aufgeführt. Na sowas aber auch!
Derartige Programme wurden dann auch noch viele beschlossen im Laufe der langen Jahre. Schon 1875 verabschiedete der Parteitag in Gotha das nächste – anlässlich der Vereinigung vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ADAV und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei SDAP zur "Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" (SAPD). Das nach dieser thüringischen Stadt benannte Programm war ein Kompromiss, der zwar nicht mehr explizit marxistisch-theoretisch fundiert war, aber immerhin noch "zugespitzte Aussagen zur 'Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gesellschaft' und zur 'Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit'" enthielt.
Trotzdem wurden derartige Bestrebungen im kaiserlichen Deutschland – sicher auch als eine deutsche "Lehre" aus der Pariser Kommune – immer vehementer bekämpft und schützten die SAPD nicht vor dem Verbot 1878 durch das berüchtigte Sozialisten-"Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie", das erst 1890 "auslief".
Geradezu übermütig muss die nun 1891 endlich in SPD umbenannte Partei gewesen sein, als sie auf dem Parteitag in Erfurt neuerlich ein Programm beschloss, von dem auch die heutige SPD einräumt, dass es "sich wieder deutlicher an Marx orientierte, gleichzeitig aber die reformistische Praxis mit klaren Zielmarken unterstrich". Ja, das muss man einräumen: Dieser programmatisch konstruierte Gegensatz zwischen Marxscher Theorie und reformistischer Praxis, der klingt doch auch heute noch sehr vertraut – für jegliche sozialdemokratische Strömung unter "den Linken" – und der bleibt seither offenbar die älteste Richtschnur für die SPD.
Das Görlitzer Programm von 1921 und das Heidelberger Programm von 1925 lassen wir hier beiseite, denn der endgültige "Sieg" der SPD, sich von Marx zu lösen, gelang bekanntlich mit dem Godesberger Programm von 1959, das ganze 30 Jahre die Bestrebungen der SPD zur Reformierung der westdeutschen Gesellschaft bestimmte, immer mit dem Label, eine linke Volkspartei zu sein, denn die anderen waren ja entweder ganz verboten (wie die KPD, samt FDJ) oder wenigstens mit Berufsverboten belegte Schmuddelkinder (DKP).
Aber auch 30 Jahre später wurde das am 20. Dezember 1989 in Westberlin beschlossene Programm nicht so gefeiert, es "blieb die Wirkungsgeschichte des Berliner Programms unglücklich". Das entstand aber offenbar zur falschen Zeit am falschen Ort, denn der Mantel der Geschichte streifte damals andere Politiker, bestenfalls noch Willy Brandt mit seinem Bonmot, was damals zusammenwachsen solle. Von den leichten Änderungen des Berliner Programms in Leipzig am 17. April 1998 spricht heute gar niemand mehr.
Denn die wirklich wichtigen Weichenstellungen wurden nicht innerhalb der SPD 1998 "beschlossen". Das passierte ein, zwei Jahre später, sozusagen auf offener Bühne. Und zwar in rot-grüner Koalition, dank dem olivgrün schillernden Bundesaußenminister, der mit der Bombardierung Belgrads ein zweites Auschwitz zu verhindern vorgab. Und wenig später mit der Richtlinienkompetenz eines SPD-Bundeskanzlers, der mal eben mit seiner Agenda 2010 deutsche DAX-Konzerne endlich konkurrenzfähig machen musste.
Kurze Zeit später "verschlug" es Katarina Barley nach Trier, wo sie eine Zeit lang Richterin am Landgericht war. Eigentlich kein schlechte Chance, sich auch mal nebenbei etwas mit dem wohl größten Sohn dieser Stadt bekannt zu machen. Und Trier ist ja auch heute noch ihr Wahlkreis. Wahrscheinlich ließen ihr die Rechtspflege und die Wahlkämpfe nicht genügend Zeit, sich näher mit solchen verstaubten, nebensächlichen Figuren der Geschichte ihrer Partei abzugeben, wie nun einmal Karl Marx heute eine solche darstellt.
Zwar sah das Berliner Programm der SPD, das mit der "unglücklichen Wirkgeschichte" von 1989, noch die Idee des "Demokratischen Sozialismus (… als eine) seine(r) geistigen Wurzeln, (…) auch in Marxscher Geschichts- und Gesellschaftslehre und in den Erfahrungen der Arbeiterbewegung". Damit räumte aber das nach achtjähriger Diskussion 2007 gelungene, bis heute geltende Hamburger Programm gründlich auf.
Ob es auch glücklicher für die SPD und deren Wähler gewirkt hat, wird zweifellos die Geschichte belegen. Im Hamburger Programm ist dann in konsequenter Flurbereinigung auch nur noch an einer einzigen Stelle von "marxistischer Gesellschaftsanalyse" als eine von vielen, vielen Wurzeln die Rede. Sogar vom klangvollen "Demokratischen Sozialismus" musste sich die SPD zwischenzeitlich leider trennen und kann nun zwecks Unterscheidbarkeit in den Wortmarken nur noch einer wie auch immer gearteten "sozialen Demokratie" nachjagen.
Wie dem auch sei, diesbezüglich ist Katarina Barley mit ihrer Verunglimpfung von Marx und den Marxisten auf der Höhe der Zeit in der SPD. Leider wäre noch anzumerken, dass Marx bereits in seiner Analyse der materialistischen Philosophie von Ludwig Feuerbach eine bloße Gesellschaftsanalyse dieser Welt, insbesondere mit seiner elften These, zu Recht geißelte:
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.
Von diesen Wurzeln bei Marx ist allerdings in der heutigen SPD tatsächlich nicht mehr viel übrig geblieben. Und Katarina Barley ist als relativ junger Kader da gar nicht allein. Bei vielen der "in den Kämpfen dieser Zeit gestählten" Genossinnen und Genossen ihrer Partei sieht es nicht besser aus. Hinzu kommen dann auch noch allzu bekannte Entgleisungen in diesen Kämpfen und unter der Last der Verantwortung. Nehmen wir als Beispiel nur politische Alleingänge in Ausübung höchster Ämter.
Wer erinnert sich noch an die folgen- und straflose "Entgleisung" von Christian Schmidt in seinem früheren Amt als CSU-Landwirtschaftsminister? Im November 2017 stimmte ebenjener Bundesminister Schmidt – und zwar entgegen der Weisung der Bundesregierung und unter Verstoß gegen die Geschäftsordnung der Bundesregierung ebenso wie gegen den Koalitionsvertrag – im Alleingang einer Verlängerung der EU-weiten Zulassung des gelinde gesagt umstrittenen Herbizids Glyphosat um fünf Jahre zu.
Obwohl er vorher noch mit der damaligen SPD-Umweltministerin Barbara Hendricks eine Enthaltung abgesprochen hatte, was ausschlaggebend für die Entscheidung der EU-Ministerrunde war. Und zwar auch noch vorsätzlich, wie die später durch Journalisten belegte monatelange Vorbereitung innerhalb "seines" Bundesministeriums für diesen Amtsmissbrauch bewies. Eine klare Lobby-Entscheidung für Monsanto und die Bayer AG, die – bis auf eine "Rüge" durch die Bundeskanzlerin – für Christian Schmidt folgenlos blieb. Nachtrag: Heute ist Christian Schmidt, MdB, BM a. D., der Präsident der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Zurück zu Katarina Barley, die als gelernte und gelehrige Juristin jenem Christian Schmidt vom Koalitionspartner der SPD-Fraktion alsbald nacheiferte. So geschehen nur gut ein Jahr später, als auch Barley am 20. Februar 2019 im EU-Ministerrat als verantwortliche deutsche Justizministerin für die lang und vehement umstrittene EU-Urheberrechtsreform stimmte, inklusive des besonders heiß diskutierten Artikels 13 (der jetzt Artikel 17 heißt) über Upload-Filter. Ohne Barleys Zustimmung hätte sich also Deutschland im Kreis der EU-Staaten enthalten müssen, und dann wäre die nötige Mehrheit nicht zustande gekommen.
Auch Barley kann damit für sich in Anspruch nehmen, entgegen dem vereinbarten Koalitionsvertrag votiert zu haben und gegen die Beschlusslage auch innerhalb der SPD. Denn noch am 23. März twitterte Kevin Kühnert jubelnd vom SPD-Parteikonvent, dass man sich eben auf die SPD verlassen könne. Nachdem am 26. März dann auch noch das EU-Parlament zugestimmt hatte, stand somit am Ende der abschließenden Genehmigung durch den Rat der Europäischen Union am 15. April 2019 nichts mehr im Wege.
Leider sieht es in der "großen Weltpolitik" der SPD-Spitzenpolitiker heute kaum besser aus. Nein, es geht mal nicht um Heiko Maas. Kein Geringerer als Martin Schulz – der damalige 100-Prozent-Hoffnungsträger einer SPD-Wiedergeburt – verschickte am 11. Oktober 2018, vor anderthalb Jahren also, eine programmatische Rundmail an die "geehrten Kolleginnen und Kollegen" aller Bundestagsfraktionen. Darin warb er für die Auftaktveranstaltung zur Propagierung eines Konzepts des Architekten Daniel Libeskind zur Gestaltung eines Fernwanderweges auf der "Liberation Route Europe". Die LRE sollte Gedenkstätten, Museen und Erinnerungsorte vernetzen. Dreimal dürfen Sie raten, wo entlang dieser Weg führt. Ja:
Der Weg folgt der Route durch mehrere europäische Länder, auf der im Zweiten Weltkrieg die westlichen Alliierten bei der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus vorgestoßen sind.
Kommt das jemandem nicht sehr bekannt vor? Es könnte als Vorlage für die Manuskripte einschlägiger jüngster Festansprachen unseres Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier gedient haben, dem ebenfalls die Rolle der vierten Siegermacht der Anti-Hitler-Koalition völlig entfallen zu sein scheint. Zumindest darin sind die letzten gescheiterten SPD-Kanzlerkandidaten Schulz und Steinmeier offenbar geistesverwandt. Ein Gedenken an die Opfer der Sowjetunion bei der Befreiung Deutschlands und ganz Europas vom Nazi-Joch hätte zu sehr an die Marxisten erinnert.
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